S 13 R 720/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 13 R 720/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 173/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Zeitraum vom 21.09.1979 bis 14.09.1980, in welchem der Kläger ein Berufsgrundbildungsjahr absolvierte, als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung in Ansatz zu bringen sei. Der Kläger begehrt die Anerkennung eines Berufsgrundbildungsjahres als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme statt einer Einordnung als Schulausbildung.

Der 1962 geborene Kläger besuchte im Schuljahr 1979/1980 die Berufsschule in C. und absolvierte dort ein Berufsgrundbildungsjahr im Berufsfeld "Holztechnik" in vollzeitschulischer Form. Der Unterricht umfasste in der Fachtheorie die Fächer Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung I; Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung II; Berufsbezogenes Rechnen I; Berufsbezogenes Rechnen II; Berufsbezogenes Zeichnen I; Berufsbezogenes Zeichnen II; Holzverbindungen und Verbindungsmittel; Kunststoffe, Klebstoffe und ihre Verarbeitung; Metalle, Glas und ihre Verarbeitung. Der Unterricht beinhaltete zudem in der Fachpraxis die Fächer Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung I und II; Holzverbindungen und Verbindungsmittel; Kunststoffe, Klebstoffe und ihre Verarbeitung; Metalle, Glas und ihre Verarbeitung. Im berufsfeldübergreifenden Lernbereich wurde der Kläger außerdem in den Fächern Politik und Wirtschaft; Deutsch und Sport unterrichtet. Der Besuch des Berufsgrundbildungsjahres – Berufsfeld Holztechnik – wird ausweislich des Zeugnisses der Berufsschule in C. vom 09.07.1980 (Bl. 10 der Gerichtsakte) als erstes Jahr der Berufsausbildung in den diesem Berufsfeld zugeordneten Ausbildungsberufen angerechnet. Im Anschluss an das Berufsgrundbildungsjahr entschied sich der Kläger gegen die zunächst beabsichtigte Aufnahme einer Schreinerlehre. Stattdessen absolvierte er eine dreijährige Bäckerlehre.

Am 24.02.2005 beantragte der Kläger die Anerkennung der Zeit vom 21.09.1978 bis 31.08.1980 (Ausbildungsart: Schule) als Anrechnungszeittatbestand nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI).

Hierzu legte er das Abschlusszeugnis der Schule für Lernbehinderte in D. vom 05.07.1979 vor, wonach der Kläger am Unterricht des neunten Schuljahres der Hauptstufe teilgenommen hat. Außerdem legte er das Zeugnis der Berufsschule in C. vom 09.07.1980 vor, wonach er im Schuljahr 1979/1980 das Berufsgrundbildungsjahr in vollzeitlicher Schulform besucht habe.

Mit Bescheid vom 10.05.2005 wurden die im Versicherungsverlauf des Klägers enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Jahre zurückliegen (d.h. die Zeiten bis zum 31.12.1998) nach § 149 Abs. 5 SGB VI festgestellt. Die Zeit vom 01.08.1979 bis 14.09.1980 wurde als Schulausbildung ausgewiesen.

Am 10.06.2005 legte der Kläger gegen diesen Bescheid vom 10.05.2005 Widerspruch ein mit der Begründung, dass die Zeit vom 21.09.1978 bis 09.07.1980 als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung anzuerkennen sei.

Mit Bescheid vom 12.05.2005 wurde festgestellt, ob und welche der angegebenen Zeiten für die gesetzliche Rentenversicherung erheblich sind und anerkannt werden.

Die Zeit vom 21.09.1978 bis 05.07.1979 sowie die Zeit vom 06.07.1979 bis 31.07.1979 wurde als Zeit der schulischen Ausbildung vorgemerkt und im Versicherungsverlauf als vorgemerkte Zeit der Schulausbildung ausgewiesen.

Gegen die Bescheide vom 10.05.2005 und 12.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2005 erhob der Kläger am 10.10.2005 Klage bei dem Sozialgericht Gießen, welche er mit Schreiben vom 16.01.2006 zurücknahm (S 13 R 583/05).

Mit Bescheid vom 01.03.2011 stellte die Beklagten im diesem beigefügten Versicherungsverlauf die dort enthaltenen Daten bis zum 31.12.2004 gem. § 149 Abs. 5 SGB VI verbindlich fest.

Am 11.03.2011 beantragte der Kläger die Überprüfung und Rücknahme der Bescheide vom 10.05.2005 und 12.05.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2005 in der Fassung des Bescheides vom 01.03.2011 nach § 44 SGB VI. Dabei begehrt er die Anerkennung der Zeit vom 21.09.1979 bis 14.09.1980, in welchem der Kläger ein Berufsgrundbildungsjahr absolvierte, als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung in Ansatz zu bringen.

Mit Bescheid vom 26.04.2011 wurde die Rücknahme des Bescheides vom 10.05.2005 in Gestalt des Bescheides vom 12.05.2005 in Gestalt des Bescheides vom 01.03.2011 abgelehnt mit der Begründung, es sei weder das Recht unrichtig angewandt worden, noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 11.05.2011 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21.07.2011 als unbegründet zurück.

Am 02.08.2011 hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Gießen erhoben. Er ist der Meinung, dass das Berufsgrundbildungsjahr als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung in Ansatz zu bringen sei. Der berufsbildende Charakter der Schulausbildung ergebe sich aus den unterrichteten Fächern. Dabei verweist er auf das Zeugnis der Berufsschule in C. vom 09.07.1980. Zur Begründung verweist er auf das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29.05.2008 – S 9 R 5473/07.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2011 zu verurteilen, den Zeitraum vom 21.09.1979 bis 14.09.1980 als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung in Ansatz zu bringen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass eine Anrechnung wegen Fachschulausbildung nicht erfolgen könne, da es sich lediglich um ein Berufsgrundbildungsjahr gehandelt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen, die Gegenstand der Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 26.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Zu Recht wurde die Zeit vom 21.09.1979 bis 14.09.1980 als solche wegen Schulausbildung und nicht als Anrechnungszeit wegen Fachschulausbildung vorgemerkt. Das absolvierte Berufsgrundbildungsjahr ist im Versicherungsverlauf des Klägers nicht als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, sondern als Schulausbildung zu werten.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die Bescheide vom 10.05.2005 und 12.05.2005 nicht erfüllt. Die Vormerkung der Zeit vom 21.09.1979 bis 14.09.1980 als solche wegen Schulausbildung ist rechtmäßig erfolgt. Der Bescheid vom 26.04.2011 ist ebenfalls rechtmäßig.

Die Beurteilung der rentenrechtlichen Zeiten richtet sich vorliegend nach § 58 SGB VI. Nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht oder an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilgenommen haben (Zeiten einer schulischen Ausbildung). Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen nach Satz 2 sind alle beruflichen Bildungsmaßnahmen, die auf die Aufnahme einer Berufsausbildung vorbereiten oder der beruflichen Eingliederung dienen, sowie Vorbereitungslehrgänge zum nachträglichen Erwerb des Hauptschulabschlusses und allgemeinbildende Kurse zum Abbau von schwerwiegenden beruflichen Bildungsdefiziten. Für die Abgrenzung ist entscheidend, dass die Bildungsmaßnahme in ihrer Ausrichtung auf eine Erwerbstätigkeit hinführt. Für diese Beurteilung ist nach einer wertenden Gesamtbetrachtung festzustellen, ob die Maßnahme berufsorientiert ist oder ob sie vielmehr auf eine Persönlichkeitsentwicklung gerichtet ist (Dankelmann, in: Kreikebohm [4. Aufl. 2013], § 58 SGB VI, Rn. 32). Indizielle Bedeutung hat dabei, in welchem Umfang den Teilnehmern spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden. Dabei steht die Vermittlung von Allgemeinwissen der Annahme einer berufsfortbildenden Maßnahme nicht grundsätzlich entgegen.

Dementsprechend ist ein Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) bei der Einordnung als rentenrechtliche Zeit dann nicht als allgemeinbildende Schulausbildung, sondern als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme zu qualifizieren, wenn es im Rahmen einer Berufsausbildung zwingend vorgeschrieben war und auf die Dauer der Ausbildungszeit angerechnet wurde (SG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 12. April 2012 – S 81 R 306/10 –, juris; Flecks, in: juri-PK [2. Aufl. 2013], § 58 Rn. 75; dagegen generell für die Anrechnung des Berufsgrundbildungsjahres als Schulausbildung Eicher/Haase/Rauschenbach [74. AL Okt. 2011], § 58 SGB VI, S. 17 Buchst. a).

Dementsprechend wurde in der Rechtsprechung dann, wenn der Besuch einer Gewerbeschule eine Verkürzung der Ausbildungszeit um etwa ein Drittel zur Folge hat, die Einordnung eines Berufsgrundbildungsjahres als allgemeinbildend für sachgerecht erachtet. In derartigen Fällen diene die Ausbildung erkennbar nicht mehr der allgemeinen Berufsvorbereitung, sondern der Berufsqualifizierung (Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 29.05.2008 – S 9 R 5473/07).

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ist die Kammer davon überzeugt, dass das Berufsgrundbildungsjahr des Klägers im Bereich "Holztechnik" vorliegend nicht als berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, sondern als Schulausbildung zu werten ist.

Die Kammer erkennt und berücksichtigt dabei, dass im vorliegenden Fall nach den im Berufsgrundbildungsjahr angebotenen Unterrichtsfächern die Allgemeinbildung nicht im Vordergrund stand. Vielmehr lag ausweislich des vorgelegten Zeugnisses der Schwerpunkt im berufsfeldbezogenen Unterrichtsbereich der Holzverarbeitung. Der Unterricht umfasste in der Fachtheorie die Fächer Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung I; Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung II; Berufsbezogenes Rechnen I; Berufsbezogenes Rechnen II; Berufsbezogenes Zeichnen I; Berufsbezogenes Zeichnen II; Holzverbindungen und Verbindungsmittel; Kunststoffe, Klebstoffe und ihre Verarbeitung; Metalle, Glas und ihre Verarbeitung. Der Unterricht beinhaltete zudem in der Fachpraxis die Fächer Holz, Holzwerkstoffe und ihre Bearbeitung I und II; Holzverbindungen und Verbindungsmittel; Kunststoffe, Klebstoffe und ihre Verarbeitung; Metalle, Glas und ihre Verarbeitung. Lediglich die Fächer Politik und Wirtschaft; Deutsch und Sport betrafen den berufsfeldübergreifenden Lernbereich.

Maßgeblich für die Beurteilung eines Berufsgrundbildungsjahres als berufsvorbereitende Maßnahme ist die Überlegung, dass in Fällen, in denen ein Berufsgrundbildungsjahr zwingend vorgeschrieben ist und auf die Ausbildungszeit angerechnet wird, es den Betroffenen nicht möglich ist, dieses zu umgehen. Dies würde dann zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung führen, wenn Auszubildende einer grundsätzlich dreijährigen Berufsausbildung mit vorgeschriebenem angerechnetem Berufsgrundbildungsjahr (als erstes Lehrjahr) hinsichtlich der rentenrechtlichen Bewertung ihrer Ausbildungszeit deutlich schlechter stünden, als Auszubildende einer dreijährigen betrieblichen Berufsausbildung, in der kein Berufsgrundbildungsjahr vorgesehen ist (SG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 12. April 2012 – S 81 R 306/10 –, juris). Diese Interessenlage besteht vorliegend aber gerade nicht.

Vorliegend war insbesondere auch zu berücksichtigen, dass das Berufsgrundbildungsjahr dem Ausbildungsberuf inhaltlich gerade nicht entsprach. Das Berufsgrundbildungsjahr hat den Kläger nicht auf die Aufnahme der Berufsausbildung als Bäcker vorbereitet. Es war auch nicht Voraussetzung für die nachfolgende betriebliche Berufsausbildung zum Bäcker. Das Berufsgrundbildungsjahr im Bereich "Holztechnik" hat inhaltlich dem später ergriffenen Ausbildungsberuf als Bäcker gerade nicht entsprochen.

Nach dem Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung musste dieser während des Berufsgrundbildungsjahres feststellen, dass die Tätigkeit in holzverarbeitenden Berufen nicht seinen Interessen und Neigungen entsprach und er für sich das Bäckerhandwerk als Traumberuf entdeckte. Das Berufsgrundbildungsjahr diente damit der Berufsorientierung des Klägers, es war für den Kläger gerade nicht berufsvorbereitend, sondern vielmehr "berufsfindend".

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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