L 20 RJ 312/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 17 Ar 58/93
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 312/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 03.08.1993 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am ...1940 geborene Kläger hat nach seinen Angaben von 1954 bis 1957 den Beruf als Steinmetz und Schrifthauer erlernt, die vorgesehene Abschlussprüfung aber nicht bestanden. Anschließend war er bis 1982 mit Unterbrechungen als Bauhelfer und in verschiedenen anderen Berufen versicherungspflichtig beschäftigt. Daran anschließend sind Zeiten der Arbeitslosigkeit bis zum 23.04.1987 im Versicherungsverlauf gespeichert. Vom 24.07.1987 bis 24.07.1988 und vom 07.01.1991 bis 07.11.1991 war der Kläger in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg. Vom 24.07.1988 bis 19.02.1989, vom 12.02.1990 bis 07.01.1991 und vom 07.11.1991 bis 31.08.1992 war er im Bezirkskrankenhaus Ansbach untergebracht.

Am 03.03.1992 beantragte der Kläger die Gewährung von Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Vom 11.06. bis 09.07.1992 und vom 07.10.1992 bis 04.11.1992 unterzog sich der Kläger stationären Heilmaßnahmen in der Klinik Herzoghöhe in Bayreuth. Im letzten Entlassungbericht vom 05.11.1992 sind als Diagnosen genannt: Bandscheibenoperation L4/L5 links am 02.04.1992 und Re-Operation am 21.08.1992 mit Spondylolisthese, AVK der Beine linksbetont, Polyneuropathie der unteren Extremitäten und L5-Syndrom linksbetont. Der Kläger wurde als arbeitsunfähig entlassen, mit fraglicher Prognose für die künftige Einsatzfähigkeit.

Dr.S ... vom ärztlichen Dienst der Beklagten hatte in seiner Stellungnahme nach Aktenlage vom 12.08.1992 den Kläger noch für fähig erachtet, leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Wechselrhythmus ohne häufiges Bücken und ohne häufiges Klettern oder Steigen vollschichtig zu verrichten.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 01.09.1992 die Gewährung der beantragten Rente ab, weil der Kläger nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei. Der Bescheid enthält auch den Hinweis, dass selbst bei Eintritt von Berufsunfähigkeit im Monat der Antragstellung (März 1992) der Antrag abzulehnen gewesen wäre, da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente nicht gegeben seien.

Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.01.1993 als unbegründet zurück. Es sei unerheblich, ob der Kläger seine zuletzt verrichtete Beschäftigung als Straßenbauarbeiter wieder aufnehmen könne; da er keinen Fachberuf erlernt und ausgeübt habe, sei er auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Der Hinweis auf die fehlenden versicherungsrechtlichen Gegebenheiten für eine Rentengewährung wurde wiederholt.

Dagegen hat der Kläger am 01.02.1993 Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben. Das SG hat die Krankenunterlagen der Neurochirurgischen Universitätsklinik in Erlangen und des Bezirkskrankenhauses in Ansbach sowie einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.H ... vom 05.04.1993 zum Verfahren beigenommen. In einem Gutachten nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 13.05.1993 hat der Orthopäde Dr.G ... folgende Diagnosen gestellt: Deutlich schmerzhafte Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule bei röntgenologisch nachgewiesenen degenerativen Veränderungen nach zweimaliger Bandscheibenoperation, Belastungsbeschwerden an beiden Beinen, rezidivierendes HWS- und Schulter-Arm-Syndrom links, Polyneuropathie. Der Kläger könne nur noch Arbeiten im Umfang von weniger als halbschichtig verrichten, wobei der Zeitpunkt der Leistungseinschränkung ab 31.03.1992 anzunehmen sei, dem Tag der Aufnahme in die Neurochirurgische Klinik in Erlangen zur Operation.

Mit Urteil vom 03.08.1993 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei nach Auffassung des Gerichts "aus rechtlichen Gründen" seit dem 31.03.1992 als erwerbsunfähig anzusehen. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei der Eintritt des Versicherungsfalles nicht erst mit dem Ende der Anschlussheilbehandlung, also dem 04.11.1992 anzunehmen, sondern seit dem Tage der Verlegung bzw Aufnahme in die Neurochirurgische Klinik. Ab diesem Zeitpunkt habe sich die Leistungsfähigkeit des Klägers auf Dauer nicht mehr gebessert. Der Kläger erfülle bei diesem Versicherungsfall nicht die besonderen versicherungsrechlichen Voraussetzungen für die Rentengewährung, da für ihn in der Zeit vom 01.03.1987 bis 28.02.1992 keine Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung geleistet worden seien. Der Kläger sei in dieser Zeit entweder in der Justizvollzugsanstalt Nürnberg zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe oder im Bezirkskrankenhaus Ansbach wegen Trunksucht untergebracht gewesen. Der Kläger erfülle auch nicht die alternativen Voraussetzungen der §§ 240 Abs 2, 241 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI), denn er habe nicht jeden Kalendermonat in der Zeit vom 01.01.1984 bis zum Ende des Kalendermonats vor Eintritt des Versicherungsfalls mit anwartschaftserhaltenden Zeiten belegt. Schließlich sei der Versicherungsfall beim Kläger auch nachweislich nicht vor dem 01.01.1984 eingetreten. Auch eine Nachentrichtung von Beiträgen nach § 197 Abs 3 SGB VI komme nicht in Betracht; eine besondere Härte liege beim Kläger schon deswegen nicht vor, weil er an einer rechtzeitigen Beitragszahlung duch eigenes Verschulden gehindert gewesen sei.

Dagegen richtet sich die am 26.08.1993 beim SG Nürnberg eingegangene Berufung des Klägers. Er macht geltend, seine Erwerbsunfähigkeit sei hinreichend durch ärztliche Gutachten belegt. Die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sei ihm infolge seiner erheblichen Schädigungen nicht möglich gewesen. Das Sozialamt der Stadt Nürnberg sei bereit, die fehlenden Zeiten nachzuzahlen (was von der Beklagten allerdings abgelehnt worden sei). Das Gericht hat die Leistungsakte des Klägers vom Arbeitsamt angefordert (mit Reha-Teil) sowie die Unterlagen der Justizvollzugsanstalt Nürnberg - Gesundheitsakte - und die Röntgenaufnahmen der Neurochirurgie in Erlangen. Der Allgemeinarzt Dr.H ... hat einen Befundbericht über den Kläger erstellt, weitere Befundberichte sind eingeholt worden von der Neurologin Dr.O ..., dem Chirurgen Dr.S ..., dem Nervenarzt Dr.W ... und dem Orthopäden Dr.H ... Auf Veranlassung des Senats haben die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.P ..., die Internistin Dr.L ... und der Orthopäde Dr.V ... jeweils Gutachten nach Aktenlage erstellt. Während das Gutachten der Internistin Dr.L ... für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit keine gesonderten Erkenntnisse ergeben hat, hat die Neurologin Dr.P ... im Gutachten vom 27.06.1995 ausgeführt, durch die Alkoholabhängigkeit des Klägers im engeren Sinne sei die Arbeitsleistung ab Januar 1986 zunehmend beeinträchtigt worden. Ohne dies mit Sicherheit feststellen zu können, spreche aus nervenärztlicher Sicht mehr dagegen als dafür, dass der Kläger ab 1986 unter den Bedingungen des freien Arbeitsmarktes zu einer kontinuierlichen vollschichtigen Arbeitsleistung in der Lage gewesen wäre. Mit Sicherheit sei der Kläger aus nervenärztlicher Sicht ab März 1992 aufgrund der Kombination des Bandscheibenleidens mit der vorhandenen psychischen Minderbelastbarkeit zu einer geregelten Tätigkeit auch allgemeiner Art nicht mehr in der Lage gewesen. Der Orthopäde Dr ... hat in seinem Gutachten vom 28.07.1995 zusammenfassend festgestellt, dass der Kläger aus neurologischer und orthopädischer Sicht seit dem Nachweis eines Bandscheibenvorfalls im Januar 1992 keiner regelmäßigen erwerbsbringenden Tätigkeit mehr habe nachgehen können. Davor lasse sich ab Januar 1986 aus psychiatrischer Sicht mit nur einfacher Wahrscheinlichkeit eine zeitliche Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit begründen, während der Kläger bis Ende 1985 psychisch nicht belastende Tätigkeiten vollschichtig habe verrichten können.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des SG Nürnberg vom 03.08.1993 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 01.09.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.01.1993 zu verurteilen, ihm ab frühestmöglichem Zeitpunkt Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen, die Prozessakte des SG Nürnberg, die Leistungsakte des Arbeitsamtes Nürnberg, die Krankenakten der Justizvollzugsanstalt Nürnberg und die des Bezirkskrankenhauses Ansbach sowie die Schwerbehinderten-Akte des Versorgungsamtes Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und auch im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel des Klägers erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit iSd §§ 43, 44 SGB VI nicht zusteht. Der Kläger ist nach seinem Ausbildungs- und Berufsweg auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Er hat die begonnene Ausbildung für den Steinmetzberuf nicht mit der erforderlichen Prüfung abgeschlossen und hat danach, wie er selbst vorgebracht hat, überwiegend als Bauhelfer gearbeitet und sonstige ungelernte Tätigkeiten verrichtet. Mit dem SG geht auch der Senat davon aus, dass das berufliche Leistungsvermögen des Klägers erst zu Anfang des Jahres 1992 in rentenrechtlich bedeutsamem Maße (iS der §§ 43 Abs 2, 44 Abs 2 SGB VI) abgesunken ist. Das SG hat in Auswertung des Gutachtens des Orthopäden Dr.G ... vom 11.06.1993 festgestellt, dass der Kläger seit dem 31.03.1992 zu keiner erwerbsbringenden Tätigkeit mehr fähig ist. An diesem Tag war der Kläger in die Neurochirurgische Klinik der Universität Erlangen zur Bandscheibenoperation verlegt worden. Die nach der Operation verbliebenen Gesundheitsstörungen und Beschwerden haben dazu geführt, dass der Kläger auch leichtere Arbeiten allgemeiner Art nur noch in unerheblichem Umfange verrichten konnte. Dieses vom SG gefundene Ergebnis ist durch die Beweisaufnahme im Berufungsverfahren in vollem Umfange bestätigt worden. Der ärztliche Sachverständige Dr.F ... hat in seinem Gutachten vom 28.07.1995 auch die Gutachten der Internistin Dr.L ... und der Nervenärztin Dr.P ... ausgewertet und ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger aus neurologischer und orthopädischer Sicht seit dem Nachweis eines Bandscheibenvorfalls im Januar 1992 keiner regelmäßigen erwerbsbringenden Tätigkeit mehr nachgehen konnte. Aus internistischer Sicht konnte der Kläger nach dem Gutachten von Frau Dr.L ... bis 1992 leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen vollschichtig verrichten. Quantitative Einschränkungen der Leistungsfähigkeit waren erst aufgrund des nach den Bandscheibenoperationen im Jahre 1992 entstandenen Postdiscotomiesyndroms und eines Drehgleitens der Lendenwirbelsäule (mit statischer Insuffizienz dieses Wirbelsäulenabschnitts) zu begründen. Im Gutachten der Nervenärztin Dr.P ... wird zwar eine zeitliche Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit wegen der zeitweise bestehenden Alkoholabhängigkeit des Klägers bereits seit dem Jahre 1986 diskutiert; die Sachverständige geht jedoch selbst davon aus, dass eine solche zeitliche Leistungsminderung nicht mit Sicherheit für die Zeit vor 1992 festgestellt werden kann. Die erforderliche, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines rechtlich bedeutsamen Nachlassens der körperlichen Leistungsfähigkeit sieht auch die Sachverständige Dr.P ... erst ab März 1992 als gegeben an, aufgrund der Kombination des Bandscheibenleidens mit der vorbestehenden psychischen Minderbelastbarkeit. Mit den insoweit übereinstimmenden Gutachten aus dem Klage- und Berufungsverfahren steht auch zur Überzeugung des Senats fest, dass beim Kläger der Leistungsfall der Berufs- und auch Erwerbsunfähigkeit frühestens im Januar 1992 mit der Manifestation eines Bandscheibenvorfalls eingetreten ist. Dieses Ergebnis wird schließlich auch gestützt durch den Bericht des Bezirkskrankenhauses Ansbach vom 03.04.1992 an die Beklagte, in dem ausgeführt ist: "Bei dem vorliegenden psychiatrischen Krankheitsbild (des Klägers) handelt es sich um langjährig betriebenen Alkoholmissbrauch. Klinisch fassbare Folgeschäden des Alkoholmissbrauchs sind bisher nicht eingetreten. Es bieten sich keine Hinweise auf Erkrankungen der inneren Organe."

Ausgehend von einem im Januar 1992 eingetretenen Leistungsfall der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit hat der Kläger die weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nicht erfüllt (wie dies das SG auch zutreffend für den mit dem 31.03.1992 angenommenen Leistungsfall entschieden hat). Der Kläger hat weder die in den §§ 43 Abs 1 Nr 2 bzw 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI geforderte Pflichtbeitragszeit von 36 Monaten in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zurückgelegt, noch hat er jeden Kalendermonat in der Zeit vom 01.01.1984 bis zum Ende des Kalendermonats vor Eintritt des Leistungsfalls mit anwartschaftserhaltenden Zeiten belegt (§§ 240 Abs 2 bzw 241 Abs 2 SGB VI). Der letzte Pflichtbeitrag zur Rentenversicherung ist für den Kläger im Jahre 1982 entrichtet worden; daran anschließend wurden noch Zeiten der Arbeitslosigkeit bis zum 23.04.1987 an den Rentenversicherungsträger gemeldet. An diesem Ergebnis vermögen auch die vom Kläger ab 1987 zurückgelegten Zeiten der Strafhaft nichts zu ändern, denn diese Zeiten sind in vollem Umfang als versicherungslose Zeiten zu werten; sie stehen den bei der Ermittlung der nach §§ 43 Abs 1 Nr 2, 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI maßgeblichen Zeiten nicht gleich. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 01.07.1998, Az: 2 BvR 441/90 ua (in NJW 1998, S 3337 ff) entschieden, dass es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, Strafgefangene nicht in den Schutz der sozialen Sicherungssysteme einzubeziehen.

Dem Kläger, der seit Januar 1992 berufs- und erwerbsunfähig ist, steht demnach kein Rentenanspruch gemäß §§ 43, 44 SGB VI zu. Seine Berufung gegen das Urteil des SG Nürnberg war zurückzuweisen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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