L 8 SO 14/08

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 19 SO 55/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 8 SO 14/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Gerichtsbescheid-Zurückverweisung-Verfahrensmängel
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 4. September 2008 wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Sozialgericht Stendal zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt höhere Leistungen der Grundsicherung bei dauerhafter voller Erwerbsminderung nach § 41 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII).

Der Rechtsvorgänger des Beklagten bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 11. Dezember 2006 Grundsicherungsleistungen für das Jahr 2007 in Höhe von monatlich 403,87 EUR. Der Leistungsberechnung legte er einen Regelbedarf von 276,00 EUR zu Grunde. Mit Schreiben vom 12. Februar 2007 beantragte die Klägerin unter Bezugnahme auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 (B 7b AS 6/06 R), ihr höhere Leistungen unter Berücksichtigung des vollen Regelsatzes von 345,00 EUR zu zahlen. Diesen Antrag lehnte der Rechtsvorgänger des Beklagten mit Bescheid vom 12. März 2007 ab, da sich das zitierte Urteil ausschließlich auf Empfänger von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) beziehe und die Klägerin nicht diejenige sei, die die Generalunkosten des Haushalts trage. Den am 10. April 2007 eingegangenen Widerspruch wies der Rechtsvorgänger des Be-klagten mit Widerspruchsbescheid vom 3. Mai 2007 zurück, da die Klägerin mit ihren Eltern in Haushaltsgemeinschaft lebe und er davon ausginge, dass die Eltern die Generalunkosten des Haushalts trügen.

Mit der am 11. Juni 2007 beim Sozialgericht Magdeburg eingegangenen Klage hat die Klägerin ihr Anliegen weiterverfolgt. Mit zwei Schreiben des Kammervorsitzenden vom 2. Juni 2008 hat das Sozialgericht die Klägerin darauf hingewiesen, dass keine weiteren Ermittlungen beabsichtigt seien. Gleichzeitig hat es bei den Beteiligten angefragt, ob sie mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstan-den seien. Dem haben der Beklagte mit Schriftsatz vom 4. Juni 2008 und die Klägerin mit Schriftsatz vom 6. Juni 2008 zugestimmt.

Ohne weitere Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. September 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Klägerin stehe nur der Regelsatz eines Haushaltsangehörigen zu, weil sie in Haushaltsgemeinschaft mit ihrer Mutter lebe und diese als Haushaltsvorstand anzusehen sei. Eine grundgesetzwidrige Ungleichbehandlung im Vergleich zu Haushaltsangehörigen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, denen nach dem SGB II der volle Regelsatz zustehe, liege nicht vor. Der Gesetzgeber des SGB XII habe an der bereits unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes angewandten Haushaltsvorstandslösung festgehalten. Auch sei zu bedenken, dass Leistungen nach dem SGB II für erwerbsfähige Hilfebedürftige bestimmt seien.

Gegen den ihr am 10. September 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin mit einem am 10. Oktober 2008 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, der Berechnung ihrer Leistungen sei mindestens ein Regelsatz in Höhe von 90% des Eckregelsatzes zu Grunde zu legen. Darüber hinaus sei zu prüfen, ob ihr auf-grund ihrer Behinderung ein erhöhter Regelsatz oder anderweitige Hilfen nach dem SGB XII zu stehen.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 4. September 2008 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Mai 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr höhere Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat sich mit einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte ergänzend verwiesen. Diese hat bei der Entscheidung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg war aufzuheben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Hierüber durfte der nach der Geschäftsverteilung des Senats zuständige Berichterstatter nach § 155 Abs. 3 und 4 SGG anstelle des gesamten Senats entscheiden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (Schriftsatz des Beklagten vom 4. Dezember 2008; Schriftsatz der Klägerin vom 12. Dezember 2008).

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurück-verweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel ist im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Lei¬therer, SGG, 9. Aufl. § 159 Rdnr. 3, 3a m.w.N.).

Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet an zwei wesentlichen Verfahrensmängeln, denn das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 Regelung 2 SGG) entschieden, obwohl es die Beteiligten nicht zuvor angehört hat. Dadurch hat es den Beteiligten den ge-setzlichen Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) entzogen, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 125 SGG). Die vom Gesetz bestimmte – hierdurch unterbliebene – Mitwirkung ehrenamtlicher Richter ist ein tragender Grundsatz des sozialgerichtlichen Verfahrens, der in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten ist (BSG, Urt. v. 16.3.2006 - B 4 RA 59/04 R - SozR 4-1500 § 105 Nr. 1).

Nach § 105 Abs. 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann mög-lich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Der Sachverhalt ist geklärt, wenn sich dem Gericht aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG keine weiteren Ermittlungen aufdrängen (Pawlak in Hennig, SGG, § 105 Rdnr. 34) und aufgrund fehlender Aufklärungsmöglichkeiten keine Beweislastentscheidung getroffen werden muss. Als überdurchschnittlich schwierig ist die Streitsache z. B. anzusehen, wenn Probleme bei der Auslegung der anzuwendenden Norm bestehen oder divergierende ärztliche Stellungnahmen zu würdigen sind.

Zudem ist eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nur zulässig, wenn die Beteiligten zuvor gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG ordnungsgemäß angehört worden sind. Dies gewährleistet den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art. 103 Abs. 1 GG). Aus der Anhörungsmitteilung muss zu entnehmen sein, dass Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Vorgehensweise gegeben wird. Ferner muss im Rahmen der Anhörung dargelegt werden, dass das Gericht im konkreten Fall vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG ausgeht und eine mündliche Verhandlung nicht beabsichtigt ist. Den Beteiligten muss bezogen auf den Einzelfall deutlich gemacht werden, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, Gründe für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorzutragen bzw. Beweisanträge zur Aufklärung des - ihrer Auffassung nach - ungeklärten Sachverhalts zu stellen oder die besonderen rechtlichen Schwierigkeiten darzulegen. Eine formularmäßige Mitteilung ohne Bezug auf den konkre-ten Fall genügt nach einhelliger Ansicht nicht (BVerwG, Urt. v. 6.3.1990 - 9 C 90/89 - Buchholz 312 EntlG Nr. 60 = DVBl. 1991, S. 156; LSG NRW, Urt. v. 21.11.2001 - L 10 P 41/99; Leitherer, a.a.O. § 105 Rdnr. 10a; Pawlak in Hennig, SGG, § 105 Rdnr. 48).

Vorliegend hat das Sozialgericht die Beteiligten nicht einmal formularmäßig zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Das Sozialgericht hat den Beteiligten mit Schreiben vom 2. Juni 2008 allein und ausschließlich nahe gelegt, einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung zuzustimmen, womit sich diese mit Schriftsatz vom 4. bzw. 6. Juni 2008 einverstanden erklärt haben. Zwar haben die Beteiligten somit von der im § 124 Abs. 2 SGG vorgesehenen Möglichkeit, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten, Gebrauch gemacht, doch enthält diese Erklärung keine gleichzeitigen– ohnehin unzulässi-gen – Verzicht auf die gesetzlich vorgeschriebene Richterbank. Entscheidend ist jedoch, dass das Sozialgericht zu keinem Zeitpunkt auf seine Absicht hingewiesen hat, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden und die Beteiligten somit auch keine Gelegenheit hatten, hierzu Stellung zu nehmen. Eine Entscheidung allein durch den Kammervorsitzenden durch Gerichtsbescheid war daher nicht zulässig.

Dieser Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

Zudem hat das Sozialgericht den Gerichtsbescheid entgegen § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG nicht (vollständig) begründet. Denn Entscheidungsgründe fehlen schon, wenn nur zu einem entscheidungserheblichen Streitpunkt die Erwägung, die das Gericht zu dem Entscheidungsausspruch geführt haben, dem Urteil selbst nicht zu entnehmen sind (BSG, Urt. v. 15.11.1988 - 4/11a RA 20/87 - SozR 1500 § 136 Nr. 10; BSG, Urt. v. 3.5.1984 - 11 BA 188/83 - SozR 1500 § 136 Nr. 8; Pawlak in Hennig, SGG, § 136 Rdnr. 71 m.w.N.). Eine vollständige Begründung ist gerade deshalb erforderlich, weil die Gerichte nur dem Gesetz unterworfen sind und bei der Auslegung und Anwendung von Normen weder einer vorherrschenden Meinung folgen noch den von einem übergeordneten Gericht vertretenen Standpunkt zugrunde legen müssen, sondern ihre eigene Rechtsauffassung vertreten können. Mit Rücksicht auf die verfassungsrechtliche Gebundenheit des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) verlangt das Willkürverbot, dass die eigene Auffassung begründet wird (BVerfG, Kammerbeschl. v. 19. 7. 1995 - 1 BvR 1506/93 - NJW 1995, S. 2911).

Vorliegend hat es das Sozialgericht vollständig unterlassen, seine Entscheidung, an Stelle eines Urteils der Kammer einen Gerichtsbescheid allein des Kammer-vorsitzenden zu erlassen, zu begründen. Dieser Fehler ist auch wesentlich, da dem Sozialgericht bei der Begründung seiner diesbezüglichen Entscheidung hätte auffallen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung allein durch den Kammervorsitzenden durch Gerichtsbescheid nicht vorlagen und eine andere Entscheidung bei vollständiger Kammerbesetzung nicht ausgeschlossen werden kann.

Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Beteiligten an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreites einerseits mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits miteinander abgewogen. Angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens und auch des Umstandes, dass die Beteiligten einer Zurückverweisung an das Sozialgericht zugestimmt haben, hat sich der Senat für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei berücksichtigt der Senat auch, dass sich das Sozialgericht im so genannten Höhenstreit nicht allein auf die Prüfung des für die Leistungsberechnung maßgeblichen Regelsatzes hätte beschränken dürfen. Vielmehr sind neben der grundsätzlichen Leistungsberech-tigung der Klägerin auch die weiteren für die Höhe der Leistungsansprüche insgesamt maßgeblichen Umstände zu prüfen (vgl. beispielsweise BSG, Urt. v. 16.10.2007 – B 8/9b SO 8/06 R – RdNr. 25; Urt. v. 15.4.2008 – B 8/9b SO 20/06 R – RdNr. 14). Auch für den Fall, dass der Beklagte zu Recht der Leistungsberechnung nur den Regelsatz einer Haushaltsangehörigen zu Grunde gelegt hat, könnte sich ein höherer Leistungsanspruch der Klägerin z.B. aus einer atypischen Bedarfslage i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII ergeben. Eine solche umfassende Prüfung der Voraussetzungen und der Höhe des geltend gemachten Anspruchs hat das Sozialgericht nicht vorgenommen. Deshalb müsste auch der Senat den Sachverhalt zunächst durch eigene Ermittlungen weiter aufklären. Aus diesem Grunde ist nicht damit zu rechnen, dass eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht zur Durchführung der notwendigen Ermittlungen und zur erneuten Entscheidung zu einer wesentlichen Verzögerung des endgültigen Abschlusses des Rechtsstreits führen wird.

Da das Verfahren noch nicht beendet ist, bleibt die Frage der Kostentragung der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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