L 6 RJ 50/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 1016/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 RJ 50/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 21. September 1998 sowie des Bescheides vom 29. Februar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Juli 1996 und des Bescheides vom 4. Oktober 2000 verurteilt, dem Kläger ab 1. Dezember 1995 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten.
II. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu zwei Dritteln zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten (nur noch) um die Leistung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der am ... 1954 geborene Kläger hat den Beruf des Fliesenlegers erlernt und bis zum Jahre 1992 ausgeübt. Den erstmals am 20.08.1992 bei der Beklagten gestellten Antrag auf Zahlung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat diese mit Bescheid vom 18.01.1993 und Widerspruchsbescheid vom 18.03.1993 abgelehnt, weil der Kläger noch in der Lage sei, bis zu mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Damit sei seine bisherige Tätigkeit als Fliesenleger weiterhin möglich, als Verweisungsberuf komme daneben die Tätigkeit als Verkäufer und Berater in einem Baustoffbetrieb in Betracht. Die dagegen zum Sozialgericht Landshut erhobene Klage (S 3 Ar 201/93) hat der Kläger am 08.12.1994 zurückgenommen.

Am 03.11.1995 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Rente bei der Beklagten. Diese holte das von dem Chirurgen Dr.M ... am 16.02.1996 zum beruflichen Leistungsvermögen des Klägers erstattete Gutachten ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.02.1996 und Widerspruchsbescheid vom 19.07.1996 ab, weil der Kläger trotz seiner Gesundheitsstörungen (wirbelsäulenabhängige Beschwerden bei Abnutzungserscheinungen ohne Nervenwurzelbeteiligung, Aufbrauchserscheinungen an den Kniegelenken bei Retropatellararthrose und folgenlos verheilter Ellengelenksbruch rechts) in der Lage sei, vollschichtig leichtere bis mittelschwere Arbeiten ohne häufiges Bücken und ohne kniende Tätigkeiten zu verrichten. Damit könne der Kläger zwar seinen Beruf als Fliesenleger nicht mehr ausüben, er sei jedoch zumutbar noch verweisbar auf Tätigkeiten als Verkäufer und Berater im Baustoffhandel und Fliesenhandel sowie als Baustellenmagaziner.

Dagegen hat der Kläger zum Sozialgericht Landshut Klage erhoben und vorgebracht, für die von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten sei er sowohl aus gesundheitlichen Gründen - wegen seiner Kniegelenks- und Wirbelsäulenbeschwerden - als auch wegen mangelnder schulischer Ausbildung nicht geeignet.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das Sozialgericht eine Auskunft der Firma ... über die dort vom Kläger (als Fliesenleger) verrichtete Tätigkeit sowie das von der der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr.M ... am 09.10.1997 erstattete Gutachten eingeholt. Die Sachverständige erachtete den Kläger noch für fähig, leichte und mittelschwere Arbeiten abwechselnd im Gehen und Stehen oder Sitzen und ohne schweres Heben und Tragen vollschichtig zu verrichten. Es dürfe sich nicht um eine kniende Tätigkeit oder eine solche mit häufigem Bücken handeln. In seiner berufskundlichen Stellungnahme vom 28.07.1998 hat sich sodann das Landesarbeitsamt Bayern mit den Tätigkeiten eines Verkäufers und Beraters im Baustoffvertrieb und Fliesenhandel, Baustellenmagaziners und Hausmeisters auseinandergesetzt und abschließend jeweils die Zumutbarkeit für den Kläger verneint.

Nachdem die Beklagte in ihrer Äußerung vom 10.08.1998 dagegen den Kläger noch für eine Tätigkeit als Registrator oder im Postein- und Postauslauf einer Behörde oder eines größeren Betriebs zumutbar einsetzbar angesehen hatte, hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 21.09.1998 abgewiesen: Der als Fliesenleger nicht mehr leistungsfähige Kläger sei noch in der Lage, als Mitarbeiter im Posteingang und Postauslauf einer Behörde zu arbeiten, weshalb nicht wenigstens Berufsunfähigkeit gegeben sei.

Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers.

Der Senat hat einen Befundbericht des Arztes für Neurologie Dr.B ... vom 31.05. 1999 eingeholt, wonach der Kläger erstmals am 21.01.1999 behandelt worden sei. Der Orthopäde Dr.F ... hat sodann im Gutachten vom 11.06.1999 die Auffassung vertreten, der Kläger sei seit Antragstellung in der Lage, vollschichtig zu arbeiten. Ungünstig seien Arbeiten, welche die Kniegelenke auf verstärkte Beugung belasteten, sowie Tätigkeiten in kniender und hockender Stellung und häufiges Besteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten.

Nachdem der Kläger u.a. vorgetragen hatte, die Tätigkeit des Mitarbeiters im Posteingang/Postausgang einer Behörde sei der Gruppe der ungelernten Tätigkeiten zuzuordnen; es sei im Übrigen die Frage seiner Umstellungsfähigkeit zu prüfen, hat der Senat das vom der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.S ... am 13.05.2000 erstattete Gutachten eingeholt. Dieser führt u.a. aus, der Kläger sei noch in der Lage, vollschichtig zu arbeiten. Nicht mehr möglich seien Tätigkeiten, bei denen er mittelschwere und schwere Lasten heben und tragen müsse, Tätigkeiten in Nässe, Kälte und Zugluft, im Schichtdienst sowie Zwangshaltungen. Die Tätigkeiten sollten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen möglich sein; nicht mehr zumutbar seien Tätigkeiten unter Zeit- oder Termindruck sowie Akkordarbeiten und Tätigkeiten in Nachtschicht. Auch sollte überwiegender Publikumsverkehr vermieden werden. Der Kläger könne sich nur noch bedingt auf andere als die bisher ausgeübten Erwerbstätigkeiten umstellen.

Mit Schreiben vom 28.08.2000 hat sich die Beklagte daraufhin bereit erklärt, den Eintritt der dauernden Berufsunfähigkeit am 21.01.1999 anzuerkennen und ab 01.02.1999 die entsprechende Rente zu leisten. Mit Bescheid vom 04.10.2000 hat sie dieses (vom Kläger nicht angenommene) Angebot ausgeführt.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.10.2000 hat Dr.S ... erklärt, die in seinem Gutachten beschriebenen Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Klägers und die damit verbundene Behinderung hinsichtlich der Umstellungsfähigkeit sei als dauerhaft, also bereits vor Oktober 1995 bestehend, einzuschätzen. Aus dem Bericht des Dr.B ... lasse sich nicht entnehmen, dass es in den letzten Jahren beim Kläger zu einem zusätzlichen Leistungsknick gekommen sei, durch den seine Umstellungsfähigkeit beeinflusst worden wäre.

Hierzu legte die Beklagte eine Stellungnahme der Nervenärztin Dr.K ... vom 08.11.2000 vor, wonach der Eintritt eines früheren Leistungsfalls sich medizinisch nicht begründen lasse.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Landshut vom 21.09.1998 sowie des Bescheides vom 29.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.07.1996 sowie Abänderung des Bescheides vom 04.10.2000 zu verurteilen, ihm ab 01.12.1995 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Bezüglich weiterer Einzelheiten des Tatbestandes wird im Übrigen Bezug genommen auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze sowie der beigezogenen Akten der Beklagten und des Sozialgerichts Landshut.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig.

Sie erweist sich auch entsprechend dem am Schluss der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag als begründet, weil dem Kläger unter Berücksichtigung des Datums der Antragstellung seit 01.11.1995 Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Seine Erwerbsfähigkeit ist nämlich seit Oktober 1995 wegen Krankheit oder Behinderung bereits auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken (§ 43 Abs.2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - in der bis 31.12.2000 gültigen und vorliegend noch anwendbaren Fassung). Im Hinblick auf die von den gerichtlichen Sachverständigen festgestellte vollschichtige Arbeitsleistungsfähigkeit des Klägers liegt hingegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 Abs.2 SGB VI noch nicht vor, dementsprechend wurde der weitergehende Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht mehr aufrechterhalten.

Zwischen den Beteiligten besteht Einigkeit darüber, dass der Kläger seinen Beruf als Fliesenleger nicht mehr ausüben und wegen seines eingeschränkten Umstellungsvermögens auch eine zumutbare berufsverwandte Verweisungstätigkeit nicht mehr verrichten kann. Streitig ist nur mehr, ob diese eingeschränkte Arbeitsleistungsfähigkeit bereits seit Oktober 1995 vorliegt oder erst - wie die Beklagte meint - seit der erstmaligen Untersuchung durch Dr.B ... im Januar 1999.

Bei der Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr.S ... - der sich erstmals von Seiten des nervenärztlichen Fachgebiets mit dem beruflichen Leistungsvermögen des Klägers befasst hat - berichteten der Kläger und seine Ehefrau über eine bestehende gereizt-depressive Symptomatik sowie über Nervosität, Reizbarkeit, innere Unruhe, der Kläger leide an rezidivierenden Kopfschmerzen, an Schwindel und Schlafstörungen. Der Kläger berichtete nur stockend über seine Beschwerden, sprach teilweise in nicht vollständigen Sätzen, der Gedankengang erschien verlangsamt und schwerfällig. Die Stimmung war überwiegend subdepressiv-gereizt, missmutig und zeitweise traurig. Die emotionale Ausdrucksfähigkeit des Klägers war vermindert und er hatte Mühe, seine Beschwerden spontan zu berichten. Der Sachverständige musste den Kläger immer wieder ermutigen, sich über seine Beschwerden zu äußern. Auch wirkte er angestrengt und von dem Untersuchungsgespräch überfordert. Von seiner Primärpersönlichkeit her zeigt sich der Kläger introvertiert, gehemmt und schüchtern und es ist nach den Darlegungen des Sachverständigen von dieser Persönlichkeitssruktur her schwer, sich umzustellen und aktive Bewältigungsschritte einzuleiten. Dr.S ... führt aus, dass die psychische Symptomatik überwiegend reaktiv verursacht ist. Der Kläger ist durch die auftretenden körperlichen Beschwerden aus seinem bisherigen Berufsalltag herausgerissen und er sah sich nicht mehr in der Lage, seine ursprüngliche Tätigkeit auszuüben. Diese Herausnahme aus der Berufstätigkeit und die damit verbundene unklare soziale und finanzielle Situation führte zum Auftreten einer gereizt-depressiven Symptomatik. Der Sachverständige bezeichnet diese Auffälligkeiten in der Persönlichkeit des Klägers und die damit verbundene Behinderung hinsichtlich der Umstellungsfähigkeit als dauerhaft und bereits vor Oktober 1995 bestehend. Weder die Anamnese noch der Bericht des Dr.B ... ergeben einen Hinweis darauf, dass es in den letzten Jahren zu einem zusätzlichen Leistungsknick gekommen ist, der die Umstellungsfähigkeit des Klägers beeinflusst hätte.

Mit dem Sachverständigen ist deshalb davon auszugehen, dass dem Kläger unter Berücksichtigung des Datums der Antragstellung Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Der gegenteiligen Stellungnahme der Nervenärztin Dr.K ... vom 08.11.2000, wonach erst im Oktober 1995 eine depressive Entwicklung beim Kläger eingesetzt habe, die erst später die mangelnde Umstellungsfähigkeit nach sich gezogen habe, kann nicht gefolgt werden. Dr.S ... hat seine Auffassung nach persönlicher Untersuchung des Klägers und unter Berücksichtigung dessen nicht zweckgerichteter Angaben zur Vorgeschichte dargelegt. So geht auch aus dem Arztbrief der Abteilung für Schlafmedizin der Klinik Angermühle vom 20.04.1999, auf den sich Dr.B ... bezogen hat, hervor, dass der Kläger bei der Aufnahme angegeben hat, seit etwa sechs Jahren trete eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit tagsüber auf.

Selbst wenn man hinsichtlich des Zeitpunkts der Annahme von mangelnder Umstellungsfähigkeit der Auffassung der Beklagten folgen sollte, liegt Berufsunfähigkeit ab Antragstellung auch deshalb vor, weil keine zumutbaren Verweisungstätigkeiten für den Kläger erkennbar sind bzw. von der Beklagten benannt wurden.

So ist ein Berater im Fliesenhandel bzw. Verkäufer in Fliesenfachgeschäften keine benennbare Verweisungstätigkeit. Zwar werden auch Facharbeiter bei persönlicher Eignung und nach Einarbeitung als Fachverkäufer beschäftigt, eine vollständige Einarbeitung ist jedoch üblicherweise nicht in einem Zeitraum von höchstens drei Monaten möglich, wobei zu bedenken ist, dass der Verkäufer im Einzelhandel ein Beruf mit zweijähriger Ausbildung ist. Für die Tätigkeit als Registrator besitzt der Kläger keinerlei verwertbaren Vorkenntnisse, weshalb davon auszugehen ist, dass er in einer maximalen dreimonatigen Einarbeitungszeit lediglich die ungelernte bzw. kurzfristige angelernte Ebene, also die einem Facharbeiter unzumutbare Qualifikationsstufe erreichen könnte.

Inwieweit die Tätigkeit im Postein- und -auslauf einer Behörde oder eines größeren Betriebes eine für Facharbeiter zumutbare Verweisungstätigkeit innerhalb des Mehrstufenschemas sein sollte, wurde von der Beklagten nicht dargetan.

Da eine zumutbare Verweisungstätigkeit nicht benannt werden kann, ist schon aus diesem Grunde ein Rentenanspruch ab Antragstellung gegeben.

Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Landshut war deshalb aufzuheben und der in das Verfahren miteinzubeziehende Bescheid vom 04.10.2000 abzuändern unter Verurteilung der Beklagten zur begehrten Rentenleistung ab 01.12.1995.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem zuletzt gestellten Anspruch durchgedrungen ist.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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