L 19 RJ 187/96

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 Ar 656/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 187/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.02.1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die am 1951 geborene Klägerin ist 1970 aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland zugezogen. Sie hat keine Berufsausbildung absolviert und war als Lederschneiderin, Montiererin, Prüferin und Bandarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 03.02.1992 besteht Arbeitsunfähigkeit bzw Arbeitslosigkeit. Am 24.11.1993 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Berufs- (BU) bzw Erwerbsunfähigkeit (EU). Die Beklagte ließ sie untersuchen durch den Chirurgen Dr.P. und den Internisten Dr.M ... Diese hielten die Klägerin für fähig, leichte Arbeiten im Wechselrhythmus vollschichtig zu verrichten, mittelschwere Arbeiten nur im Umfang von halb- bis untervollschichtig. Als Diagnosen waren genannt: Periarthropathie humeroscapularis beidseits, links ausgeprägter als rechts; Wirbelsäulensyndrom durch statisch-myalgische Beschwerden; Cholezystolithiasis; Blindheit linkes Auge (anamnestisch). Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 09.03.1994 ab, weil die Klägerin weder berufs- noch erwerbsunfähig sei. Der dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos; die Beklagte erteilte den Widerspruchsbescheid vom 25.08.1994.

Dagegen hat die Klägerin am 20.09.1994 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und die Ansicht vertreten, dass sie wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der damit verbundenen Schmerzen keinesfalls mehr in Vollschicht leistungsfähig sei. Das Gericht hat Befundberichte über die Klägerin beigezogen von dem Nervenarzt Dr.S. , dem Orthopäden Dr.H. , dem Frauenarzt Dr.R. und dem Augenarzt Dr.Z ... Auf Veranlassung des Gerichts hat der Nervenarzt Dr.M. das Gutachten vom 27.06.1995 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet (mit Auswertung eines Computertomogramms des Schädels, elektrophysiologischer und elektroencephalographischer Zusatzgutachten). Der Sachverständige verwies darauf, dass zwischen den erhobenen organischen Befunden und der Intensität der geklagten Beschwerden eine erhebliche Diskrepanz bestehe. Es sei die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung bei hypochondrisch-depressiver Persönlichkeitsstruktur zu stellen; eine depressive Erkrankung im eigentlichen Sinn sei aber nicht festzustellen. Der Klägerin sei noch eine vollschichtige Arbeit durchaus zuzumuten, was für leichte Tätigkeiten mit der Möglichkeit zum Wechsel der Körperhaltung gelte. Nicht abverlangt werden könnten Tätigkeiten, die ein unbeeinträchtigtes Sehvermögen beidseits voraussetzten und die eine rasche geistige Umstellung und entsprechendes Anpassungsvermögen verlangten. Auf Antrag der Klägerin hat Dr.O. das Gutachten vom 16.11.1995 erstattet und ausgeführt, er stimme den von Dr.M. festgestellten Diagnosen grundsätzlich zu. Er halte jedoch die Klägerin seit Februar 1995 nicht mehr für fähig, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit nachzugehen; zu diesem Zeitpunkt sei eine obstruktive Bronchitis festgestellt worden, die häufigere Arbeitspausen notwendig machte. Es liege auch eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Handgelenks vor. Im Übrigen seien der Klägerin Anmarschwege zur Arbeitsstätte zu Fuß von mehr als 500 Metern nicht mehr zumutbar; die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei durch die ausgeprägte psychosomatische Störung in Frage gestellt. Die Beklagte hat zu diesem Gutachten Stellung genommen durch Dr.R. , der insbesondere ausgeführt hat, dass es sich allenfalls um eine geringgradige Lungenfunktionsstörung handeln könne; die angenommene Einschränkung der Wegefähigkeit sei nicht nachzuvollziehen. Das SG hat schließlich Dr.H. zum ärztlichen Sachverständigen bestellt, der vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung ein weiteres Gutachten erstellt hat. Er hat sich der Beurteilung von Dr.M. vollinhaltlich angeschlossen. Mit Urteil vom 28.02.1996 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei in voller Breite auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar und könne trotz der bei ihr bestehenden Krankheiten und Behinderungen noch körperlich leichte Tätigkeiten, wenn auch mit qualitativen Einschränkungen, ganztätig verrichten. Es hätten sich insbesondere keinerlei Hinweise für eine chronisch anhaltende obstruktive Bronchitis mit Herzschädigung ergeben. Dr.H. habe auch im Bereich des rechten Handgelenkes keine wesentliche Funktionseinschränkung feststellen können.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 04.04.1996 beim SG Nürnberg eingegangene Berufung der Klägerin. Diese rügt mangelnde Sachaufklärung durch das Erstgericht und hält weitere Begutachtung für erforderlich; sie hat dazu vier ärztliche Atteste vorgelegt. Weitere Atteste des Dr.H. vom 09.09.1996 und des Dr.v.L. vom 02.09.1996 enthalten den gleichlautenden Text, dass eine "BU- bzw EU-Rente befürwortet" werde. Vom 13.01. bis 03.02.1998 hat die Klägerin an einer stationären Reha-Maßnahme in Bad Soden-Salmünster teilgenommen. Der Senat hat Befundberichte eingeholt von der Allgemeinärztin Dr.S. , dem Orthopäden Dr.H. , dem Internisten Dr.N. , sowie Berichte der Augenärzte Dr.Z. und Dr. H ... Der Internist und Arbeitsmediziner Dr.K. hat das Gutachten vom 13.12.1999 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet. Er nannte als Diagnosen: 1. Wirbelsäulensyndrom bei röntgenologisch nachgewiesenen Verschleißerscheinungen ohne dauerhaft höhergradige Funktionseinschränkungen sowie ohne anhaltende Wurzelreizerscheinungen, 2. beginnender Verschleiß der Hüftgelenke, Gonarthrose beidseits, beiderseitiger Fersensporn, 3. funktionelle Einäugigkeit, 4. Neigung zu Atemwegsbeschwerden, 5. Gallen- und Nierensteine, leichtgradige Harninkontinenz, 6. Fettleibigkeit, Fettstoffwechselstörung, 7. somatoforme Schmerzstörung bei hypochondrischer Persönlichkeitsstruktur. Die Klägerin könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten vollschichtig und mittelschwere bis unterhalbschichtig verrichten. Betriebsunübliche Pausen seien nicht erforderlich, Anmarschwege zur Arbeitsstätte von mehr als 500 Metern könne die Klägerin viermal täglich jeweils binnen 20 Minuten zurücklegen; sie könne auch öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Unter diesen Gegebenheiten könne sie beispielsweise auch als Montiererin in der industriellen Fertigung arbeiten (möglichst nicht taktgebunden). Die Augenärztin Dr.J. L. hat das weitere Gutachten vom 13.03.2000 erstattet. Die Klägerin könne leichte bis mittelschwere Arbeiten von seiten der Augen verrichten, und zwar in Vollschicht. Es erscheinen alle Arbeiten zumutbar, die ein durchschnittliches Sehvermögen voraussetzen und auch für Einäugige möglich sind. Auch die zuletzt ausgeübte Beschäftigung als Montagearbeiterin in der Industrie müsste noch möglich sein. Auf weitere Anforderung des Senats hat schließlich der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. das Gutachten vom 09.05.2001 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstellt. Er hat bei der Klägerin keine endogenen psychotischen formalen oder inhaltlichen Denk- oder Wahrnehmungsstörungen festgestellt. Leichte Arbeiten mit den bereits von arbeitsmedizinischer Seite zugebilligten Einschränkungen seien ihr weiterhin vollschichtig zumutbar. Die Arbeiten sollten möglichst im Wechselrhythmus erfolgen oder überwiegend im Sitzen. Feinmotorische Arbeiten könnten nicht verrichtet werden, ebenso wenig Arbeiten, die außergewöhnliche Konzentration oder Reaktionsvermögen erfordern, die im Akkordtakt geleistet werden oder solche in Nachtschicht. Die Leistungsmotivation der Klägerin sei entsprechend ihrer subjektiven Einschätzung chronisch deutlich herabgesetzt. Die psychogene Störung überzeuge aber nicht in dem Sinne einer unüberwindbaren bzw unverrückbar chronifizierten Störung. In der mündlichen Verhandlung am 18.07.2001 hat der Bevollmächtigte der Klägerin den Schriftsatz vom selben Tage mit sieben ärztlichen Berichten übergeben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des SG Nürnberg vom 28.02.1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 09.03.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.08.1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 01.11.1993 Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren. Hilfsweise stellt sie den Antrag aus dem Schriftsatz vom 18.07.2001, den berufskundlichen Sachverhalt weiter aufzuklären.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten, die Prozessakte des SG Nürnberg, eine Reha-Akte des Arbeitsamtes Nürnberg sowie die Akte aus dem Schwerbehinderten-Verfahren (Az SG Nürnberg S 11 Vs 344/93) vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin Rente wegen BU oder EU iSd §§ 43, 44 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht zusteht. Dieses vom SG gefundene Ergebnis ist durch die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren in vollem Umfang bestätigt worden. Die Klägerin wurde während des Berufungsverfahrens durch den Arbeitsmediziner Dr.K. , die Augenärztin Dr.L. und den Nervenarzt Dr.W. untersucht und begutachtet. Insbesondere Dr.W. hat herausgestellt, dass bei der Klägerin zwar ein anhaltender psychogener Versagenszustand mit Somatisierungsstörung besteht, der sie aber dennoch nicht hindert, noch einer Erwerbstätigkeit in Vollschicht nachzugehen. Er hält die psychogene Störung nicht für unüberwindbar und auch nicht für unverrückbar chronifiziert. Die Beschwerdeausgestaltung der Klägerin war bei Dr.W. zum großen Teil bewusstseinsnah. Die überwindung der psychogenen Abwehr einer Wiederbelastung mit Berufstätigkeiten ist ihr aus nervenärztlicher Sicht zuzumuten, wie Dr.W. betont hat. Hinderungsgründe dafür finden sich weder aus hirnorganischer Betrachtungsweise, noch sind diese psychodynamisch zu vertreten. Das selbstständige Denken und Handeln der Klägerin wie auch das Urteilsvermögen sind nicht eingeschränkt. Dies bedeutet auch zur Überzeugung des Senats, dass der Klägerin leichte Frauenarbeiten noch zumutbar sind, und zwar in Ganztagsarbeit. Zwar unterliegt die Klägerin einer Reihe qualitativer Einschränkungen: Sie soll keine feinmotorischen Arbeiten verrichten, keine solchen mit der Notwendigkeit räumlichen Sehvermögens, keine Arbeiten, welche außergewöhnliche Konzentration oder Reaktionsvermögen erfordern, keine Arbeiten in Akkord oder in Nachtschicht. Geeignet ist sie aber noch für alle einfachen Frauenarbeiten ohne besondere feinmechanische Erfordernisse, welche im Wechselrhythmus oder überwiegend im Sitzen verrichtet werden können. Dr.K. hat hierzu eine Reihe von Tätigkeiten in der industriellen Fertigung angesprochen. Nach Auffassung des Senats bedarf es jedoch nicht der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit. Der Klägerin ist der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht durch eine gravierende Einzelbehinderung oder eine Summierung qualitativer Einsatzbeschränkungen in außergewöhnlicher Weise erschwert. Die arbeitsmedizinisch begründeten (und von der Klägerin im Schriftsatz vom 18.07.2001 besonders erwähnten) Einsatzbeschränkungen - für Arbeiten ohne besondere feinmechanische Erfordernisse, ohne außergewöhnliche Umwelteinflüsse und ohne die Notwendigkeit räumlichen Sehvermögens - eröffnen der Klägerin noch den Zugang zu einer Vielzahl von Berufszweigen und Erwerbstätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Außer den von Dr.K. wie auch von der Augenärztin Dr.L. genannten Montagearbeiten in der industriellen Fertigung ist hier auch an Einsatzbereiche im Pforten- und/oder Telefondienst sowie an Hilfstätigkeiten im Büro zu denken. In all diesen Bereichen gibt es - wie allgemein bekannt - Erwerbstätigkeiten in hinreichender Zahl, die den o.g. qualitativen Einschränkungen gerecht werden. Der Einholung einer berufskundlichen Stellungnahme der Arbeitsverwaltung bedurfte es diesbezüglich nicht. Ebenso wenig gaben die von der Klägerin am 18.07.2001 vorgelegten sieben ärztlichen Bescheinigungen (von Dr.H. , Dr.H. , Dr.von L. , Dr.S. , Dr.S. , Dr.W. und Dr.K.) Anlass für weitere medizinische Ermittlungen, da keine Befunde mitgeteilt wurden, die in den vorgenannten Gutachten nicht bereits berücksichtigt sind.

Aufgrund ihres vollschichtigen Einsatzvermögens erfüllt die Klägerin auch nicht die Voraussetzungen des durch Art 1 Nr 19 des Rentenreformgesetzes 1999 neu gefassten und durch Art 1 Nr 10 des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 - BGBl I 1827 - geänderten, am 01.01.2001 in Kraft getretenen § 43 SGB VI. Nach dessen Abs 1 hat bis zur Vollendung des 65.Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wer (neben weiteren Leistungsvoraussetzungen) wegen Krankheit oder Behinderung außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein. Eine quantitative Einschränkung der betriebsüblichen Arbeitszeit von täglich ca acht Stunden liegt jedoch - wie bereits ausgeführt wurde - bei der Klägerin nicht vor.

Die Berufung der Klägerin musste daher zurückgewiesen werden.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten, § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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