S 5 AS 5380/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 AS 5380/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Leistungen, die nicht zur Auszahlung gelangen, sondern von der Verwaltung nach § 51 SGB I aufgerechnet werden, sind grundsätzlich nicht als Einkommen i. S. des § 11 SGB II zu berücksichtigen. Anders verhält es sich allenfalls dann, wenn ein Rechtsmittel des Hilfebedürftigen gegen die Aufrechnung eindeutig und kurzfristig zu einem Erfolg führen wird.
Tenor: 1. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 12.3.2007 und des Bescheids vom 15.6.2007 sowie Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 9.10.2007 verurteilt, den Klägern für Januar 2007 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ohne Berücksichtigung von Einkommen des Klägers Ziff. 1 zu gewähren und die jeweiligen Nachzahlungsbeträge ab dem 1.5.2007 mit 4 % zu verzinsen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. 2. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II für Januar 2007.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 9.1.2007 hatte die Agentur für Arbeit (als Verwaltungsträgerin für die Durchführung der Aufgaben nach dem SGB III) dem Kläger Ziff. 1 Arbeitslosengeld für die Zeit vom 23. - 30.12.2006 in Höhe von 64,59 EUR pro Tag bewilligt, insgesamt 516,72 EUR. Diesen Betrag zahlte sie indes nicht aus; vielmehr erklärte sie im selben Bescheid, gegen den Anspruch des Klägers Ziff. 1 rechne sie gemäß § 51 Abs. 2 SGB I in voller Höhe mit einer eigenen Erstattungsforderung auf.

Bereits zuvor - am 22.12.2006 - hatte der Kläger Ziff. 1 bei der Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beantragt.

Die Beklagte bewilligte daraufhin mit Bescheid vom 12.3.2007 dem Kläger Ziff. 1 und den mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Klägern Ziff. 2 - 4 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1.1. - 30.6.2007; für Januar 2007 bewilligte sie 1,28 EUR. Hierbei ging sie von einem Gesamtbedarf in Höhe von 1.036 EUR aus. Dem stellte sie Einkommen des Klägers Ziff. 1 in Höhe von 516,72 EUR (nach Einkommensbereinigung: 486,72 EUR), Einkommen der Klägerin Ziff. 2 aus selbständiger Tätigkeit in Höhe von 400 EUR (nach Einkommensbereinigung: 240 EUR) sowie Einkommen der Kläger Ziff. 3 und 4 aus Kindergeld in Höhe von jeweils 154 EUR gegenüber, insgesamt 1.134,72 EUR.

Hiergegen legte der Kläger Ziff. 1 am 17.3.2007 Widerspruch ein. Er machte u. a. geltend, zu Unrecht habe die Beklagte bei ihm für Januar 2007 Einkommen in Höhe von 516,72 EUR angerechnet. Bei dieser Summe handele es sich um Arbeitslosengeld für Ende 2006. Das Arbeitslosengeld sei indes nicht ausgezahlt, sondern verrechnet worden. Angesichts dessen sei nicht einzusehen, warum der Betrag als Einkommen berücksichtigt werde.

Mit Änderungsbescheid vom 15.6.2007 erhöhte die Beklagte die bewilligten Leistungen u. a. für Januar 2007 auf 543,62 EUR. Zwar ging sie weiterhin von Einkommen der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 1.034,72 EUR aus, verteilte dieses Einkommen auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft aber abweichend vom Bescheid vom 12.3.2007. Zudem berücksichtigte sie nun zu Gunsten des Klägers Ziff. 1 einen befristeten Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld in Höhe von 440 EUR.

Im Übrigen wies sie den Widerspruch des Klägers Ziff. 1 mit Widerspruchsbescheid vom 9.10.2007 zurück. Zur Begründung gab sie u. a. an, es sei nicht zu beanstanden, dass sie für Januar 2007 Einkommen des Klägers Ziff. 1 berücksichtigt habe: Der Anspruch des Klägers Ziff. 1 auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 23. - 30.12.2006 in Höhe von 516,72 EUR sei nicht im Dezember 2006, sondern wegen § 337 Abs. 2 SGB III erst im Januar 2007 fällig gewesen. Er könne daher im Januar als Einkommen angerechnet werden. Dem stehe nicht entgegen, dass das Arbeitslosengeld wegen der Aufrechnung mit ihrer Erstattungsforderung nicht ausgezahlt worden sei. Denn die Aufrechnung bewirke die Tilgung einer Schuld und stelle daher einen geldwerten Vorteil dar.

Hiergegen haben die Kläger am 8.11.2007 Klage erhoben. Sie tragen vor, wie sich aus § 2 Abs. 2 Alg II-VO ergebe, gelte für das SGB II das sog. Zuflussprinzip. Der streitige Betrag in Höhe von 516,72 EUR sei dem Kläger Ziff. 1 aber gerade nicht zugeflossen. Entgegen der Auffassung der Beklagten habe auch kein geldwerter Vorteil vorgelegen. Denn bei der zwangsweisen Tilgung einer Schuld handele es sich um keine verwertbare Sachleistung. Im Übrigen dürfe nach § 51 SGB I gegen einen Anspruch auf Sozialleistungen nur aufgerechnet werden, wenn dieser Anspruch pfändbar ist. Zu beanstanden sei zudem der Ansatz der Beklagten, das Arbeitslosengeld für Dezember erst im Januar zu berücksichtigen. Arbeitslosengeld werde "monatlich nachträglich" ausgezahlt. Dies lasse sowohl eine Überweisung am letzten Tag des Vormonats als auch am ersten Tag des Folgemonats zu. Die Beklagte hätte es damit in der Hand zu entscheiden, ob das Einkommen im Folgemonat angerechnet werde oder nicht; der Willkür wäre Tür und Tor geöffnet. Darüber hinaus würde die Anrechnung von Arbeitslosengeld im Folgemonat dazu führen, dass Hilfebedürftige, die aus dem Bezug von Arbeitslosengeld kommen, im ersten Monat nach Ablauf des Anspruchs auf Arbeitslosengeld regelmäßig keine Leistungen nach dem SGB II erhielten. Denn das Arbeitslosengeld sei im allgemeinen höher als das Arbeitslosengeld II.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte zu verpflichten, 1) den im Januar 2007 berücksichtigten Betrag in Höhe von 516,72 EUR nicht als Einkommen anzurechnen, 2) den Bewilligungsbescheid für diesen Zeitraum entsprechend zu korrigieren, 3) den Auszahlungsbetrag mit 5 % über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen, 4) den Gesamtbetrag auf das bei der Beklagten bekannte Konto auszuzahlen und 5) das Landratsamt C. über die geänderte Bewilligung für Januar 2007 zu informieren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1) Die Anträge Ziff. 1 - 4 sind zulässig und überwiegend begründet (dazu a). Demgegenüber ist der Antrag Ziff. 5 unzulässig (dazu b).

a) Die Kläger haben gegenüber der Beklagten Ansprüche auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für Januar 2007 ohne Berücksichtigung von Einkommen des Klägers Ziff. 1 (dazu aa). Die jeweiligen Nachzahlungsbeträge sind indes ab dem 1.5.2007 nur mit 4 % zu verzinsen, nicht - wie beantragt - mit 5 % über dem Basiszinssatz (dazu bb).

aa) Zu Unrecht hat die Beklagte bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II für Januar 2007 Einkommen des Klägers Ziff. 1 in Höhe von 516,72 EUR (nach Einkommensbereinigung: 486,72 EUR) berücksichtigt; ohne Anrechnung dieses Betrags stehen den Klägern höhere Ansprüche zu.

Über die Anrechnung des Einkommens durfte die Kammer - wie geschehen - durch Grundurteil im Sinne des § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG entscheiden. Denn ein solches Urteil ist auch zulässig, wenn nicht die Geldleistung insgesamt im Streit steht, sondern - wie hier - nur deren Höhe (BSGE 94, 109 Rdnr. 5; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 130 Rdnr. 2d; Eicher in: Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, § 40 Rdnr. 11).

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann das mit Bescheid vom 9.1.2007 bewilligte und sogleich aufgerechnete Arbeitslosengeld bei der Berechnung der Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II weder als tatsächliches (dazu (1)) noch als fiktives (dazu (2)) Einkommen des Klägers Ziff. 1 berücksichtigt werden.

(1) Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen grundsätzlich alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. Allerdings müssen die Geldmittel dem Hilfebedürftigen so zur Verfügung stehen, dass er sie bedarfsbezogen - also zur Sicherung seines Lebensunterhalts - verwenden kann (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5.10.2005, L 8 AS 48/05 ER, Rdnr. 15 - nach Juris; Mecke in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 11 Rdnr. 29; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, § 11 Rdnr. 40). Daran fehlt es, wenn das Einkommen nicht zur Auszahlung gelangt, sondern aufgerechnet wird (Hengelhaupt, a. a. O., Rdnr. 42 f.; Brühl in: LPK-SGB II, § 11 Rdnr. 12; Söhngen in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl., § 11 Rdnr. 41).

So verhält es sich hier. Zwar hat die Agentur für Arbeit dem Kläger Ziff. 1 mit Bescheid vom 9.1.2007 für die Zeit vom 23. - 30.12.2006 Arbeitslosengeld in Höhe von 64,59 EUR pro Tag bewilligt, insgesamt 516,72 EUR. Diese Summe hat sie aber nicht ausgezahlt, sondern mit einer eigenen Erstattungsforderung aufgerechnet. Angesichts dessen stand der Betrag von 516,72 EUR den Klägern tatsächlich nicht zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung.

(2) Die Summe ist auch nicht als fiktives Einkommen anzurechnen.

Als Einkommen i. S. des § 11 SGB II sind im Regelfall nur Einnahmen zu berücksichtigen, die dem Hilfebedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehen, nicht hingegen fiktive Einnahmen, also solche, die er zwar erzielen könnte, aber tatsächlich nicht erhält (Sächsisches LSG, Beschluss vom 22.8.2008, L 2 B 111/08 AS ER, Rdnr. 27 - nach Juris; Mecke, a. a. O., Rdnr. 13). Etwas anderes gilt nur, wenn der Hilfebedürftige die Möglichkeit hat, zum Zwecke der Selbsthilfe eine eindeutig feststehende wirtschaftliche Quelle kurzfristig zu nutzen, von dieser Möglichkeit indes keinen Gebrauch macht; dann ist das erzielbare Einkommen bedarfsmindernd anzurechnen (Mecke, a. a. O., Rdnr. 14 f.; Hengelhaupt, a. a. O., Rdnr. 98). Dies kommt z. B. in Betracht, wenn der Hilfebedürftige sein Einkommen wegen einer Pfändung zwar tatsächlich nicht (in voller Höhe) erhält, er sich aber gegen die Pfändung (oder deren Höhe) durch Rechtsmittel wehren könnte (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.12.2006, L 14 B 718/06 AS ER, Rdnr. 18 - nach Juris; LSG Hamburg, Beschluss vom 9.2.2006, L 5 B 346/05 ER AS, Rdnr. 7 - nach Juris;; Söhngen, a. a. O.); gleiches gilt für Aufrechnungen (Hengelhaupt, a. a. O., Rdnr. 42a). Allerdings besteht die Verpflichtung zur Einlegung eines Rechtsmittels nur in Extremfällen (Mecke, a. a. O., Rdnr. 29), nämlich dann, wenn es eindeutig und kurzfristig zu einem Erfolg führen wird.

Im vorliegenden Fall hätte sich der Kläger Ziff. 1 zwar möglicherweise erfolgreich gegen die Aufrechnungserklärung der Agentur für Arbeit im Bescheid vom 9.1.2007 wehren können (so dass ihm das Arbeitslosengeld in Höhe von 516,72 EUR ausgezahlt worden wäre). Denn die Voraussetzungen für eine Aufrechnung dürften nicht erfüllt gewesen sein: Nach § 51 Abs. 2 SGB I ist die Aufrechnung ausgeschlossen, wenn der Aufrechnungsgegner - wie hier der Kläger Ziff. 1 - durch die Aufrechnung (vermehrt) hilfebedürftig i. S. des SGB II wird.

Allerdings musste der Kläger Ziff. 1 diese Möglichkeit nicht ohne weiteres erkennen. Die Agentur für Arbeit hatte in ihrem Bescheid vom 9.1.2007 zur Begründung der Aufrechnung allein auf § 51 Abs. 2 SGB I verwiesen, ohne den Wortlaut dieser Vorschrift anzugeben oder sich mit deren Voraussetzungen auseinanderzusetzen. Angesichts dessen war es für den Kläger Ziff. 1 nur schwer möglich, die Rechtmäßigkeit der Aufrechnungserklärung zu prüfen. Keinesfalls konnten von ihm weitergehende Rechtskenntnisse erwartet werden als von der Agentur für Arbeit. Bei Erlass des hier streitigen Bescheids der Beklagten vom 12.3.2007 war die Frist, innerhalb derer der Kläger Ziff. 1 gegen den Bescheid vom 9.1.2007 hätte Widerspruch einlegen können, bereits abgelaufen. Es wäre im übrigen widersprüchlich, wenn sich die beklagte Agentur für Arbeit (als Trägerin der Aufgaben nach dem SGB II) auf die Rechtswidrigkeit ihrer eigenen Entscheidung (als Trägerin der Aufgaben nach dem SGB III) berufen könnte.

bb) Die von der Beklagten festzustellenden Nachzahlungsbeträge sind (nur) mit 4 % zu verzinsen; die Verzinsung beginnt am 1.5.2007.

Ansprüche auf Geldleistungen sind nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit 4 % zu verzinsen. Die Verzinsung beginnt frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonate nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags beim zuständigen Leistungsträger, beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung (§ 44 Abs. 1 und 2 SGB I). Der Beginn der Verzinsung nach der 2. Alternative ist auch dann maßgebend, wenn zwar ein Antrag vorliegt, die 2. Alternative aber gegenüber der 1. Alternative zu einem früheren Beginn der Verzinsung führt (Baier in: Krauskopf, SozKV, § 44 SGB I Rdnr. 9 und 16).

Letzteres ist hier der Fall. Ausgehend von einer Bekanntgabe des angefochtenen Bescheids vom 12.3.2007 am 15.3.2007 (vgl. § 37 Abs. 2 SGB X) beginnt die Verzinsung hier am 1.5.2007.

b) Der Antrag Ziff. 5 auf Verpflichtung der Beklagten zur Information des Landratsamtes C. über die geänderte Bewilligung ist unzulässig.

Zulässiger Gegenstand eines sozialgerichtlichen Verfahrens kann grundsätzlich nur sein, was zuvor Gegenstand des Verwaltungsverfahrens war und von der Behörde abgelehnt wurde.

Eine etwaige Verpflichtung der Beklagten zur Information des Landratsamtes Calw war nie Gegenstand des Verwaltungsverfahrens und wurde von der Beklagten auch nicht verweigert. Angesichts dessen ist eine gerichtliche Verfolgung dieses Anliegens weder zulässig noch erforderlich.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Kläger haben ganz überwiegend obsiegt. Ihr geringfügiges Unterliegen ist bei der Kostenquote nicht zu berücksichtigen.

3) Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache wird gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Berufung zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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