L 3 SB 4917/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 3 SB 2046/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4917/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24. September 2009 abgeändert und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2006 und unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2009 verurteilt, die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Grad der Behinderung von 50 seit dem 03. Mai 2007 festzustellen.

Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Im Übrigen verbleibt es bei der Kostenentscheidung im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24. September 2009.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist (zuletzt noch) streitig, ab welchem Zeitpunkt beim Kläger die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch festzustellen ist.

Der 1945 geborene Kläger beantragte am 10.05.2005 beim L. E. (L.) seine Gesundheitsstörungen als Behinderungen sowie einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 (auch für die Zeit vor dem 16.11.2000) festzustellen. Er begründete seinen Antrag mit einer seit 1971 bestehenden chronisch rezidivierenden Gichterkrankung, die ihn in seiner Beweglichkeit beeinträchtige. Hierzu legte er u.a. Arztbriefe des ihn behandelnden Facharztes für Orthopädie, Rheumatologie, Chirotherapie und Sportmedizin Dr. J. vom 17.03.1997, vom 01.11.1998, vom 16.03.2000 und vom 23.12.2002 vor, in denen dieser mitteilte, beim Kläger eine beginnende Coxarthrose beidseitig, eine Spondylarthrose der unteren LWS, myostatische Dysbalancen in der LWS-Lenden-Hüftregion, Hyperurikämie, einen teilfixierten Rücken der BWS, einen Z.n. abgelaufenem M.Scheuermann der BWS, einen Z.n. abgelaufenem M. Panner li. und Arthrose mit Reizzuständen des linken Ellenbogens diagnostiziert zu haben. Er berichtete von einer leicht eingeschränkten Hüftgelenksbeweglichkeit sowie einer insgesamt eingeschränkten Entfaltbarkeit der Wirbelsäule und empfahl jeweils die Durchführung eines intensiven physikalischen und physiotherapeutischen Behandlungsprogrammes.

Das L. forderte sodann bei Dr. J. und Dr. H. Befundberichte an. Unter dem 31.05.2005 gab Dr. J. an, der Kläger habe sich zuletzt am 10.12.2002 bei ihm vorgestellt. Er habe eine konzentrisch eingeschränkte Beweglichkeit der gesamten Wirbelsäule in allen Etagen, eine endgradig eingeschränkte Schultergelenksbeweglichkeit sowie ein deutliches Streck- und ein endgradiges Beugedefizit in beiden Ellenbogengelenken befundet. Eine Ganzkörperszintigraphie am 27.02.2002 habe mehrere Belegungen ergeben, die am ehesten Degenerationen und aktivierte Arthrosen der Ellenbogen- und Schultereckgelenke, der mittleren HWS, BWS und ISG-Gelenken, beidseitig an den Hüften sowie der rechten Schulter entsprächen. Dr. H., Facharzt für Allgemeinmedizin, hat unter dem 21.07.2005 mitgeteilt, der Kläger befinde sich seit 1997 in seiner hausärztlichen Behandlung und habe bereits vor diesem Zeitpunkt wiederholt schwere Hyperurikämieanfälle erlitten. Unter kontinuierlicher Allupurinolbehandlung seien die Gichtanfälle in letzter Zeit seltener aufgetreten.

Das L. führte die Befundberichte sodann einer versorgungsärztlichen Überprüfung durch Dr. T.-T. zu, der die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen "Gicht mit Gelenkbeteiligung, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Wachstumsstörung (Scheuermann`sche Krankheit), Arthrose der Hüftgelenke, Patelladysfunktion beiderseits, Funktionsbehinderung beider Schultergelenke und Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke" mit einem Einzel-GdB von 40 sowie eine Bluthochdruckerkrankung mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete. Mit Bescheid vom 12.10.2005 stellte das L. den GdB des Klägers seit dem 10.05.2005 mit 40 fest. Ferner entschied es, dass der GdB für die Zeit ab 01.11.2000 bis 09.05.2005 40 betrage. Es berücksichtigte hierbei "Gicht mit Gelenksbeteiligung, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Wachstumsstörung, Arthrose der Hüftgelenke, Patelladysfunktion beiderseits, Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke" und "Bluthochdruck" als Funktionsbeeinträchtigungen, die mit einem GdB von 40 angemessen bewertet seien.

Seinen hiergegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass die Darstellungsweise des L. im Bescheid unschlüssig erscheine, da der GdB zwar seit dem 10.05.2005 mit 40 festgesetzt worden sei, für die Zeit vom 01.11.2000 bis 09.05.2005 jedoch gleichfalls ein GdB von 40 festgestellt worden sei. Ungeachtet dessen ergebe sich aus dem Befundbericht von Dr. J. eine erhebliche Beeinträchtigung, die einen GdB von 50 rechtfertige. Dort werde festgestellt, dass deutliche Bewegungseinschränkungen in allen Gelenken bestünden. Der skelettöse Apparat sei als multimorbid zu bezeichnen, da sämtliche Gelenkbereiche betroffen seien. Darüber hinaus bestünden Dysbalancen der Extremitäten und der Wirbelsäule. Gesondert zu bewerten sei ferner ein chronisches Schmerzsyndrom. Dieses wirke sich auf den ermittelten GdB erhöhend aus, weswegen ein GdB von mindestens 50 ab 01.11.2000 anzunehmen sei.

Gestützt auf eine versorgungsärztliche Überprüfung durch Dr. K. vom 11.03.2006, der anführte, beim bestünden Kläger geringe bis mittelgradige Veränderungen der Wirbelsäule und Gelenke, die Bewegungseinschränkungen seien jedoch allenfalls als leicht bis mittelgradig anzusehen weswegen ein GdB von 40 seit dem 01.11.2000 angemessen sei, wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2006 zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte der Beklagte an, die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen im angefochtenen Bescheid in vollem Umfang erfasst und mit einem GdB von 40 angemessen bewertet seien. Die Bewegungseinschränkungen seien als leicht bis mittelgradig anzusehen. Ein GdB von 50 - als Voraussetzung für die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch - könne nur angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkungen der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen so erheblich seien, wie es beim Verlust eines Beines im Unterschenkel oder bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule der Fall sei. Ein derartiges Ausmaß erreichten die beim Kläger vorliegenden Funktionsbehinderungen nicht. Die Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft müsse daher versagt werden.

Hiergegen hat der Kläger am 27.04.2006 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er auf seine Widerspruchsbegründung verwiesen und ergänzend vorgebracht, er leide seit 35 Jahren an einer Gichterkrankung, was einem geringen bis mittelgradigen Schweregrad, wie er vom Beklagten angenommen werde, bereits entgegenstehe. Ein Eingehen auf die Widerspruchsbegründung sei im Widerspruchsverfahren nicht erfolgt.

Das SG hat sodann die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen einvernommen. In seiner Stellungnahme vom 03.05.2007 hat Dr. J. u.a. mitgeteilt, beim Kläger lägen mittel- bis schwergradige Funktionsstörungen im Bereich der Gelenke und der Wirbelsäule vor. Ferner hat er die Behandlungsdaten des Klägers aufgelistet, aus denen ersichtlich ist, dass der Kläger Dr. J. im Jahr 1999 und 2000 jeweils zweimal, im Jahr 2001 siebenmal und im Jahr 2002 sechsmal konsultiert hat. Ergänzend hat Dr. J. unter dem 27.07.2008 mitgeteilt, die Funktionsstörungen des Klägers seien mittel- bis schwergradig ausgeprägt, eine zeitlich gestaffelte Qualifizierung sei jedoch nicht möglich. Der Facharzt für Allgemeinmedizin H. hat unter dem 08.05.2008 mitgeteilt, der Kläger stehe seit März 1997 in seiner hausärztlichen Behandlung. Der von ihm diagnostizierten Hyperurikämie messe er einen mittleren bis schweren Schweregrad bei. Gleiches gelte für die multiplen Gelenkbeschwerden. Psychosomatische Beschwerden und Borreliose lägen in einem mittleren Schweregrad vor. Die Hypertonie sei lediglich leichtgradig. Den psychosomatischen Beschwerden messe er einen GdB von 30 bis 50, der Hyperurikämie einen solchen von 50, der Borreliose einen solchen von 30 bis 50 und der Hypertonie einen GdB von 20 bei.

Das SG hat ferner Dr. Dr. S. - Arzt für Orthopädie, Sportmedizin, Chirotherapie - mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem fachorthopädischen Gutachten vom 20.06.2007 hat Dr. Dr. S. beim Kläger ein mittelgradiges degeneratives Wirbelsäulensyndrom in zwei Abschnitten, eine stärkere beidseitige Ellenbogengelenksarthrose, geringfügige arthrotische Veränderungen beider Hüftgelenke, den dringenden Verdacht auf eine beidseitige Innenmeniskusschädigung geringen Grades und ein mittelschweres Supraspinatus-sehnensyndrom beidseitig diagnostiziert. Den GdB für die Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet hat er mit 50 eingeschätzt. In ergänzenden Stellungnahmen vom 02.12.2007 und vom 24.12.2007 hat Dr. Dr. S. mitgeteilt, die von ihm diagnostizierten Erkrankungen entstünden nicht binnen kurzer Zeit sondern infolge lang anhaltender Fehlbelastungen und zunehmenden Alters, ein GdB von 50 könne spätestens seit dem 23.12.2002 angenommen werden. Dr. J. habe, so Dr. Dr. S., bereits in seinem Arztbrief vom 16.03.2000 eine beginnende Coxarthrose beidseitig, eine Spondylarthrose der unteren LWS und eine teilfixierte BWS sowie eine Ellenbogengelenksarthrose links festgestellt. Zwei Jahre zuvor, am 01.11.1998, sei gleichfalls von Dr. John von Arthrosen der kleinen Wirbelgelenke über die gesamte Halswirbelsäule berichtet worden. Alle Behinderungen seien mithin bereits im Jahr 2000 bekannt gewesen und hätten zu Beeinträchtigungen geführt. Am 23.12.2002 habe Dr. J. zusätzlich zu den bereits bekannten Einschränkungen von einem chronischen Schmerzsyndrom berichtet. Dies sei ein Hinweis darauf, dass die Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen beim Kläger dauerhaft verfestigt gewesen seien. Ab diesem Zeitpunkt könne von einem GdB von 50 ausgegangen werden.

Mit Schriftsatz vom 02.10.2007 hat der Beklagte ein Vergleichsangebot unterbreitet, den GdB des Klägers ab dem 03.05.2007 mit 50 festzustellen. Unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. K. vom 27.09.2007 hat er hierbei für "Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule" einen Einzel-GdB von 30, für eine "Funktionsbehinderung beider Schultergelenke", eine "Funktionsbehinderung beider Ellenbogengelenke" und eine "Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke" einen Einzel-GdB von jeweils 20 und für "Knorpelschäden an beiden Kniegelenken" und "Bluthochdruck" einen Einzel-GdB von jeweils 10 zu Grunde gelegt. Mit Schriftsatz vom 02.04.2008 hat der Beklagte, unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. vom 01.04.2008, sein Vergleichsangebot erweitert und sich bereit erklärt, den GdB des Klägers bereits ab 23.12.2002 mit 50 festzustellen. Der Kläger ist den Vergleichsangeboten unter Verweis auf die bereits seit 1971 bestehende Gichterkrankung nicht beigetreten.

Mit Gerichtsbescheid vom 24.09.2009 hat das SG den Beklagten verurteilt, den GdB des Klägers unter Abänderung des Bescheides vom 12.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2006 mit 50 seit 23.12.2002 festzustellen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ausgeführt, die beim Kläger bestehende Wirbelsäulenerkrankung sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Aus dem Gutachten von Dr. Dr. S. ergebe sich, dass mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorlägen. Die Erkrankungen der Schultergelenke, der Ellenbogengelenke, und der Hüftgelenke sei mit einem Einzel-GdB von jeweils 20, die Erkrankung der Kniegelenke sowie die Bluthochdruckerkrankung mit einem Einzel-GdB von jeweils 10 zu berücksichtigen. Eine Borrelioseerkrankung des Klägers sei nicht als Funktionsbeeinträchtigung anzuerkennen, da nach der Auskunft des behandelnden Arztes keine konkreten gesundheitlichen Auswirkungen hierdurch bedingt seien. Im Hinblick auf die gegenseitigen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sei ein GdB von 50 angemessen. Dieser sei, nach der nachvollziehbaren Einschätzung von Dr. Dr. S., ab dem 23.12.2002 anzunehmen, da ab diesem Zeitpunkt ein chronisches Schmerzsyndrom bestanden habe.

Mit Bescheid vom 14.10.2009 hat das L. den GdB des Klägers seit 23.12.2002 in Ausführung des Gerichtsbescheides des SG vom 24.09.2009 mit 50 festgestellt.

Gegen den ihm am 26.09.2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 26.10.2009 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung bringt er vor, der Gutachter habe mitgeteilt, dass alle Behinderungen bereits im Jahr 2000 bekannt gewesen seien. Dies habe den Beklagten dazu veranlasse, einen GdB von 40 bereits ab dem 01.11.2000 anzuerkennen. Vor dem Hintergrund der seit 1971 bestehenden Grunderkrankung und den seit 1997/1998 bestehenden deutlichen Hinweisen auf ein chronisches Schmerzsyndrom, sei ein GdB von 50 ab dem 01.11.2000 realistisch. Überdies sei unklar, wann die Infektion mit dem Borreliosebakterium erfolgt sei. Jedenfalls stehe fest, dass die Beeinträchtigungen durch die Borreliose erheblich sein könnten und in Zusammenhang mit der Gichterkrankung, den rheumatischen Erkrankungen und den arthrotischen Erkrankungen Beschwerden glaubhaft seien.

Der Senat hat bei der Deutschen Rentenversicherung Bund die dort für den Kläger geführte Rentenversicherungsakte - - eingesehen und die älteste dort befindliche medizinische Unterlage, den Rehabilitationsentlassungsbericht der im Zeitraum vom 11.07. bis 01.08.2002 stationär in der S.-R.-K. der B. S., durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme beigezogen. Aus dieser war der Kläger unter den Diagnosen eines chronifizierten Schmerzsyndroms, eines degenerativen HWS-Syndroms, eines myostatischen LWS-Syndroms mit pseudoradikulärer Symptomatik links, beidseitiger Coxarthrose und Supraspinatussehnen-Syndrom beidseitig entlassen worden.

Nach Vorlage des Entlassungsberichts beim Beklagten hat dieser am 06.09.2010 Anschlussberufung gegen den Gerichtsbescheid des SG insoweit eingelegt, als er verurteilt worden ist, über das Vergleichsangebot vom 02.10.2007 hinaus einen GdB von 50 bereits ab dem 23.12.2002 festzustellen. Zu deren Begründung hat er eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. R. vom 26.08.2010 vorgelegt, in der dieser angeführt hat, im Entlassungsbericht werde ausgeführt, dass im Bereich der Schultergelenke keine wesentlichen funktionellen Einschränkungen mehr vorgelegen haben. Die Beweglichkeit der Hüftgelenke mit einem Bewegungsumfang von 130 - 0 - 10° bedingte allenfalls einen GdB von 10. Die Knie- und Ellenbogengelenke seien beschwerdearm gewesen. Im Bereich des Achsenorgans habe die Halswirbelsäule lediglich leichte Bewegungseinschränkungen gezeigt. Gleiches gelte für die funktionellen Einschränkungen der BWS und der LWS. In Kenntnis des Entlassungsberichts könne ein GdB von 50 ab Dezember 2002 nicht aufrechterhalten werden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24. September 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12. Oktober 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2006 und unter Abänderung des Bescheides vom 14. Oktober 2009 zu verurteilen, die bei ihm bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen ab dem 01. November 2000 mit einem Grad der Behinderung von 50 festzustellen und die Anschlussberufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24. September 2009 abzuändern, soweit er über das Vergleichsangebot vom 02. Oktober 2007 hinaus geht und den Grad der Behinderung des Klägers vor dem 03. Mai 2007 mit 50 festgestellt hat, den Ausführungsbescheid des Landratsamtes Emmendingen vom 14. Oktober 2009 aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Senat hat die Prozessakte des Verfahrens des Klägers gegen die D.R. - B.- vor dem SG (S 6 R 5971/07) wegen der Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, zum Verfahren beigezogen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie die beim Beklagten für den Kläger geführte Schwerbehindertenakte, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 06.07.2011 wurden sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 06.07.2011 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegte Berufung des Klägers ist wie die Anschlussberufung des Beklagten zulässig. Letztere ist, obschon sie im SGG nicht ausdrücklich geregelt ist, nach § 202 SGG i.V.m. § 524 Zivilprozessordnung (ZPO) möglich. Sie ist im Besonderen nicht fristgebunden (vgl. § 202 SGG i.V.m. § 524 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der Beklagte ist seines Rechts, innerhalb des Rechtsmittels des Klägers, angriffsweise den vom Kläger angefochtenen Gerichtsbescheid auch zu seinen Gunsten abändern zu lassen (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 22.09.1981 - 1 RJ 94/80 – veröffentlicht in juris), auch nicht dadurch verlustig gegangen, dass er mit Bescheid vom 14.10.2009 den Gerichtsbescheid des SG umgesetzt hat. Ein Verzicht auf das Recht zur Anschlussberufung kann nur dann angenommen werden, wenn der Wille, sich endgültig mit der angefochtenen Entscheidung abzufinden, unzweideutig erklärt wird. Da der Beklagte jedoch in dem Bescheid vom 14.10.2009 ausdrücklich angeführt hat, dass dieser "in Ausführung des Gerichtsbescheides" ergeht, vermag der Senat hierin keine endgültige Abkehr des Beklagten von seiner - ursprünglichen - Rechtsposition zu erkennen.

Gegenstand des Verfahrens ist der im Wege einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG; vgl. hierzu BSG, Urteil vom 07.04.2011 - B 9 SB 3/10 R – veröffentlicht in juris) geltend gemachte Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 50 schon ab dem 01.11.2000. Der Senat entscheidet hierbei über den Bescheid vom 14.10.2009, der gemäß §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, auf Klage hin (BSG, Urteil vom 25.02.2010 - B 13 R 61/09 R - ; Urteile des erkennenden Senats vom 19.01.2011 - L 3 SB 3158/09 - und Urteil vom 23.03.2011 - L 3 SB 5622/09 - n.V.; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 96, Rn. 7).

Nachdem der Kläger das Vergleichsangebot des Beklagten vom 02.04.2008, mit dem sich dieser bereit erklärt hat, den GdB des Klägers ab 23.12.2002 mit 50 festzustellen, nicht angenommen hat, ist der streitgegenständliche Zeitraum nicht dahingehend eingeschränkt, dass der Senat darauf beschränkt ist, die angefochtene Entscheidung und den geltend gemachten Anspruch nur für die Zeit vor dem 23.12.2002 zu überprüfen. Da der Beklagte den Gerichtsbescheid des SG vom 24.09.2009 nur insoweit mit der Anschlussberufung angreift, als er verurteilt worden ist, einen GdB von 50 vor dem 03.05.2007 festzustellen, die Feststellung eines GdB von 50 ab diesem Zeitpunkt hingegen nicht zur Überprüfung stellt, ist der Senat infolge der Anschlussberufung des Beklagten und dem damit einhergehenden Befreiung vom Verbot der reformatio in peius (vgl. in Meyer-Ladewig/Leitherer/ Keller, a.a.O.) dazu berufen, die Feststellung eines GdB von 50 für die Zeit vom 01.11.2000 bis zum 02.05.2007 zu überprüfen.

Die Berufung des Beklagten ist, anders als die des Klägers, auch begründet. Die beim Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen sind erst ab dem 03.05.2007 mit einem GdB von 50 festzustellen. Der angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist aufzuheben, soweit der Beklagte verpflichtet wurde, beim Kläger bereits ab dem 23.12.2002 einen GdB von 50 festzustellen.

Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Feststellung des GdB des Klägers ist § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX). Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die zur Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest, für den die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend gelten (§ 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist hierbei nur dann zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX).

Bei der konkreten Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der jeweils gültigen Fassung (zuletzt 2008) heranzuziehen. In den AHP (die jeweilige Seitenangabe ist nach der Publikation des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen Printexemplars zitiert) ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderung wiedergegeben. Die AHP ermöglichen somit eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB. Auch das BSG betont die Bedeutung der AHP und beschreibt sie als "einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge" (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - veröffentlicht in juris). Sie sind für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zwar nicht rechtsverbindlich, sie tragen als "antizipierte Sachverständigengutachten" jedoch der Notwendigkeit Rechnung, Gesundheitsstörungen gleichmäßig zu bewerten. Angesichts dieser Bedeutung, wie aus Gründen der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen folgt der Senat den Bewertungsvorgaben der AHP. Dies gilt insb. auch, als über die jeweiligen Neuauflagen der AHP die jeweils neuesten Erkenntnisse und Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft über die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen in die AHP eingeflossen sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16.09.2003 - B 9 SB 3/02 R – veröffentlicht in juris). Die ab dem 01.01.2009 als Teil B der Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung [VersMedV]) an die Stelle der AHP getretenen "Versorgungsmedizinische Grundsätze" sind, da vorliegend die Feststellung eines GdB von 50 nur bis zum 02.05.2007 gegenständlich ist, nicht heranzuziehen.

In Anwendung dieser Maßstäbe ist der Senat auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme der Überzeugung, dass die beim Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen erst ab dem 03.05.2007 mit einem GdB von 50 festzustellen sind, eine zeitlich frühere Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers, wie klägerseits geltend gemacht ab dem 01.11.2000 oder wie im angefochtenen Gerichtsbescheid vom SG entschieden, ab dem 23.12.2002, hingegen nicht möglich ist. Bis zum 02.05.2007 sind die bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen vielmehr mit einem GdB von 40 ausreichend und angemessen bewertet.

Die GdB-Bewertung der beim Kläger bestehenden Gicht-Erkrankung (Urikopathie), einer schubweise verlaufenden Purin-Stoffwechselerkrankung, die in verschiedenen peripheren Gelenken zu einer gelenknahen Knochenresorption und Knorpelveränderungen führen kann (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 262. Aufl., S.752), erfolgt nach Ziff. 26.15 (S.99) der AHP anhand der Funktionseinschränkungen der betroffenen Gelenke, Schmerzen, Häufigkeit und Schwere der entzündlichen Schübe und einer etwaigen Beteiligung der inneren Organ.

Die Beteiligung der Hüftgelenke kann nicht mit einem höheren Einzel-GdB als 20 Berücksichtigung finden. Gemäß Ziffer 26.18 (S. 124) der AHP beurteilt sich die Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen des Hüftgelenks nach den bestehenden Bewegungseinschränkungen. Solche geringen Grades (z.B. Streckung-Beugung bis zu 0-10-90° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit) sind bei einseitigem Vorliegen mit einem Einzel-GdB von 10 bis 20, bei beidseitigem Vorliegen mit einem solchen von 20 bis 30 zu bewerten. Bewegungseinschränkungen mittleren Grades (z.B. Streckung/Beugung bis zu 0-30-90° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit) sind bei einseitigem Vorliegen mit einem Einzel-GdB von 30, bei beidseitigem Vorliegen mit einem solchen von 50 zu berücksichtigen. Ausweislich der von Dr. Dr. S. in seinem Gutachten mitgeteilten Bewegungsmaße - in der Dimension Streckung/Beugung waren die Hüftgelenke des Klägers anlässlich der Untersuchung des Klägers am 04.06.2007 beidseitig bis zu 0-0-100° beweglich - kann eine höhere Bewertung als mit einem Einzel-GdB von 20 nicht erfolgen. Da die Hüftgelenke des Klägers während der Rehabilitationsmaßnahme vom 11.07.2002 – 01.08.2002 jedoch noch weitergehend beweglich waren (Flexion/Extension rechts bis zu 130-0-10°, links bis zu 120-0-10°; im Übrigen waren die Hüftgelenke nicht maßgeblich eingeschränkt), kann die Funktionsbeeinträchtigung der Hüftgelenke des Klägers nicht vor dem 03.05.2007 berücksichtigt werden.

Die beim Kläger bestehende Erkrankung der Ellenbogengelenke kann vor dem 03.05.2007 nicht mit einem höheren Einzel-GdB als 20 berücksichtigt werden. Nach Ziff. 26.18 (S. 120) der AHP beurteilt sich die GdB-Bewertung für Erkrankungen des Ellenbogengelenks nach dem Umfang der Bewegungseinschränkungen. Solche geringen Grades (Streckung/Beugung bis 0-30-120° bei freier Unterarmdrehbeweglichkeit) sind mit einem Einzel-GdB vom 0-10, solche stärkeren Grades (insbesondere der Beugung einschließlich Einschränkung der Unterarmdrehbeweglichkeit) mit einem solchen von 20-30 zu bewerten. Da im Rehabilitationsentlassungsbericht eine Beweglichkeit in der Dimension Flexion/Extension mit 110-20-0° beidseitig wiedergegeben wird, ist ein höhere Einzel-GdB als 20 nicht möglich.

Die Beteiligung der Kniegelenke kann vor dem 03.05.2007 nicht mit einem höheren Einzel-GdB als 10 berücksichtigt werden. Die Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen des Kniegelenks beurteilt sich nach Ziffer 26.18 (S. 126) der AHP nach dem Ausmaß der Bewegungseinschränkungen. Geringgradige Einschränkungen (z.B. Streckung/Beugung bis zu 0-0-90°) sind bei einseitigem Vorliegen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 10, bei beidseitigem Vorliegen mit einem solchen von 10 - 20 zu bewerten. Erst bei weitergehenden Bewegungseinschränkungen ist ein höherer Einzel-GdB zu berücksichtigen. Da jedoch Dr. Dr. S. in seinem Gutachten die Beweglichkeit der Kniegelenke als lediglich geringfügig eingeschränkt bezeichnet, dies durch die mitgeteilten Bewegungsmaße (Streckung/Beugung 0-0-110°) belegt und darüber hinaus bekundet hat, dass die Gelenke reizlos und ohne Erguss oder Kapselschwellung seien, kann die Funktionsbeeinträchtigung nicht mit einem höheren Einzel-GdB als 10 berücksichtigt werden. Da jedoch der Rehabilitationsentlassungsbericht noch eine Beweglichkeit der Kniegelenke in den Dimensionen Flexion/Extension beidseitig mit 140-0-0° wiedergibt und davon berichtet, dass kein Kniegelenkserguss, keine Überwärmung, kein Meniskuszeichen oder Bandinstabilitäten bestehen, mithin keine maßgeblichen Funktionsbeeinträchtigungen vorlagen, kann die Funktionsbeeinträchtigung der Kniegelenke nicht vor dem 03.05.2007 Berücksichtigung finden.

Die Beteiligung der Schultergelenke ist mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen. Gemäß Ziffer 26.18 (S. 119) der AHP beurteilt sich die Höhe des Einzel-GdB für Schulter-erkrankungen nach den hierdurch bedingten Bewegungseinschränkungen des Schultergelenks. Ist der Arm nur bis zu 120° zu erheben und geht hiermit eine entsprechende Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit einher, ist ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Kann der Arm nur um 90° erhoben werden, und geht gleichfalls eine entsprechende Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit einher, ist ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Nachdem Dr. Dr. S. in seinem Gutachten bekundet hat, dass die Beweglichkeit der Schultergelenke beidseits bis maxi-mal 100° möglich ist und Instabilitäten des Schultergelenks nicht bestehen, ist die Funktionsbe-einträchtigung der Schultergelenke mit einem Einzel-GdB von 10 zu berücksichtigen. Da wäh-rend der Rehabilitationsmaßnahme vom 11.07.2002 – 01.08.2002 lediglich eine einseitige Ein-schränkung der Schultergelenksbeweglichkeit links auf 150° und eine Einschränkung der Innen-rotation beidseitig auf max. 70° befundet wurde, im Übrigen jedoch von einer freien Beweg-lichkeit der Schultergelenke berichtet wurde, kann die Funktionsbeeinträchtigung nicht für die Zeit vor dem 03.05.2007 berücksichtigt werden.

Die Bewertung des beim Kläger bestehenden degenerativen Wirbelsäulensyndroms bestimmt sich nach Ziffer 26.18 (S. 116) der AHP in erster Linie nach dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, selten und kurzdauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) bedingen danach einen GdB von 10. Bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) wird ein GdB von 20 erreicht. Bei Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ist ein GdB von 30 gerechtfertigt. Liegen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vor, kann ein GdB von 30 bis 40 festgestellt werden. Bei Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst; schwere Skoliose - ab ca. 70 Grad nach Cobb -) wird ein GdB von 50-70 festgestellt. Bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit kann ein GdB von 80-100 gerechtfertigt sein. Ein Einzel-GdB von 30, wie vom SG in seiner Entscheidung zugrunde gelegt, kann zur Überzeugung des Senats nicht vor dem 03.05.2007 festgestellt werden. Dr. Dr. Schreiber hat mitgeteilt, dass die Rotationsfähigkeit der Halswirbelsäule mit rechts/links 50/0/50° deutlich eingeschränkt sei. Die Rückneigung könne lediglich bis zu einem Winkel der Stirnfläche von 80° durchgeführt werden. Die Entfaltbarkeit der Brustwirbelsäule sei fast gänzlich ausgehoben gewesen. Gleichfalls war die Lendenwirbelsäule in ihrer Entfaltbarkeit eingeschränkt. In Zusammenschau der jeweils mittelgradigen funktionellen Einschränkungen der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte ist die Funktionsbeeinträchtigung des Achsenorgans mit einem Einzel-GdB von 30 ab dem 03.05.2007 zu bewerten. Anders als das SG sieht der Senat Funktionsbeeinträchtigungen, die dies rechtfertigen erst mit der Untersuchung bei Dr. Dr. S. als nachgewiesen an. Ein zeitlich früheres Bestehen ist hingegen nicht belegt. Der Senat verkennt hierbei nicht, dass Dr. Dr. S. in seinen ergänzenden Stellungnahmen mitgeteilt hat, die von ihm insgesamt angenommene Schwere mit einem GdB von 50 bestehe seit dem 23.12.2002, im Hinblick auf die Wirbelsäulenerkrankung des Klägers wird dies jedoch durch die im Berufungsverfahren beigezogenen Befunde aus dem Rehabilitationsentlassungsbericht widerlegt. Im Rehabilitationsentlassungsbericht vom 17.09.2002 wird von den, den Kläger dort behandelnden Ärzten mitgeteilt, dass während der Rehabilitationsmaßnahme Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule lediglich im Hinblick auf die Rotation auf 55/0/55°, der Inklination/Reklination rechts wie links auf 20/0/45° und der Seitneigung rechts/links auf 20/0/15° festgestellt worden seien (Bl. 39 LSG-Akte), d.h. sie Beweglichkeit war geringfügiger eingeschränkt, als dies Dr. Dr. S. in seinem Gutachten mitgeteilt hat. Ferner wurde zum damaligen Zeitpunkt das Ott`sche Maß mit 32,5/30 cm und das Schober`sche Maß mit 14/10 cm gemessen, worin sich eine freie Entfaltbarkeit der Wirbelsäule wiederspiegelt. Ferner wurde angegeben, dass beim Kläger weder ein Druck- noch Klopfschmerz festgestellt werden konnte. Mithin war zum damaligen Zeitpunkt die durch die Wirbelsäulenerkrankung bedingte funktionelle Einschränkung noch nicht derart ausgeprägt, dass ein Einzel-GdB von 30 angemessen war. Dieser ist erst durch die Untersuchung des Klägers bei Dr. Dr. S. belegt. Eine Berücksichtigung mit einem Einzel-GdB von 30 ist daher erst ab dem 03.05.2007 möglich.

Anhaltspunkte dafür, dass die Bluthochdruckerkrankung des Klägers mit einem höheren Einzel-GdB als 10 zu berücksichtigen sind, bestehen nicht.

Ein "chronisches Schmerzsyndrom" kann nicht als weitere Funktionsbeeinträchtigung berücksichtigt werden. Dies gründet bereits darin, dass üblicherweise mit Erkrankungen einhergehende Schmerzen und seelische Begleiterscheinungen bereits in den Tabellenwerten berücksichtigt sind (Ziff. 18 Abs. 8 der AHP [S.23 f]). Sind die Schmerzen erheblich höher als aufgrund der organischen Veränderung zu erwarten wäre, ist zwar ein höherer GdB gerechtfertigt, dies kann jedoch nur dann angenommen werden, wenn anhaltende psychoreaktive Störungen in einer solchen Ausprägung vorliegen, dass eine spezielle ärztliche Behandlung dieser Störung erforderlich ist (vgl. AHP a.a.O.). Da der Kläger jedoch nicht in schmerztherapeutischer bzw. psychologischer Behandlung steht, sieht der Senat keinen Anhalt dafür, ein chronisches Schmerzsyndrom bei der Bewertung des GdB einzustellen. Dies wird dadurch bestätigt, dass weder der Gutachter Dr. Dr. S., noch die behandelnden Ärzte des Klägers Hinweise auf eine Einschränkung der psychischen Belastbarkeit des Klägers mitgeteilt haben. So beinhaltet der Rehabilitationsentlassungsbericht trotz der gestellten Diagnose eines chronifizierten Schmerzsyndroms keine psychopathologischen Befunde, die die Annahme einer Funktionsbeeinträchtigung des Funktionssystems Psyche rechtfertigen könnten. Gleiches gilt für die sachverständige Zeugenaussage von Dr. H., der in seiner Stellungnahme gegenüber dem SG zwar für psychosomatische Beschwerden einen Einzel-GdB von 30 – 50 annimmt, jedoch keine Befunde benennt, die dies rechtfertigen könnten.

Soweit klägerseits angeführt wird, ein Einzel-GdB sei auch für eine Borrelioseinfektion zu berücksichtigen, vermag sich der Senat dieser Einschätzung nicht anzuschließen. Borreliose ist eine allgemeine Bezeichnung für verschiedene Infektionskrankheiten, die durch Bakterien aus der Gruppe der Borrelien ausgelöst werden. Die Erkrankungen können durch den Befall aller Körpergewebe vielfältige klinische Symptome auslösen. Indes kommt es für die Berücksichtigungsfähigkeit mit einem Einzel-GdB nicht auf die Krankheitsdiagnose, sondern einzig auf die konkreten persönlichen Auswirkungen der Erkrankung an. Da jedoch borreliosebedingte Funktionsbeeinträchtigungen nicht ersichtlich sind, insb. auch von Dr. H., der die Erkrankung mit einem Einzel-GdB von 30 – 50 bewertet sehen will, nicht benannt wurden, scheidet eine Berücksichtigung als weitere Funktionsbeeinträchtigung aus.

In Zusammenschau der beim Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen ist zur Überzeugung des Senats ein GdB von 50 erst ab dem 03.05.2007 gerechtfertigt. Zuvor sind die bestehenden Beeinträchtigungen hingegen mit einem GdB von 40 angemessen und ausreichend bewertet. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist, bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Bei mehreren Funktions-beeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Be-hinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Aus-maß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Grade hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei leichten Behinde-rungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen sind unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der Tabelle feste GdB-Werte ange-geben sind (Ziff. 19 [S. 24 f] der AHP). Ein GdB von 50 kann in Anlegung dieser Maßstäbe nicht vor dem 03.05.2007 angenommen werden. Die beim Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen sind erst ab diesem Zeitpunkt und der hierbei berücksichtigten Verschlechterung der Wirbelsäulenerkrankung gerechtfertigt. Hingegen waren die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers zuvor nicht mit dem Verlust eines Armes im Unterarm oder dem Verlust eines Beines im Unterschenkel gleichzusetzen. Der Senat wird hierbei maßgeblich davon geleitet, dass das Schwergewicht der die funktionelle Einschränkung bedingenden Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet liegt. Indes zeigt bereits die Behandlungsfrequenz des Klägers beim Facharzt Dr. J., das diese vor dem Jahr 2005 nicht derart schwerwiegend waren, dass ein GdB von 50 gerechtfertigt wäre. So befand sich der Kläger im Jahr 2000 lediglich zwei Mal, im Jahr 2001 sieben Mal und im Jahr 2002 sechs Mal in Behandlung bei Dr. J ... Für die Jahre 2003 und 2004 hat Herr Dr. J. hingegen keinerlei Behandlungen des Klägers mitgeteilt. Im Jahr 2005, 2006 und im Jahr 2006 stand er jeweils ein Mal in Behandlung bei Dr. J ... Hieraus wird dem Senat deutlich, dass die orthopädischen Erkrankungen des Klägers keine mehr als mittelgradigen funktionellen Einschränkungen der Teilhabe des Klägers bedingt haben. Ein GdB von 50 ab dem 16.11.2000 ist hingegen auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens nicht möglich. Der Umstand, dass die Erkrankungen bereits zu diesem Zeitpunkt "bekannt" gewesen seien, rechtfertigt keine entsprechende Berücksichtigung ab diesem Zeitpunkt. Die hierzu angeführten -aktenkundigen - Arztbriefe von Dr. J. vom 17.03.1997, vom 01.11.1998, vom 16.03.2000 und vom 23.12.2002 benennen zwar bereits die der Feststellung des GdB zu Grunde liegenden Erkrankungen, beinhalten jedoch keine Befunde, die eine zeitlich frühere Berücksichtigung als GdB-pflichtige Funktionsbeeinträchtigung zuließen. Auch die Einschätzung von Dr. Dr. S., spätestens seit dem 23.12.2002 sei ein GdB von 50 gerechtfertigt, stützt sich lediglich auf die in den Arztbriefen gestellten Diagnosen, so dass der Senat auch dieser Einschätzung in Ermangelung sie tragender Befunde, nicht folgt. In Ansehung der Arztbriefe und der dortigen Therapieempfehlung " eigene krankengymnastische Übungen" durchzuführen, wird der Senat vielmehr darin bestätigt, dass die Erkrankungen zum damaligen Zeitpunkt nicht derart schwer ausgeprägt waren, dass eine intensive Therapie erforderlich gewesen ist. Überdies beinhalten die Arztbriefe betreffend der Schulter- und Ellenbogenerkrankungen noch keine entsprechenden Diagnosen, so dass bereits das Bestehen der jeweiligen Erkrankung am 16.11.2000 nicht belegt ist.

Mithin ist der Senat der Überzeugung, dass der GdB des Klägers erst ab dem 03.05.2007 mit 50 festzustellen ist, er hingegen vor diesem Zeitpunkt mit 40 ausreichend und angemessen bewertet ist.

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24.09.2009 ist daher abzuändern. Der Beklagte ist unter Abänderung des Bescheides vom 12.10.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2006 und unter Abänderung des Ausführungsbescheides vom 14.10.2009 - entsprechend seines Vergleichsangebotes vom 02.10.2007 - zu verurteilen, den GdB des Klägers ab dem 03.05.2007 mit 50 festzustellen. Der Berufung des Beklagten ist hiernach stattzugeben, der Ausführungsbescheid vom 14.10.2009 ist aufzuheben. Die Berufung des Klägers ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung des Klägers erfolglos ist.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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