L 16 RJ 410/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 31 RJ 1182/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 RJ 410/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.06.1999 und der Bescheid der Beklagten vom 02.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996 werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 01.01. 1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Beklagte erstattet dem Kläger ein Drittel der außergerichtlichen Kosten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab 01.04.1996.

Der am 1940 geborene Kläger ist österreichischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in seinem Heimatland. In Deutschland war er im erlernten Beruf als Konditorgeselle von April 1962 bis Juni 1963 versicherungspflichtig beschäftigt. Nach Ablegung der Meisterprüfung war er in Österreich weiterhin bis 1974 als Konditor tätig. Von April 1974 bis September 1993 übte er eine Tätigkeit als Lohn- und Gehaltsverrechner bei Buchprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaften aus und war als Angestellter in Österreich pflichtversichert. Seit 01.04.1996 erhält er von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten (PVA) in Wien entsprechendem Vergleich vom 21.05.1997 vor dem Arbeits- und Sozialgericht Wien vorzeitige Alterspension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit.

Die Beklagte hat seinen Rentenantrag vom 29.03.1995 am 02.02. 1996 mit der Begründung abgelehnt, er sei weder erwerbsunfähig noch berufsunfähig. Sie stützte sich dabei auf die Auswertung internistischen und orthopädischen Gutachten und hielt zwar Tätigkeiten als Bäcker und sonstige qualifizierte Tätigkeiten für nicht mehr zumutbar, leichte Arbeiten teilweise im Sitzen aber für vollschichtig zumutbar.

Der Widerspruch wurde unter Berücksichtigung der vom Arbeits- und Sozialgericht Wien eingeholten internistischen, lungen- ärztlichen und orthopädischen Gutachten am 10.06.1996 mit der Begründung abgelehnt, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne der Kläger noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen vollschichtig ausüben.

Dagegen erhob der Kläger am 05.08.1996 Klage und machte geltend, längeres Sitzen sei ihm ohne Schmerzen nicht möglich und seine nervliche Belastbarkeit sei eingeschränkt. Der vom Arbeits- und Sozialgericht Wien hinzugezogene Orthopäde Dr.Z. bejahte in seinem Ergänzungsgutachten vom 21.02. 1997 eine wesentliche Verschlimmerung seit April 1996 infolge zerstörender Veränderungen an den Hüftgelenken mit operativer Sanierung rechts und der Notwendigkeit der Sanierung links. Seines Erachtens ist mit längeren Krankenständen zu rechnen und eine normale Beschäftigung nicht zumutbar. Angesichts des daraufhin in Wien geschlossenen Vergleichs beauftragte das Sozialgericht München Dr.S. , ständig beeideter gerichtlicher Sachverständiger für Orthopädie in Wien, mit der Erstellung eines Gutachtens nach ambulanter Untersuchung. Der Sachverständige hielt in seinem Gutachten vom 14.04.1998 leichte Arbeiten im Sitzen mit maximaler Geh- und Stehbelastung während der Arbeit über ca. 40 Minuten für zumutbar. Ausgeschlossen seien Arbeiten in gebückter Haltung, im Stehen, Kälte- und Nässeexposition, Arbeiten im Freien bei ungünstiger Witterung und Arbeiten auf Leitern oder Gerüsten. Gestützt hierauf wies das Sozialgericht München die Klage am 02.06.1999 mit der Begründung ab, der Kläger könne als Lohn- und Gehaltsverrechner vollschichtig tätig sein. Gegenstand der Akten war auch ein berufskundliches Sachverständigengutachten des Arbeitsmarkt- und Berufsforschers Dr.E. vom 15.12.1996, das im Auftrag des Arbeits- und Sozialgerichts Wien erstellt worden ist. Danach erfordert die Ausübung der Gehalts- und Lohnverrechnertätigkeit grundsätzlich eine sitzende Körperhaltung, nur ganz kurzzeitig Stehen und Gehen.

Gegen das am 30.07.1999 übersandte Urteil legte der Kläger am 25.08.1999 Berufung ein und machte geltend, eine Ende 1998 festgestellte Herzkrankheit sei ebenso wenig berücksichtigt worden wie die Hüftoperation vom 26.05.1999. Der Senat holte Krankenhausentlassungsberichte und einen Befundbericht des behandelnden Internisten ein und hielt ambulante Untersuchungen für notwendig. Zu zwei Untersuchungsterminen von Sachverständigen in Wien erschien der Kläger ohne Angabe von Gründen nicht. Daraufhin erfolgte nach Unterrichtung des Klägers eine Begutachtung nach Aktenlage. Die Internistin und Kardiologin Dr.R. führte in ihrem Gutachten vom 15.03.2001 aus, seit Dezember 1998 sei durch Hinzutreten einer coronaren Herzkrankheit eine Verschlimmerung eingetreten. Seither könnten leichte bis kurzzeitig mittelschwere Tätigkeiten ganztags im Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen überwiegend in geschlossenen Räumen vollschichtig verrichtet werden, sofern die Tätigkeiten nicht unter Zeitdruck, nicht im Akkord, nicht in Wechselschicht und ohne Nachtarbeiten zu erbringen seien. Der Orthopäde Dr.T. schrieb in seinem Gutachten vom 09.05.2001, trotz mäßiger bis mittelgradiger Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit seien bis 26.05.1999 leichte Arbeiten ohne höhere Geh- und Stehbelastung in geschlossenen Räumen zumutbar gewesen, sofern Heben und Tragen von schwereren Lasten, Knien, häufiges Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, stärkere Temperaturschwankungen, Kälte- und Zugluftexposition ausgeschlossen waren. Ein Anmarschweg von 500 m am Stück viermal täglich sei in einem Zeitraum von ca. 10 Minuten zu bewältigen gewesen. Nach der zweiten Hüftoperation habe sich das qualitative Leistungsbild auf leichte bis auch teilweise mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung verbessert. Seither Arbeitspausen seien ab März 1995 nicht erforderlich gewesen.

Beigezogen wurden berufskundliche Unterlagen zum Fachgehilfen in steuer- und wirtschaftsberatenden Berufen und der Kollektivvertrag der Wirtschaftstreuhänder in Österreich.

In der mündlichen Verhandlung am 01.08.2001, zu der der Kläger nicht erschien, erklärte sich die Beklagte bereit, dem Kläger ab 01.01.1999 Rente wegen Berufsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.06.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 02.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996 zu verurteilen, ab 1. April 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt

die Zurückweisung der Berufung, soweit sie über das Teilanerkenntnis hinausgeht.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Sozialgerichts München sowie der Berufungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und teilweise begründet. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.06.1999 ist ebenso abzuändern wie der Bescheid der Beklagten vom 02.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.06.1996. Der Kläger hat Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 01.01.1999. Im Übrigen ist die Berufung zurückzuweisen.

Dass dem Kläger ab 01.01.1999 Berufsunfähigkeitsrente zusteht, hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung am 01.08.2001 anerkannt. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich daher. Für die Zeit davor hat der Kläger weder Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente noch auf Erwerbsunfähigkeitsrente.

Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 43 Abs.2 Satz 1 und 2 SGB VI).

Unstreitig kann der Kläger als Lohn- und Gehaltsverrechner nicht auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden, weil er zur Gruppe der Ausgebildeten zählt. Als ausgebildeter Angestellter kann der Kläger erst ab 01.01. 1999 nicht mehr tätig sein.

Bei der Beurteilung des Restleistungsvermögens stützt sich der Senat auf die überzeugenden und ausführlichen Gutachten der Dres.T. und R. , die angesichts der fehlenden Bereitschaft des Klägers zu einer ambulanten Untersuchung in Wien lediglich ein Aktenlagegutachten erstellen konnten. Sie befinden sich im Ergebnis in Übereinstimmung mit Dr.S. , der im Auftrag des Sozialgerichts ein Gutachten erstellt hat, sowie mit den Ärzten, die von der Beklagten und vom Sozialgericht Wien gehört worden sind. Wenn demgegenüber Dr.Z. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.02.1997 eine wesentliche Verschlimmerung gegenüber den Vorgutachtern bejaht hat, so ist dem entgegenzuhalten, dass er sich lediglich auf einen sehr knappen Befund stützen konnte und er lange Arbeitsunfähigkeitszeiten im Zusammenhang mit den Hüftgelenksoperationen unterstellt hat, die nicht belegt sind.

Die erste zementfreie totalendoprothetische Versorgung erfolgte am 05.09.1996, die zweite am 10.06.1999. Beide postoperative Verlaufsangaben des Orthopädischen Spitals in Wien führen eine Komplikationslosigkeit mit guter Mobilisierungsphase an. Es ist demnach davon auszugehen, dass die perioperativen Arbeitsunfähigkeitszeiten auf ca. jeweils drei Monate zu begrenzen sind. Neben der totalendoprothetischen Versorgung beider Hüftgelenke nach Hüftkopfnekrosen liegen altersentsprechende degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Beweglichkeitseinschränkung und eine Dupytren sche Kontraktur am 4. Fingerstrahl rechts ohne funktionelle Bedeutung vor.

Vom Zeitpunkt der Rentenantragstellung bis zum Abschluss der totalendoprothetischen Versorgung im Sommer 1999 war die Geh- und Stehfähigkeit des Klägers erheblich beeinträchtigt. Dem Kläger waren daher nur noch leichte Arbeiten ohne höhere Geh- und Stehbelastung, in geschlossenen Räumen, überwiegend im Sitzen ohne Heben und Tragen von schwereren Lasten, ohne Tätigkeiten im Knien, ohne viel Treppensteigen, ohne Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, nicht mit stärkeren Temperaturschwankungen vollschichtig zumutbar. Ab Sommer 1999 verbesserte sich das qualitative Leistungsbild, so dass leichte, bis auch teilweise mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung vollschichtig zumutbar waren. Entscheidend ist, dass der Kläger auch in dem Zeitraum bis Sommer 1999 in der Lage war, viermal täglich jeweils 500 m zu Fuß in einem Zeitraum von ca. 10 Minuten zurückzulegen. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung war der Kläger also nicht gehindert, einen Arbeitsplatz aufzusuchen (BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr.10).

Das durch die orthopädischen Gesundheitsstörungen eingeschränkte Leistungsvermögen war bis Ende 1998 nicht durch weitere internistische Gesundheitsstörungen eingeschränkt. Zwar geht aus der Vorgeschichte ein Goodpasture-Syndrom und eine tiefe Beinvenenthrombose hervor, diese 1989 aufgetretenen Gesundheitsstörungen haben sich jedoch in der Folgezeit befriedigend stabilisiert. Ende 1998 trat dann eine instabile Angina pectoris auf, die mittels coronarer Angiographie als coronare Eingefäßerkrankung diagnostiziert worden ist. Bei einer Kontroll-Coronarangiographie im April 1999 wurde eine erneute Verengung an der mittels Ballondilatation ausgedehnten Stelle gefunden. Angesichts der sehr guten Belastbarkeit bis 175 Watt ist davon auszugehen, dass der Kläger noch leichte bis kurzzeitig mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig verrichten kann. Als Einschränkungen sind ab Ende 1998 die Notwendigkeit wechselnder Körperhaltung und der Ausschluss von Tätigkeiten unter Zeitdruck, im Akkord, in Wechselschicht und des nachts zu nennen. Wegen der letztgenannten Einschränkungen ist dem Kläger ab 12/98 die Tätigkeit als Lohn- und Gehaltsverrechner nicht mehr zumutbar. Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts waren und sind dem Kläger jedoch ohne Gefährdung seiner Restgesundheit möglich.

Weil das Leistungsvermögen noch dafür ausreichte, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts vollschichtig zu verrichten, ist der Kläger nicht erwerbsunfähig. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt (§ 44 Abs.2 SGB VI in der bis 31.12.2000 maßgebenden Fassung). Erwerbsunfähig ist nicht, wer eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann (§ 44 Abs.2 Satz 2 Ziffer 2 SGB VI). Im Hinblick auf die qualitativen Leistungseinschränkungen ist die Beklagte auch nicht gehalten, dem Kläger eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen. Der Kläger ist nicht nur auf leichte, sondern auch auf teilweise mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts verweisbar, so dass eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen von vornherein nicht in Betracht kommt. Weil aber die Bezeichnungspflicht von Anzahl, Art und Umfang der beim Versicherten bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen abhängt (BSGE vom 11.05.1999 in SozR 3-2600 § 43 Nr.21 mit weiteren Nachweisen), muss es bei der Pauschalverweisung des Klägers auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, der vielfältigste Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, verbleiben.

Das aktuelle Krankheitsbild konnte mangels Mitwirkung des Klägers nicht weiter abgeklärt werden; nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast geht dies zu seinen Lasten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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