L 20 RJ 240/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 Ar 547/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 240/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Anspruch auf Waisenrente besteht auch für Zeiten unvermeidbarer Zwangspausen während der Ausbildung, deren staatliche bzw. gesellschaftliche Organisation einen "nahtlosen" Übergang zwischen einzelnen Ausbildungsabschnitten generell oder typischerweise ausschließt.
2. In diesem Sinne stellt es für die Waise keine "unvermeidbare Zwangspause" dar, wenn zwischen dem selbstbestimmten (durch individuelle Umstände begründeten) Abbruch einer Lehre und dem Beginn eines neuen Ausbildungsverhältnisses (für einen anderen Beruf) ausbildungsfreie Übergangszeiten entstehen.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 09.01.1997 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Halbwaisenrente für die Monate Juni bis einschließlich August 1992.

Der am ...1974 geborene Kläger ist der Sohn des bei der Beklagten versichert gewesenen ..., der am ...1942 geboren war und am 23.03.1992 verstorben ist. Der Kläger hatte am 01.09.1989 eine Bäckerlehre begonnen, die Ausbildung jedoch im Mai 1992 abgebrochen. Die am 01.09.1992 begonnene Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker wurde am 30.11.1992 durch Kündigung seitens des Arbeitgebers beendet.

Mit Bescheid vom 18.02.1994 gewährte die Beklagte dem Kläger Halbwaisenrente für die Zeit vom 23.03.1992 bis 31.05.1992 und mit Bescheid vom 21.02.1994 für die Zeit vom 01.09. bis 30.11.1992. Im anschließenden Widerspruchsverfahren begehrte der Kläger die Halbwaisenrente auch für die Monate Juni bis einschließlich Ausgust 1992. Dies lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.07.1994 (zur Post gegeben am 05.08.1994) ab.

Die dagegen am 30.08.1994 beim Sozialgericht (SG) Würzburg erhobene Klage stützte der Kläger auf mehrere Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) und die Rechtsauffassung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 09.01.1997 abgewiesen: Das BSG habe die Anspruchsvoraussetzungen für Waisenrenten nur auf unvermeidbare Überbrückungszeiten (bis zu drei Monaten) ausgedehnt. Auch wenn man zu Gunsten des Klägers unterstelle, daß er die Ausbildung als Kfz-Mechaniker nicht vor September 1992 habe beginnen können, während der gesamten Zeit ausbildungswillig gewesen und das zweite Ausbildungsverhältnis vom Arbeitgeber gekündigt worden sei, handele es sich bei dem strittigen Zeitraum nicht um eine unvermeidbare Überbrückungszeit. Es wäre dem Kläger zuzumuten gewesen, die erste (ungeliebte) Ausbildung solange fortzusetzen, bis er eine konkrete Ausbildungsperspektive zur Fortsetzung der von ihm angestrebten Ausbildung gefunden hätte. Entgegen seinem Vorbringen seien die Chancen, einen neuen Ausbildungsplatz zu erhalten, für Bewerber, die an einem nicht ihren Neigungen entsprechenden Arbeitsplatz durchhielten, sogar günstiger. Auch der vom BSG dargelegte Schutzgedanke führe zu keinem anderen Ergebnis; denn der Kläger habe im Gegensatz zu einem Schulabgänger Anspruch auf anteiligen Erholungsurlaub gehabt. Außerdem hätte ihm bei Abbruch des Ausbildungsverhältnisses im Mai 1992 zugemutet werden können, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, zumal er die Dauer der Übergangszeit bis zum Beginn der neuen Ausbildung noch nicht habe abschätzen können.

Gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem am 11.03.1997 zugestellten Urteil hat der Kläger am 18.03.1997 Beschwerde eingelegt. Das SG hat dieser Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch Beschluss vom 25.03.1997 abgeholfen.

Zur Begründung der Berufung ließ der Kläger im wesentlichen vortragen, es sei unzumutbar, bei einer unvermeidbaren kurzfristigen Lücke jede nur denkbare Berufstätigkeit ausüben zu müssen. Er habe die erste Ausbildung am 09.05.1992 beendet, um sich intensiv der Suche nach einem neuen Ausbildungsplatz widmen zu können. Bei Fortsetzung der Bäckerlehre hätte er dies - da die Ausbildungsplätze größtenteils bereits vergeben gewesen seien - nicht so intensiv und erfolgreich vermocht. Im übrigen habe man die Übergangszeit bereits im Mai abschätzen können, da "berufsschulorganisatorisch" abzusehen gewesen sei, daß das neue Ausbildungsverhältnis erst am 01.09.1992 beginnen werde. Ohne Bedeutung sei auch, daß er die Bäckerlehre abgebrochen habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des SG Würzburg vom 09.01.1997 aufzuheben, den Bescheid vom 21.02.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.07.1994 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Halbwaisenrente für die Zeit vom 01.06 bis 31.08.1992 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des SG Würzburg vom 09.01.1997 zurückzuweisen.

Ergänzend stützt sie ihre Auffassung auf das Urteil des BSG vom 27.02.1997 - 4 RA 5/96 -.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die Vorprozeßakte des SG Würzburg S 10 Ar 548/94 Ko sowie die Beklagtenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Nach erfolgreicher Beschwerde ist das Beschwerdeverfahren als Berufungsverfahren fortzusetzen, ohne daß es der Einlegung einer Berufung bedarf (§ 145 Abs.5 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Der Senat ist an die Zulassung der Berufung gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Das SG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß die Ablehnung der Halbwaisenrente für die Monate Juni bis einschließlich August 1992 durch die Beklagte rechtmäßig ist.

Nach § 48 Abs. 4 Nr. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) erhalten nach dem Tode des Versicherten seine Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente; diese wird längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein Kind gewährt, das sich u.a. in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Da der Kläger während des streitigen Zeitraums keine Berufs- oder Schulausbildung erhalten hat (und keinen gleichgestellten Verlängerungstatbestand erfüllt), könnte ihm der geltend gemachte Anspruch nur zustehen, wenn es sich bei der fraglichen Zeit um eine noch der Ausbildung zuzurechnende Zwischenzeit, eine sogenannte unvermeidbare Zwangspause, gehandelt hätte. Das ist aber nicht der Fall:

Die Rechtsprechung hat den Tatbestand der Schul- und Berufsausbildung wegen des regelmäßig nicht mehr nahtlosen Übergangs zwischen zwei Ausbildungsabschnitten im Wege der ausdehnenden Auslegung auf organisationsbedingt typische Unterbrechungen der Ausbildung, vor allem auf eine deswegen nicht vermeidbare Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten erstreckt. Das gilt insbesondere - aber nicht nur - für Zwangspausen zwischen Abitur und nächstmöglichem Beginn eines Hochschulstudiums. Soweit die staatliche bzw. gesellschaftliche Organisation der verschiedenen Ausbildungsgänge einen zeitlich "nahtlosen" Übergang von einem Ausbildungsabschnitt zum nächsten nicht von vornherein und für jeden Ausbildungswilligen zuläßt, wird diese objektiv für jeden unvermeidbare Zwangspause der Ausbildung zugeordnet und damit den Betroffenen nicht angelastet, daß sie aufgrund von Umständen, für die kein Ausbildungswilliger verantwortlich ist, ihre Ausbildung nicht gleich fortsetzen können. Daher lassen diese Zwangspausen das Recht auf Waisenrente - unter bestimmten weiteren Voraussetzungen - für die Dauer von bis zu 4 Monaten unberührt (vgl. hierzu BSG SozR 3-2200 § 1267 Nr. 1). Ausgehend vom Leitbild einer einheitlichen, notwendig zusammenhängenden Schul- und Hochschulausbildung ist die unvermeidliche Zwischenzeit den zur Schul- und Hochschulausbildung gehörenden Schul- und Semesterferien gleich behandelt worden. Vom BSG wurde damit zugleich der anderweitig gesetzlich vorgegebene Zeitrahmen für derartige Zwangspausen (nach § 2 Abs. 2 Satz 4 später Satz 5 Bundeskindergeldgesetz - BKGG - a.F. bzw. § 2 Abs.2 BKGG n.F.) durch analoge Anwendung dieser Vorschriften in das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung übernommen. Dadurch wurde auch deutlich, daß die Versichertengemeinschaft nicht für jede Ausbildungsunterbrechung (durch Weiterzahlung der Waisenrente) einzustehen hat; das betrifft insbesondere "Zwischenzeiten", die sich im Einzelfall - wie beim Kläger - aufgrund der Entwicklung des individuellen Ausbildungsgeschehens ergeben, dagegen nicht solche, die generell unvermeidbar oder organisationsbedingt typisch sind und dementsprechend häufig vorkommen (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1267 Nr. 3 m. w. N.). Infolgedessen bleiben die jeweiligen individuellen Verhältnisse im Ausbildungsgang der einzelnen Waise unberücksichtigt (vgl. das von der Beklagten zitierte - soweit ersichtlich unveröffentlichte - Urteil des BSG vom 27.02.1997 - 4 RA 5/96 - unter Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1259 Nr. 81 und SozR 3-2200 § 1267 Nrn. 1 und 3).

Diese Rechtsprechung hat das BSG mit weiterem Urteil vom 27.02.1997 - 4 RA 21/96 - SozR 3-2600 § 48 Nr. 1) weiterentwickelt und einen Anspruch auf Waisenrente bei wehr- oder ersatzdienstbedingter Zwangspause für die Dauer von 4 Monaten auch dann anerkannt, wenn für den Berufsausbildungswilligen bei Entlassung aus dem Dienst feststeht, daß er seine Ausbildung erst nach mehr als 4 Monaten aufnehmen und fortsetzen kann. In diesem Urteil hat das BSG erneut darauf hingewiesen, daß nicht jede Ausbildungspause noch zur Ausbildung gehört, sondern nur diejenige, für die einzustehen der Versichertengemeinschaft zumutbar ist. Gemeint sind dabei nur die objektiv für jeden Betroffenen - unabhängig von den in seinem jeweiligen Lebensbereich liegenden Umständen - unvermeidbaren Zwangspausen, die sich daraus ergeben, daß die staatliche bzw. gesellschaftliche Organisation von Ausbildungsgängen und -abschnitten einen zeitlich "nahtlosen" Übergang zwischen diesen von vornherein und für alle Ausbildungswilligen nicht zuläßt. Wird "Ausbildung" für eine Zwischenzeit organisationsbedingt typischerweise bzw. generell nicht angeboten, ist dies den Waisen nicht anzulasten. Zu berücksichtigen sind daher nicht sämtliche individuell "unverschuldeten", sondern nur generell unvermeidbare Zwangspausen, die der Ausbildungsorganisation eigentümlich und für sie typisch sind und im wesentlichen auf (abstrakten) ausbildungsorganisatorischen Maßnahmen der Ausbildungsträger beruhen.

Im strittigen Zeitraum von Juni bis einschließlich August 1992 mußte der Kläger keine unvermeidbare Zwangspause im vorstehend erläuterten Sinne hinnehmen. Er hat die Bäckerlehre im Mai 1992 ohne Abschluß abgebrochen und sich um eine neue Lehrstelle als Kfz-Mechaniker bemüht, die er erst zum 01.09.1992 antreten konnte. Dies alles sind ausschließlich individuelle, personenbezogene Gründe; eine Zwangspause, in welcher aufgrund der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Organisation der Schul- oder Berufsausbildung die Ausbildung für jedermann unvermeidbar unterbrochen gewesen wäre, gab es hingegen nicht.

Da dem Kläger mithin kein Recht auf Halbwaisenrente für den obengenannten Zeitraum zustand, war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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