L 7 P 50/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 P 140/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 50/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15.09.1997 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung (Geldleistungen) nach der Pflegestufe III streitig.

Bei dem am 1962 geborenen Kläger besteht ein Morbus Down; 1972 wurde ein insulinpflichtiger Diabetes mellitis diagnostiziert, der inzwischen zu weiteren Gesundheitsstörungen (u.a. zu diabetischen Augenveränderungen und beginnender Polyleuropathie) geführt hat. Der Kläger besuchte 16 Jahre lang die Schule für geistig Behinderte, wo er nach dem Schuljahr 1986/87 entlassen wurde. Am 17.08.1992 wurde er in den Arbeitsbereich der Behindertenwerkstatt B. aufgenommen. Bei ihm sind vom Amt für Versorgung und Familienförderung Nürnberg ein GdB von 100 anerkannt, dazu die Merkzeichen "B", "G", "H" und "RF". Von der Beklagten wurden nach dem SGB V seit 1995 Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit erbracht, zuletzt auf der Grundlage eines sozialmedizinischen Gutachtens vom 29.06. 1992.

Am 21.12.1994 wurde für den Kläger der Antrag auf Zuordnung zur Pflegestufe III (Geldleistung) gestellt. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ging in seinem Gutachten vom 23.08.1995 auf der Grundlage einer Untersuchung am 04.08. 1995 von einem Pflegebedarf bei der Grundpflege von durchschnittlich 125 Minuten täglich und in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 17 Stunden und zehn Minuten wöchentlich aus.

Mit Bescheid vom 31.08.1995 teilte daraufhin die Beklagte dem Kläger mit, dass er die Voraussetzungen der Pflegestufe III nach den geltenden Bestimmungen des neuen Pflegeversicherungsgesetzes ab 01.04.1995 nicht erfülle.

Hiergegen wurde von den Eltern des Klägers Widerspruch erhoben mit der Begründung, wesentliche Gesichtspunkte für die Einstufung in die Pflegestufe III seien im vorliegenden Fall nicht angemessen berücksichtigt worden. Denn das Zusammentreffen von Morbus Down und insulinpflichtigem Diabetes Typ I sei die absolute Ausnahme, schon deshalb sei der Kläger mit anderen geistig Behinderten nicht vergleichbar. Er könne die Werkstatt für Behinderte aus gesundheitlichen Gründen auch nur in zeitlich eingeschränktem Umfang besuchen, er benötige Pflege und Überwachung rund um die Uhr, auch nachts, und sei von der ständigen Präsenz einer Pflegeperson abhängig. Um lebenswichtige Funktionen nicht zu gefährden und eine gute Blutzucker-Einstellung zu sichern, sei es notwendig, täglich mit dem Kläger zu laufen. Ohne Berücksichtigung der Zeitangaben zum Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung seien bei der Grundpflege 200 Minuten anzusetzen, dazu noch 147 Minuten für die hauswirtschaftliche Versorgung, also insgesamt 347 Minuten täglich. Vorgelegt wurde auch ein Pflegetagebuch vom 02.05.1996 und ein von den Eltern des Klägers geführter Nachweis für den Zeitraum vom 13.04. bis 06.05.1996 über die gemessenen Blutzuckerwerte und die verabreichten Insulinangaben. Die von der Beklagten erneut veranlasste Begutachtung des Klägers durch den MDK - Gutachten vom 24.07.1996 - ergab einen Pflegebedarf von 157 Minuten in der Grundpflege (65 Minuten für Körperpflege, 60 Minuten für Ernährung, 32 Minuten für Mobilität) sowie einen Pflegebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung von 14 Stunden wöchentlich. Mit Schreiben vom 28.07.1996 ergänzten die Eltern/Betreuer des Klägers ihre Widerspruchsbegründung und wiesen vor allem auf die notwendige Insulingabe hin, sowie die aus gesundheitlichen Gründen durchgeführten täglichen Spaziergänge.

Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 11.09.1996).

Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg Klage erheben lassen und zur Begründung auf die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen des Prof.Dr.H. und des Prof.Dr.J. Bezug genommen sowie weitere Unterlagen übergeben und Ausführungen gemacht. Das Sozialgericht hat nach Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Eltern des Klägers und nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte Prof.Dr.B. als medizinischen Sachverständigen gehört. In seinem am 26.05.1997 - aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 14.04.1997 - erstatteten Gutachten kam er zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegestufe III im Ergebnis nicht erfüllt seien. Im Bereich der Grundpflege ging er von einem durchschnittlichen täglichen Pflegebedarf von insgesamt 172 Minuten (Körperpflege 78 Minuten, Ernährung 60 Minuten, Mobilität 34 Minuten) aus. Dabei berücksichtigte er weder den Aufwand der Eltern des Klägers für das Berechnen der Insulin-Einheiten noch für das Spritzen als solches; ebenfalls unberücksichtigt blieben die Begleitung des Klägers bei den durchgeführten Spaziergängen sowie die Berücksichtigung von Wartezeiten bei Arztbesuchen.

Der Kläger verwies demgegenüber auf einschlägige Urteile, insbesondere das Urteil des Sozialgerichts Hamburg - S 23 P 63/95 -, wonach Eltern diabetischer Kinder Pflegegeld zugebilligt worden sei. Der Pflegebedarf des Klägers wurde von den Bevollmächtigten noch einmal zusammengestellt, wobei ein Pflegebedarf von insgesamt 7,4 Stunden dargestellt wurde, worauf auf die Grundpflege 4,8 Stunden (Körperpflege 98 Minuten, Ernährung 120 Minuten, Mobilität 71 Minuten pro Tag) entfielen. Gerügt wurde an dem Gutachten des Prof.Dr.B. , dieser habe sich bei den Angaben zur Pflegezeit im Wesentlichen an die Zeiten des MDK gehalten. Unberücksichtigt sei die sogenannte Behandlungspflege geblieben. Auch seien Rechenfehler enthalten. Die von Seiten des Klägers berechneten Zeiten seien eher zu knapp bemessen. Häufig brauche die Pflegeperson für die einzelnen Verrichtungen, abhängig von der Tagesform des Klägers, länger. Es bestehe darüber hinaus auch eine ununterbrochene Bereitschaft der Pflegeperson auch nachts, weil Hilfebedarf auch nachts zu unvorhersehbaren Zeiten zu erwarten sei. Bei fieberhaften Infekten und anderen Erkrankungen sei der besondere Einsatz der Pflegeperson während der Nacht gefordert, weil die Gefahr einer Stoffwechselentgleisung in hohem Maß gegeben sei. In wiederholten Stellungnahmen wurden noch weitere Ausführungen zum Pflegebedarf gemacht, insoweit wird hierauf Bezug genommen.

Der Kläger hat vor dem Sozialgericht beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 31.08.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.1996 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 15.09.1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Für das Erreichen der Pflegestufe III fehle es sowohl an dem gesetzlich vorgeschriebenen Grundpflegebedarf von vier Stunden wie auch an einer erforderlichen Rund-um-die-Uhr-Betreuung des Klägers.

Hiergegen hat der Kläger, unter Hinweis auf sein bisheriges Vorbringen, Berufung eingelegt: Das Sozialgericht habe den tatsächlichen Pflegeaufwand nicht ausreichend berücksichtigt. Es handle sich tatsächlich um eine notwendige Rund-um-die-Uhr-Pflege, ständige Bereitschaft sei erforderlich. Nachfolgend hat er zur weiteren Begründung ein ärztliches Attest der Neurologin/Psychiaterin Dr.M. vom 24.11.1997 vorgelegt, die den bekannten Befund Down-Syndrom und leicht bis mäßig ausgeprägte diabetische PNP beschreibt und die aufwendige Pflege eines geistig behinderten Diabetikers darlegt. Die Kombination eines Diabetes mellitus und eines Down-Syndroms entspreche einer Schwerstpflegebedürftigkeit.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung am 04.12.1997 die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert und sodann die mündliche Verhandlung - im Hinblick auf beim BSG zur der einschlägigen Problematik (Stichwort Diabetes-Kind, Berücksichtigungsfähigkeit von Zeiten der Anleitung, Überwachung etc. im Rahmen des Verrichtungskatalogs bei schwerstbehinderten Kindern - Morbus Down - etc.) anhängige Rechtsstreite vertagt und nach Vorliegen der Urteile des BSG vom 19.02.1998 zur weiteren Sachaufklärung ein Gutachten der Ärztin Dr.S. eingeholt. Diese kam in ihrem am 25.10.2001 erstatteten Gutachten zu der Auffassung, dass beim Kläger seit 01.04.1995 aufgrund des Behindertenbildes bei Down-Syndrom und des manifesten Diabetes mellitus die Voraussetzungen für die Pflegestufe II vorliegen. Hinsichtlich der hier vorliegenden besonderen Fallgestaltung - Diabetes und Morbus Down - hat sie herausgestellt, dass Pflegerelevanz hinsichtlich des vermehrten Aufwands zur Anleitung (Motivierung), Beaufsichtigung (Kontrolle) und Unterstützung sowie in Form von teilweiser bzw. vollständiger Übernahme unter anderem beim Waschen und Duschen, bei der Zahnpflege, beim Kämmen und Rasieren, bei der Darm-/Blasenentleerung, bei der mundgerechten Zubereitung und Nahrungsaufnahme, beim Aufstehen/Zubettgehen, An-/Auskleiden und bei der Begleitung zu den Arztbesuchen - die jedoch mangels Wöchentlichkeit nicht zu Buche schlagen - und bei der Übernahme der hauswirtschaftlichen Versorgung bestehe. Soweit durch den Bereich Diabetes mellitus besonderer Hilfebedarf bestehe, sei der hierauf entfallende Pflegeaufwand - wie inzwischen höchstrichterlich geklärt und auch von ihr berücksichtigt - entweder der Behandlungspflege oder dem hauswirtschaftlichen Bereich zuzuordnen, könne jedoch nicht im Rahmen der Zeitansätze für die Grundpflege berücksichtigt werden. Zusammenfassend nahm sie im Bereich der Grundpflege einen Gesamthilfebedarf in Höhe von 153 Minuten und im Rahmen der hauswirtschaftlichen Versorgung von 200 Minuten im Tagesdurchschnitt an.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 15.09.1997 und die zugrunde liegenden Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe III zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, weil das angefochtene Urteil zutreffend sei.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs.2 SGG auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Sozialgericht hat mit Recht die Klage abgewiesen, weil die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegestufe III beim Kläger nicht vorliegen (§§ 36, 37, 14, 15 Abs.1 Nr.3 SGB XI). Nach § 15 Abs.1 Nr.3 SGB XI liegt Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftigkeit) bei Personen vor, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muss nach § 15 Abs.3 Nr.3 SGB XI der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere, nicht als Pflegekraft ausgebildete Person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden betragen. Auf die Grundpflege müssen mindestens vier Stunden entfallen. Dies wird - wie das Sozialgericht gestützt auf die Gutachten des MDK und des Prof.Dr.B. , eingehend und überzeugend dargelegt hat - im Fall des Klägers nicht erreicht. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an und nimmt gemäß § 153 Abs.2 SGG zur Begründung ergänzend auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug.

Die Auffassung des Senats wird zudem bestärkt durch das von ihm eingeholte Gutachten der Sachverständigen Dr.S. , die unter sehr eingehender Würdigung der vorliegenden Problematik einer Mehrfachbehinderung des Klägers und des dadurch erforderlichen erhöhten Betreuungsaufwands im Ergebnis ebenfalls - wie die Vorgutachter - zu dem Ergebnis gelangte, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Pflegestufe III nicht erfüllt sind. Ihr Gutachten ist unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung erstattet worden.

Die Divergenz zwischen den in vorgenannten Gutachten zugrunde gelegten Zeiten und den Angaben der Eltern des Klägers ergibt sich insbesondere daraus, dass Zeiten der Betreuung (z.B. vor allem Begleitung bei gesundheitlich sinnvollen Spaziergängen, Anregungen zu sinnvollen Freizeitbeschäftigungen und dergleichen) von den Eltern bei der Berechnung des notwendigen Pflegeaufwands zugrunde gelegt werden, die aber nach dem SGB XI - wie höchstrichterlich bestätigt - nicht berücksichtigungsfähig sind. Hinzu kommt ein erhöhter Zeitaufwand wegen der Diabetes-Erkrankung des Klägers, die von der Beklagten zutreffend als behandlungspflegerische Maßnahmen angesehen werden und daher nicht bei der Ermittlung des grundpflegerischen Zeitaufwands berücksichtigt werden können. Entgegen der Auffassung der Eltern des Klägers gehören nämlich Insulininjektionen sowie Untersuchungen zur Bestimmung des Blutzuckergehalts nicht zu den in § 14 SGB XI definierten Verrichtungen, sondern zur Behandlungspflege. Diese sind bei der Ermittlung des Pflegebedarfs nur insoweit als Grundpflege zu berücksichtigen, als sie Bestandteil der Verrichtung sind oder im zeitlichen Zusammenhang mit den Katalogverrichtungen erforderlich werden. Dies hat das BSG (vgl. Urteil vom 19.02.1998 - B 3 P/97 R = BSGE 82, S.27) für die vorgenannten Maßnahmen im Rahmen von Diabetes-Kranken verneint und ist dabei dem oben genannten Urteil des SG Hamburg nicht gefolgt.

Nach der derzeitigen Sach- und Rechtslage konnte daher die Berufung des Klägers keinen Erfolg haben, sie ist unbegründet und daher zurückzuweisen gewesen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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