S 2 SO 69/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 69/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 20 SO 15/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Verpflichtung der Beklagten zur Übernahme der Kosten für den Besuch der Tagespflegeeinrichtung der T GmbH an 2 Tagen pro Woche im Zeitraum vom 01.06.2006 bis zum 31.07.2007. Seither lebt die Klägerin in einer Wohngruppe für Demenzkranke.

Die 1938 geborene Klägerin ist demenzkrank und war von der Pflegekasse seit 01.11.2004 als pflegebedürftig nach Pflegestufe I anerkannt. Sie war allein lebend, ohne Kinder, Angehörige oder Bekannte, die sich um sie kümmern würden. Außer einem ambulanten Pflegedienst kümmerte sich nur die bestellte Berufsbetreuerin um sie. Nach den Feststellungen in einem MDK-Gutachten vom 17.01.2005 befand sich die Wohnung in einem verwohnten, schlechten Zustand. Die T GmbH stellte für die Klägerin am 17.01.2006 Antrag auf teilstationäre Pflege an 2 Tagen in der Woche in der von ihr betriebenen Tagespflegeeinrichtung. Die Beklagte entsprach dem Antrag mit Bescheid vom 23.02.2006 bis zum 1.05.2006 "zur Sicherstellung der derzeitigen Pflegesituation". Für die Folgezeit lehnte sie Leistungen ab, weil der Klägerin Leistungen in einer vollstationären Einrichtung zumutbar seien und die Mehrkosten für ambulante Leistungen unverhältnismäßig hoch seien. Beigefügt war ein Mehrkostenvergleich, der Aufwendungen der Stadt für ambulante und teilstationäre Pflege in Höhe von 1733,44 EUR gegenüber 1213,39 EUR bei vollstationärer Pflege im teuersten Heim in Gelsenkirchen errechnete, was Mehrkosten in Höhe von 520,05 EUR (= 42,86 Prozent) ergab. Der dagegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 13.09.2006 zurückgewiesen.

Hiergegen richtet sich die am 12.10.2006 erhobene Klage. Die Klägerin trägt vor, dass die von der Beklagten durchgeführte Zumutbarkeitsprüfung unzureichend sei, weil kein Heim konkret als Versorgungsalternative benannt worden sei. Eine stationäre Pflege in einer ungeeigneten Einrichtung sei nicht zumutbar. Außerdem sei der durchgeführte Mehrkostenvergleich unzulässig. Kostenmindernde Eigenanteile unterhalb der Einkommengrenzen dürften gemäß § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB XII nicht berücksichtigt werden und unverhältnismäßig seien auch erst Mehrkosten von mindestens 75 Prozent oder 100 Prozent.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 23.02. 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der ambulanten Tagespflege für die Klägerin an 2 Tagen in der Woche vom 01.06.2006 bis 31.07.2007 zu übernehmen.

Die Vertreterin der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass die angefochtene Verwaltungsentscheidung nicht zu beanstanden sei. Sie sei auch berechtigt, Leistungen der Pflegekasse in Höhe von 1023 EUR beim Mehrkostenvergleich anzurechnen, denn die Klägerin habe wegen ihrer Krankheit Anspruch auf stationäre Pflege gehabt. Sie legt ein auf ihre Anfrage hin von der Pflegekasse in Auftrag gegebenes Gutachten vom 15.06.2007 vor, in dem Dr. D vollstationäre Pflege als erforderlich bezeichnet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten. Alle diese Unterlagen sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig. In der Sache selbst ist sie jedoch nicht begründet. Die angefochtene Verwaltungsentscheidung ist rechtmäßig. Die Beklagte hat zutreffend die Kostenübernahme für die teilstationäre Pflege nach dem 31.05.2006 abgelehnt. Die Antragstellerin hatte keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten ihrer Unterbringung in der Tagespflegeeinrichtung der T GmbH an 2 Tagen wöchentlich.

Gemäß § 61 Abs. 2 SGB XII umfasst die Hilfe zur Pflege unter anderem auch die Kostenübernahme für die teilstationäre Pflege. Diese wird gemäß § 41 Abs. 1 SGB XI in Einrichtungen der Tagespflege oder Nachtpflege durchgeführt, wenn häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sicher gestellt werden kann oder wenn dies zur Ergänzung oder Stärkung der häuslichen Pflege erforderlich ist. Die Klägerin gehört unstreitig zum Personenkreis der pflegebedürftigen Personen gemäß § 61 Abs. 1 BSHG. Die Kammer hat auch keinen Zweifel, dass die Klägerin neben der täglichen Betreuung durch den ambulanten Pflegedienst grundsätzlich einer weitergehende Betreuung durch Inanspruchnahme einer teilstationäre Pflegeeinrichtung benötigte oder auch eine vollstationäre Pflege. Die Notwendigkeit der vollstationären Pflege wird in dem MDK-Gutachten vom 15.06.2007 ausdrücklich festgestellt. Sie kann aber rückschauend auch bereits für den gesamten hier streitigen Zeitraum angenommen werden, denn die Klägerin konnte krankheitsbedingt schon Anfang 2006 ihren Tagesablauf nicht selbständig und sinnvoll strukturieren und drohte zu verwahrlosen. Dies wurde bereits in der zur Anerkennung der Pflegestufe I führenden Stellungnahme vom 11.05.2005 auf Bl. 22 der Akte der Beklagten ausdrücklich festgestellt.

Dem von der Klägerin geäußerten Wunsch nach teilstationärer Pflege anstelle von vollstationärer Pflege muss nicht entsprochen werden. Gestaltungswünschen der Leistungsberechtigten soll gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB XII zwar entsprochen werden, zumal der Vorrang der ambulanten Hilfe außerhalb von Heimen in § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelt wurde. Sowohl das Wunschrecht des Leistungsberechtigten als auch das Prinzip des Vorrangs der ambulanten Hilfe sind jedoch begrenzt. Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII soll der Sozialhilfeträger Wünschen in der Regel nicht entsprechen, wenn sie mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Nach § 13 Abs. 1 Satz 4 SGB XII gilt der Vorrang der ambulanten Leistung nicht, wenn eine Leistung für eine geeignete stationäre Einrichtung zumutbar und eine ambulante Leistung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Bei der Entscheidung ist zunächst die Zumutbarkeit zu prüfen. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall ist der Klägerin die Pflege in einer stationären Einrichtung zumutbar und die vom Kläger erstrebte Hilfegestaltung - ambulante Pflege in Verbindung mit dem täglichen Aufenthalt in einer Tageseinrichtung - ist im Vergleich zu einer vollzeitigen Unterbringung in einem Pflegeheim mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden, selbst wenn man die teuerste Einrichtung in Gelsenkirchen als Maßstab anlegt.

Es sind nicht ersichtlich, warum es der Klägerin nicht zumutbar sein sollte, vollstationär in einem Heim zu leben. Die Beklagte hat entgegen dem Vorbringen der Klägerin 2 Heime in Gelsenkirchen im Bescheid namentlich genannt, so dass die Klägerin durchaus prüfen konnte, ob diese für sie in Betracht kommen könnten. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit kommt es nicht darauf an, ob jemand ein Heim wegen der damit verbundenen Abstriche in seiner freien Entfaltung ablehnt und einer ambulanten Hilfe den Vorzug gibt. Ein Heim ist vielmehr dann unzumutbar, wenn die damit verbundenen Einschränkungen so schwerwiegend sind, dass man von einem Hilfe Suchenden nicht erwarten kann, dass er ein stationäres Angebot annimmt. Als unzumutbar sind von der Rechtsprechung bisher menschenunwürdige Wohnverhältnisse, fehlende fachgerechte Betreuung, große Entfernung zum bisherigen Wohnort und Unterbringung eines jungen Menschen in einem Altenpflegeheim angesehen worden. Der Klägerin drohten bei einer Heimunterbringung jedoch keine derart schwerwiegenden Einschränkungen. Nach der von § 13 SGB XII geforderten angemessenen Berücksichtigung der persönlichen, familiären und örtlichen Umstände der Klägerin kann für die Klägerin jedes Heim in Gelsenkirchen in Betracht, da sie keine Kinder, Angehörige und Bekannte und damit keine Sozialkontakte hat, die durch den Wechsel in ein Heim gestört werden könnten.

Auch wenn jede Veränderung mit einer Neuorientierung verbunden ist, ist nicht ersichtlich, dass der Klägerin mit der gebotenen Hilfestellung eine Eingewöhnung nicht möglich gewesen wäre. Immerhin hat sich die Klägerin auch in der Tagespflegeeinrichtung eingewöhnen müssen und hat es ertragen, dass sie zwei mal wöchentlich aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und in die Tagespflegeeinrichtung transportiert wurde. Diese lästigen Transporte wären bei einer vollstationären Unterbringung entfallen. Es spricht auch nichts dafür, dass die Klägerin in einem Heim nicht ihren Bedürfnissen entsprechend fachgerecht versorgt würde. Die Kammer geht davon aus, dass das Pflege, Betreuungs- und Beaufsichtigungsangebot in einem stationären Pflegeheim nicht geringer ist als in der von der Klägerin favorisierten teilstationären Tagespflegeeinrichtung der T GmbH. Für die Unterstellung, dass die Klägerin in einem Heim nicht "im Hinblick auf ihren Hilfebedarf fachhgerecht betreut werden" könne und nur bei der T GmbH angemessen versorgt werden würde, gibt es keinen konkreten Beleg. Die Klägerin hat keine Pflegeleistung genannt, die nur von der T GmbH angeboten wird und nicht ebenso von jeder stationären Pflegeeinrichtung in Gelsenkirchen.

Die Kosten, die der Beklagten für die tägliche ambulante Pflege und den Besuch der Tagespflegeeinrichtung an 2 Tagen entstehen würden, sind auch gegenüber den Kosten für eine stationäre Einrichtung unverhältnismäßig hoch im Sinne von § 13 SGB XII. Denn entsprechend der von der Beklagten angestellten Berechnung, von deren Richtigkeit das Gericht ausgeht, entstehen ihr für die ambulante und teilstationäre Pflege der Klägerin monatlich Kosten von 1733,44 EUR wohingegen ihr bei der stationären Unterbringung der Klägerin in dem teuersten Heim in Gelsenkirchen Kosten in Höhe von 1213,39 EUR entstehen würden. Das ergibt Mehrkosten in Höhe von 520,05 EUR (= 42,86 Prozent). Das Sozialgericht hält die Berechnung für korrekt. Die Beklagte durfte die Leistung der Pflegekasse in Höhe von 1023 EUR monatlich als kostenmindernd berücksichtigen, denn während des gesamten hier streitigen Zeitraums war stationäre Pflege durchgehend erforderlich, wie die vorliegenden Gutachten belegen. Die Klägerin hatte auf Antrag entsprechende Leistungen der Pflegekasse in dieser Höhe erhalten.

Entgegen der Ansicht der Klägerin dürfen auch kostenmindernde Eigenanteile unterhalb der Einkommensgrenzen gemäß § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB XII berücksichtigt werden. Denn der Gesetzeswortlaut ist insofern völlig eindeutig und die Kommentarstelle, auf die sich die Klägerin beruft, ist mit dem erklärten Willen des Gesetzgebers nicht zu vereinbaren.

Unzutreffend ist auch die Auffassung der Klägerin, dass erst Mehrkosten von 75 oder gar 100 Prozent unverhältnismäßig hoch im Sinne von § 13 SGB XII seien. Die Kammer sieht bereits Mehrkosten von über 25 v.H. als unverhältnismäßig an, so dass die hier entstehenden Mehrkosten von 42,86 v.H. bereits deutlich über der Unverhältnismäßigkeitsgrenze liegen. Für die Kammer ist kein Grund ersichtlich, warum es in das Belieben einer Pflegebedürftigen gestellt sein sollte, dem Sozialhilfeträger durch seine Wünsche Kosten zu verursachen, die die unvermeidlichen Kosten um mehr als ein Viertel übersteigen.

Ergibt ein Kostenvergleich - wie hier -, dass die gewünschte Hilfe unverhältnismäßig hohe Kosten verursacht, ist der Träger der Sozialhilfe gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB XII nicht verpflichtet ("soll in der Regel nicht"), dem Wunsch des Leistungsberechtigten zu entsprechen. Er darf ihm jedoch entsprechen; die Entscheidung liegt in seinem pflichtgemäßem Ermessen. Auch dies führt jedoch für die Klägerin zu keiner günstigeren Bewertung. Eine sogenannte "Ermessensreduzierung auf Null", bei der jede andere Entscheidung als die begehrte Kostenübernahme für eine teilstationäre Pflege rechtswidrig wäre, liegt nicht vor. Im Gegenteil sind die Ausführungen der Beklagten sachlich nachvollziehbar. Es ist für das Gericht kein Grund ersichtlich, warum es der Beklagten untersagt sein soll, von einer Person, die keine Sozialkontakte mehr hat und die in einer verwohnten Wohnung lebt, zu verlangen, in ein für den städtischen Haushalt günstigeres Heim zu ziehen, wo sie selber außerdem viel bequemer untergebracht gewesen wäre. Der Klägerin wären dadurch nur Vorteile entstanden. Nur der T GmbH wäre ein Nachteil entstanden, weil sie einen zahlenden Kunden verloren hätte.

Die Kostenentscheidung der nach alledem unbegründeten Klage beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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