L 13 RA 54/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 11 RA 103/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 13 RA 54/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Frage des Umfangs der Aufklärungs- und Beratungspflicht des Versicherungsträgers gegenüber einem freiwillig Versicherten bei drohendem Verlust der Rentenanwartschaft im Rahmen desr Erteilung einer Beitragsbescheinigung.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 5. März 1998 und der Bescheid der Beklagten vom 15. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1995 abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab November 1994 die gesetzlichen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit und ab 1. Februar 1996 wegen Erwerbsunfähigkeit zu erbringen.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Leistung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am ...1943 in Gleiwitz geborene Kläger lebte bis Juni 1981 in Polen. Er ist deutscher Staatsangehöriger und als Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt. Er hatte in Polen von 1963 bis 68 ein Magisterstudium an der Technischen Hochschule Gleiwitz - Bergbauabteilung - erfolgreich absolviert und mit Diplom abgeschlossen. Von Dezember 1968 bis Juni 1981 erwarb er in Polen Versicherungszeiten; er war als Projektant, Oberbergmann, technischer Oberassistent und ab 1. Mai 1974 als Projektant im Projektbüro des Bergbaus für chemische Rohstoffe tätig. Zuletzt hatte er die Position eines Chef-/Generalprojektanten inne. Nach der Übersiedlung nach Deutschland war er arbeitslos und erhielt Leistungen vom Arbeitsamt bis Dezember 1982.

Im Rahmen eines Kontenklärungsverfahren stellte die Beklagte mit Bescheid vom 30. März 1984 die Versicherungszeiten des Klägers bis Dezember 1982 fest. Auf die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Haushaltbegleitgesetzes 1984 wies sie nicht hin.

Ab 1983 bis 30. September 1986 war der Kläger in Österreich beschäftigt und erwarb bis März 1987 (arbeitslos) Versicherungszeiten. Er bezieht vom österreichischen Versicherungsträger seit Juni 1994 Berufsunfähigkeitspension aufgrund eines Antrags vom 2. Mai 1994.

Ab Dezember 1986 bis Februar 1993 zahlte er freiwillige Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in der Bundesrepublik. Mit Schreiben vom 1. Juli 1988 teilte die Beklagte ihm mit, er sei zur freiwilligen Versicherung berechtigt und informierte ihn über die Art der Beitragsentrichtung; insbesondere wies sie darauf hin, daß die Beitragsentrichtung grundsätzlich bis zum 31. Dezember des Jahres durchzuführen sei, für das die Beiträge gelten sollten. Auf weitere Hinweise zur Beitragsentrichtung in einer Anlage zum Bescheid (Vordruck 6.3476) war Bezug genommen. Bezüglich der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit war im Bescheid nichts vermerkt.

Am 27. Januar 1994 erteilte die Beklagte dem Kläger eine Beitragsbescheinigung für die Monate Januar und Februar 1993. Zusätzliche Hinweise waren nicht enthalten. Ab Dezember 1993 war der Kläger arbeitslos gemeldet; Leistungen erhielt er vom Arbeitsamt nicht.

Am 2. Mai 1994 stellte der Kläger Rentenantrag. Dabei gab er an, er sei von 1. Juli 1988 bis Februar 1993 selbständig gewesen. Ab Februar 1993 sei "wegen Krankheit, daher finanzielle Schwierigkeiten" keine Beitragszahlung erfolgt. Zur Begründung des Rentenantrags nahm er insbesondere auf Entlassungsberichte des Elisabeth Krankenhauses Straubing Bezug.

Die Beklagte veranlaßte eine Begutachtung durch den Chirurgen Dr ... Dieser untersuchte und begutachtete den Kläger am 24. Juni 1994. Er diagnostizierte: Großer Rezidiv-Leisten-Skrotalbruch rechts nach operativer Versorgung 1991, geringe Restbeschwerden nach Gallenblasenoperation, Zustand nach Beckenbeinphlebothrombose links sowie Lungenembolie und geringes Lumbalsyndrom. Der Kläger sei in der Lage, bis mittelschwere Arbeiten ohne Heben und Tragen von Lasten vollschichtig auszuführen. Als Diplomingenieur sei er sicher ganztags einsatzfähig.

Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 15. August 1994 ab, da der Kläger im bisherigen Beruf noch vollschichtig tätig sein könne.

Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein und begründete ihn mit Berichten der Dres ... und ... vom 10. Oktober und 19. Oktober 1994. Die Beklagte betraute die Neurologin und Psychiaterin Dr ... mit der Untersuchung und Begutachtung des Klägers. Nach Untersuchung des Klägers am 22. März 1995 stellte die Nervenärztin beim Kläger eine tiefgreifende reaktive Depression aufgrund schwerwiegender finanzieller Probleme fest, ging aber ebenfalls von einem vollschichtigen Leistungsvermögen auch als Ingenieur aus (Gutachten vom 31. März 1995). Mit Bescheid vom 28. Juli 1995 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, da weder Berufsunfähigkeit noch Erwerbsunfähigkeit vorliege.

Hiergegen erhob der Kläger am 28. August 1995 Klage zum Sozialgericht Landshut und trug vor, er könne als Ingenieur oder in einem ähnlichen Beruf nicht mehr tätig sein. Er übersandte insbesondere Entlassungsberichte des Krankenhauses St. Elisabeth Straubing und Gutachten der Dres ... vom 14. Oktober 1996 und ... vom 18. Juli 1996, die vom Landesgericht Linz im Verfahren auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension eingeholt worden waren.

Der Neurologe und Psychiater Dr ... diagnostizierte ein ausgeprägtes depressives Zustandsbild, dessen Problematik bereits 1994 beschrieben worden sei, das sich seitdem offensichtlich eher progredient entwickelt habe. Der Kläger sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsetzbar; er könne nicht einmal eine 20 Stunden Woche durchhalten. Der beschriebene Zustand bestehe seit mindestens Antragstellung (2. Mai 1994).

Der Unfallchirurg Dr ... stellte eine mäßiggradige Osteochondrose der BWS, Osteochondrose und beginnende Spondylose der LWS, rezidivierende Lumbalgien, eine geringgradige beginnende Coxarthrose beidseits und eine geringgradige Retropatellararthrose fest. Möglich seien noch leichte und teilweise mittelschwere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, wobei jede einzelne Haltung in einem Zeitraum bis zu 1,5 Stunden zumutbar sei.

Die Beklagte teilte unter Übersendung eines Versicherungsverlaufes sowie mit weiterem Schriftsatz vom 11. Juli 1996 mit, daß unter Berücksichtigung der in Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten zwischen 1983 und Mai 1987 die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Leistungsfall bis zum 31. März 1994 (dieser Zeitpunkt ergebe sich aus § 240 Abs 2 SGB VI)erfüllt seien. Der Kläger sei zwar seit Dezember 1993 arbeitslos gemeldet (vgl. Auskunft des Arbeitsamtes vom 15. Februar 1996); diese Zeit erhalte aber nicht die Anwartschaft, da sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung nicht unterbreche.

Das Sozialgericht zog die Akte des Arbeitsamtes Deggendorf und des Amtes für Versorgung und Familienförderung Landshut bei und holte einen Befundbericht des behandelnden Arztes Dr ... vom 19. März 1996 ein, der nur körperliche Befunde mitteilte und eine Besserung seit 1993 bestätigte. Aus den Unterlagen des Arbeitsamtes ist zu ersehen, daß der Kläger bis 30. Juni 1994 eine selbständige Tätigkeit (Vertrieb) ausgeübt hat und auch danach noch von 1. August 1995 bis 31. Januar 1996 freiberuflich im Vertrieb tätig war.

Das Gericht beauftragte die Sozialmedizinerin Dr ... mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage zur Erwerbsfähigkeit des Klägers seit März 1993, das diese am 14. Februar 1997 fertigte. Sie diagnostizierte eine Leistenbruchoperation 1991 und Rezidivoperation 1995, Beschwerden nach Gallenblasenoperation 9/92, eine Magenschleimhautentzündung, eine Adipositas mit Fett- und Harnsäurestoffwechselstörung, einen Leberparenchymschaden, Beschwerden nach Becken-/Beinvenenthrombose mit Lungenembolie 10/92, Wirbelsäulenbeschwerden bei degenerativen Veränderungen sowie eine reaktive Depression. Die Gesundheitstörungen lägen seit einigen Jahren vor. Im Jahr 1991 sei der Kläger kurzfristig arbeitsunfähig gewesen, eine weitere Arbeitsunfähigkeit habe von August 1992 bis Ende 1992 vorgelegen. Körperlich sei eine Besserung im Jahr 1993 eingetreten. Dr ... habe im Juni 1994 den Kläger als sehr angespannt beschrieben. Die erste nervenärztliche Konsultation sei im Oktober 1994 bei Dr ... erfolgt, der ein reaktiv depressives Syndrom feststellte, das von Dr ... bestätigt worden sei. Der Kläger könne leichte bis mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen ganztags ausführen. Die Beklagte äußerte sich zum Gutachten dahin, daß sich in der 2. Jahreshälfte 1994 eine erhebliche depressive Symptomatik entwickelt habe, die wenig beeinflußbar sei. Frühestens ab Oktober 1994 sei der Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit auf Dauer eingetreten. In der vom Sozialgericht eingeholten ergänzenden Stellungnahme vom 4. Juli 1997 hielt die gerichtliche Sachverständige Dr ... fest, es könne eine zeitliche Leistungseinschränkung im Hinblick auf den psychischen Befund begründet werden; eine Rückdatierung auf Mai 1994 sei nicht möglich.

Zur Klärung der Frage, ob der Kläger durch das Arbeitsamt in ausreichendem Maße über die Notwendigkeit des Erhalts der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen aufgeklärt und belehrt worden sei, richtete das Sozialgericht eine Anfrage an das Arbeitsamt. Dieses teilte mit, daß die konkreten Akten nicht mehr vorhanden seien und gab weiter an, daß bei Arbeitslosmeldung geklärt werde, inwiefern ein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung bestehe. Im positiven Fall oder auch bei zweifelhaften Fällen werde ein Leistungsantrag ausgehändigt mit den Vordrucken Arbeitsbescheinigungen und Abmeldeformular sowie ein Merkblatt "Rechte und Pflichten". Sollte kein Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung bestehen, so werde lediglich das Abmeldeformular ausgegeben. Im beigefügten Merkblatt war ausgeführt, daß für die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit eventuell die Zahlung freiwilliger Beiträge zum Rentenversicherungsträger erforderlich sein könne; im Zweifel solle sich der Versicherte an den Rentenversicherungsträger wenden.

Mit Einwilligung der Beteiligten entschied das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung. Es wies mit Urteil vom 5. März 1998 die Klage ab. Es verneinte die Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gemäß §§ 43, 44 Abs 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch - SGB VI - sowie gemäß §§ 240, 241 Abs 2 Satz 1 SGB VI. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wären letztmals für einen am 31. März 1993 eingetretenen Leistungsfall erfüllt gewesen. Aus dem Gutachten der Dr ... ergebe sich aber überzeugend, daß der Leistungsfall frühestens im Oktober 1994 eingetreten sei. Die entscheidenden Leistungseinschränkungen lägen erst im Verlaufe des Jahres 1994 vor. Psychische Störungen seien erstmals im Juni 1994 diagnostiziert worden. Dr ... habe noch im März 1995 ein vollschichtiges Leistungsvermögen angenommen. Auch die im österreichischen Rentenverfahren eingeholten Gutachten unterstützten die Bewertung der gerichtlichen Sachverständigen. Dr ... spreche davon, daß die psychische Problematik 1994 beschrieben worden sei, sich seither aber progredient entwickelt hätte. Jedenfalls im März 1993 sei der Kläger noch vollschichtig in seinem Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einsatzfähig gewesen, so daß Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nicht vorgelegen habe.

Der Kläger könne die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht durch die Zahlung freiwilliger Beiträge für die Zeit ab März 1993 herbeiführen. Die Zahlungsfristen seien abgelaufen (§ 197 Abs 2 SGB VI). Ein Herstellungsanspruch berechtige den Kläger ebenfalls nicht, die Beiträge nachzuzahlen. Aus der Arbeitsamtakte ergebe sich, daß der Kläger die Broschüre für Arbeitslose im Dezember 1993 erhalten habe. Im übrigen habe er selbst vorgetragen, daß er die Zahlung aus finanziellen Gründen eingestellt habe. Ob er dies in Kenntnis der Gefahr, die Anwartschaft zu verlieren, getan habe, sei offen, könne aber dahinstehen, denn der Kläger müsse sich entgegenhalten lassen, daß es ihm obliegen hätte, sich bei einer so wichtigen Frage wie der Beendigung der Beitragszahlung vom Rentenversicherungsträger beraten zulassen.

Der Kläger legte am 14. April 1998 Berufung ein und begründete dies damit, daß Erwerbsunfähigkeit bereits vor 1. April 1994 vorgelegen habe mit der Folge, daß die Voraussetzungen der §§ 240, 241 SGB VI erfüllt seien.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 5. März 1998 und den Bescheid der Beklagten vom 15. August 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1995 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. November 1994 Rente wegen Berufsunfähigkeit und ab 1. Februar 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte stellt den Antrag,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verneint weiterhin den Eintritt des Leistungsfalles bis spätestens März 1994. Zur Frage des Herstellungsanspruchs unter Berücksichtigung der Beitragsbescheinigung vom 27. Januar 1994 trägt sie vor, sie sei im Hinblick auf die Aushändigung der Broschüre durch das Arbeitsamt im Dezember 1993 und die eigenen Kenntnisse des Klägers zu einer Belehrung in der Be- scheinigung nicht verpflichtet gewesen. Der Kläger habe nicht bestritten, daß er die Notwendigkeit der Entrichtung der freiwilligen Beiträge für die Anwartschaft für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit gekannt habe. Selbst wenn eine Pflichtverletzung vorliege, sei sie nicht ursächlich gewesen, da der Kläger aus finanziellen Gründen die Zahlung eingestellt habe.

Zur Ergänzung des Sachverhaltes wird auf die beigezogenen Ak- ten der Beklagten und des Sozialgericht Landshut sowie die Akte des Bayer. Landessozialgericht Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die ohne Zulassung statthafte Berufung, die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegt wurde, ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat zuunrecht einen Anspruch auf Rente verneint. Denn der Kläger hat die Wartezeit von 5 Jahren erfüllt (§ 50 Abs 1 SGB VI) und ist seit Oktober 1994 als berufsunfähig und seit Januar 1996 als erwerbsunfähig nach §§ 43, 44 SGB VI anzusehen. Entgegen der Ansicht des Sozialgericht und der Beklagten sind auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß §§ 240, 241 Abs 2 S. 1 und 2 SGB VI erfüllt. Der Kläger hat demnach Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit ab November 1994 und wegen Erwerbsunfähigkeit ab Februar 1996 (§ 99 Abs 1 SGB VI).

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind erfüllt, wenn I. der Leistungsfall spätestens im Jahr 1984 eingetreten ist (§ 240 Abs 2 SGB VI),

II. die Zeit ab 1. Januar 1984 bis zum etwaigen Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten voll belegt ist oder noch belegbar wäre (§ 240 Abs 2 SGB VI),

III. die letzten 5 Jahren vor Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 3 Jahren Pflichtbeitragszeiten belegt sind.

Die anderen in §§ 43, 44, 240, 241 SGB VI genannten Varianten kommen nicht in Betracht. Die Voraussetzungen der Ziffern I. und III. sind eindeutig nicht erfüllt; der Anspruch des Klägers gründet sich auf die Voraussetzungen der Ziffer II.

Der Leistungsfall der medizinischen Erwerbsunfähigkeit ist im Oktober 1994 eingetreten. Dies steht fest aufgrund des Gutachtens des Dr ... und der ergänzenden Stellungnahme der Dr ... sowie des Berichtes des Dr ... vom 19. Oktober 1994.

Die entscheidende Leistungseinbuße wird beim Kläger durch ein ausgeprägtes depressives Syndrom verursacht; alle anderen Befunde stehen im Hintergrund. Bei der Untersuchung durch Dr ... machte der Kläger von der Körpersprache und vom Gesamteindruck her einen erheblichen depressiven Eindruck. Die Modulationsfähigkeit und die Aufhellbarkeit war praktisch aufgehoben. Der Kläger befand sich über weite Strecken der Untersuchung an der Grenze zum Weinen, auch wenn er versuchte, "Haltung zu bewahren". Wie bereits bei der Untersuchung durch Dr ... war er verzweifelt und bemühte sich, gefasst zu bleiben. Die Feststellung des Dr ..., dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht einsetzbar sei und nicht einmal eine 20 Stundenwoche durchhalten könne, erscheint bei dem erhobenen Befund als zutreffend. Die Beurteilung ist im Hinblick auf das ausgeprägte depressive Zustandsbild als schlüssig anzusehen. Für ihre Richtigkeit spricht zudem, dass auch Dr ... in der ergänzenden Stellungnahme vom 4. Juli 1997 ausführt, im Hinblick auf den psychischen Befund könne eine zeitliche Leistungseinschränkung begründet werden. Dass ab Oktober 1994 eine wesentliche Leistungseinschränkung vorliegt, wird auch von der Beklagten angenommen. Insoweit wie auch darüber, daß es sich um einen Dauerzustand im Rechtssinne handelt, da eine wesentliche Aussicht auf Besserung nicht vorliegt, besteht im wesentlichen Einigkeit.

Streitig ist, ab wann die Einschränkung eingetreten ist. Unter Abwägung der vorliegenden Berichte und Gutachten ist für einen Zeitpunkt des Leistungsfalles vor Oktober 1994 kein Raum.

Für eine zeitliche Einschränkung bereits im Mai 1994 spricht allerdings die Beurteilung des Dr ..., der ausführt, die angenommene Minderung liege zumindest seit Antrag vor. Auch daß bereits Dr ... im Juni 1994 eine psychische Störung feststellte, spricht für eine frühere Leistungsminderung. Dem entgegen steht aber, daß der Kläger erstmals im Oktober 1994 nervenärztlich behandelt wurde und daß Dr ... noch im März 1995 trotz tiefgreifender Depression ein vollschichtiges Leistungsvermögen annahm. Berücksichtigt man zudem, daß auch Dr ... von einer Progredienz des Leidens spricht, so ist eine frühere Leistungseinschränkung als ab Oktober 1994 nicht mit genügender Sicherheit festzustellen.

Dass der Kläger nach Oktober 1994 - und zwar von August 1995 bis Januar 1996 -, wie sich der Arbeitsamtsakt entnehmen lässt, noch versuchte, freiberuflich im Vertrieb tätig zu sein, steht der entscheidenden Leistungseinschränkung ab Oktober 1994 nicht entgegen. Denn wegen der schwierigen finanziellen Situation war der Kläger in besonderem Maße bemüht, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, auch wenn dies seiner gesundheitlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr entsprach. Hinzukommt, dass es sich um eine Tätigkeit auf Provisionsbasis handelte, die nur geringen Umfang hatte. Wegen des geringen Einkommens war der Kläger laut Vermerk des Arbeitsamt sogar interessiert, weitere Produkte zu übernehmen, was aber nicht gelang. Es handelte sich insgesamt nicht um eine regelmäßige, volle Erwerbstätigkeit, sondern um den Versuch im Erwerbsleben wieder Fuß zu fassen. Diese Betätigung steht der Richtigkeit der medizinischen Beurteilung nicht entgegen.

Ausgehend vom festgestellten Leistungsvermögen ist der Kläger seit Oktober 1994 als berufsunfähig nach § 43 Abs 2 SGB VI anzusehen. Der Annahme von Erwerbsunfähigkeit steht bis zur Auf- gabe der freiberuflichen Tätigkeit im Januar 1996 die Regelung des § 44 Abs 2 Satz 2 Nr. 1 SGB VI entgegen, wonach nicht erwerbsunfähig ist, wer eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, wobei der Umfang unerheblich ist.

Für diese Leistungsfälle liegen die Voraussetzungen des § 240 Abs 2 S. 1 und 2 SGB VI im Zusammenhang mit einem sog. Herstellungsanspruch vor. Die Zeit von 1. Januar 1984 bis Februar 1993 ist lückenlos mit Anwartschaftserhaltungszeiten (deutschen und österreichischen) und freiwilligen Beiträgen belegt. Dies reicht aber nicht aus, da diese Belegung bis zum Monat vor Eintritt des Leistungsfalles gegeben sein müßte. Der Anspruch des Klägers besteht aber dennoch, da er im Wege des Herstellungsanspruchs berechtigt ist, diese Monate noch mit Beiträgen zu belegen. Wegen der Regelung des § 240 Abs 2 S. 2 SGB VI ist dabei die Zahlung der Beiträge nicht erforderlich (BSG SozR 3-2600 § 240 Nr.1).

Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist der Versicherungsträger im Rahmen des sog. Herstellungsanspruchs verpflichtet, dem Versicherten Auskünfte zu erteilen, ihn zu belehren und "verständnisvoll zu fördern" (SozR 3-1200 § 14 Nr 16 mwN). Der Versicherungsträger ist gehalten, auch wenn ein Beratungsbegehren nicht vorliegt, den Versicherten bei Vorliegen eines konkreten Anlasses von sich aus spontan auf klar zu tage liegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen.

Ein solcher Anlaß war im Falle des Klägers die Erteilung der Beitragsbescheinigung im Januar 1994. Zu diesem Zeitpunkt war die Entrichtung von freiwilligen Beiträgen für 1993 noch möglich bis März 1994 und es drohte konkret die Gefahr des Verlustes der Rentenanwartschaft bei Nicht-Zahlung. Der Einwand, der Kläger habe gewußt, daß die Beiträge zu leisten seien, beseitigt die Verplichtung der Beklagten zur Aufklärung und Beratung nicht. Gerade bei Verlust der Anwartschaft ist der Versicherungsträger zu erhöhten Anstrengungen verpflichtet (SozR 3-1200 § 14 Nr. 6), auch wenn dem Versicherten grundsätzlich die Verpflichtung bekannt war. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß in der konkreten Situation die Aushändigung eines Merkblattes durch das Arbeitsamt nicht genügte, zumal zur persönlichen Problemstellung nichts entnommen werden konnte.

Von Bedeutung ist bei Prüfung der Anforderungen an den Umfang der Beratungspflicht ausserdem, daß die Beklagte den Kläger seit 1984 nie auf die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hingewiesen hat, obwohl mehrmals Bedarf und Gelegenheit bestanden hätte. Insbesondere aber ist entscheidend, dass der Kläger nie über die Frist des § 197 Abs 2 SGB VI informiert wurde. Gerade darauf kam es aber im Januar 1994 an. Denn während der Kläger bis zum Inkrafttreten des SGB VI die freiwilligen Beiträge bis zum Ende des Kalenderjahres, für das sie gelten sollten, zu zahlen hatte, ist nach der Regelung des § 197 Abs 2 SGB VI die Zahlung der Beiträge noch bis zum 31. März des folgenden Jahres zulässig. Dass dem Kläger im Januar 1994 klar war, dass er die Beiträge trotz Ablauf des Jahres noch zahlen konnte, ist nicht zu ersehen.

Die fehlende Kausalität der nicht ausreichenden Beratung (SozR 3-1200 § 14 Nr. 22) kann dem Kläger ebenfalls nicht entgegen gehalten werden. Denn es ist anzunehmen, daß er bei konkretem Hinweis und "Warnung" sich das Geld beschafft hätte, zumal er von seiner Mutter und deren Freundin unterstützt wurde. Dabei ist zu erwähnen, dass auch ein Hinweis der Beklagten darauf hin fehlte, dass es für die Erhaltung der Anwartschaft ausreiche, wenn die Mindestbeiträge geleistet würden. Dieser Betrag wäre leichter als der vom Kläger gezahlte höhere Beitrag zu beschaffen gewesen.

Insgesamt gesehen ist die Beklagte spätestens in der konkreten Situation der Übersendung der Beitragsbescheinigung für 1993 ihrer Beratungspflicht nicht nachgekommen, obwohl ein Anlass dafür bestanden hat. Die Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs liegen vor und damit die versicherungsrechtlichen für die Rente wegen Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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