L 18 SB 111/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 SB 196/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 111/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 18.09.2002 aufgehoben. Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Würzburg zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht den Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin von 90 auf 60 herabbemessen und die Merkzeichen B und aG entzogen hat.

Der Beklagte stellte bei der am 1926 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 10.07.1990 - nach ärztlicher Stellungnahme nach Aktenlage durch Dr.S. , Fachrichtung unbekannt - einen GdB von 90 für folgende Behinderungen fest: 1. Gehbehinderung bei Austausch Hüftgelenksendoprothese mit Spongiosaplastik links und Hüftgelenksarthrose rechts mit Funktionseinschränkung, Iliosakralgelenksarthrose beidseits, X-Fehlstellung der Beinachsen, Hallux rigidus bei Knick-Senk-Spreizfüßen beidseits (Einzel-GdB 80) 2. chronisch rezidivierendes Wirbelsäulensyndrom mit Funktionsbehinderung bei ausgeprägten degenerativen Veränderungen und Bandscheibenvorfall L 6/S 1 (Einzel-GdB 20) 3. Hypertone Kreislaufdisregulation (Einzel-GdB 10) 4. Hepatopathie, chronisch rezidivierender Harnwegsinfekt (Einzel-GdB 10).

Ferner gewährte der Beklagte die Merkzeichen B, G und aG.

Die Klägerin erlitt am 28.03.1999 einen Herzinfarkt und begehrte am 06.07.1999 die Neufeststellung ihrer Behinderungen. Nach versorgungsärztlichen Stellungnahmen nach Aktenlage der Internistin Dr.M. vom 23.08.1999 und der Allgemeinärztin Dr.H. vom 17.09.1999 stellte der Beklagte nach Anhörung der Klägerin und versorgungsärztlichen Untersuchungen durch die Allgemeinärztin Dr.K. (Gutachten vom 02.08.2000) und den Internisten Dr.D. (Gutachten vom 21.07.2000) mit Änderungsbescheid vom 03.08.2000 für die Zeit ab Bekanntgabe des Bescheides als Behinderungen fest: 1. Endoprothetische Versorgung beider Hüftgelenke bei Austausch Hüftgelenksprothese mit Spongiosaplastik links, Iliosakralarthrose beidseits, X-Fehlstellung der Beinachsen, Hallux rigidus mit Knick-Senk-Spreizfuß beidseits (Einzel-GdB 50) 2. chronisch rezidivierende Wirbelkörper-Syndrome bei degenerativen Veränderungen, Schulter-Arm-Beteiligung beidseits (Einzel-GdB 20) 3. koronare Herzkrankheit mit abgelaufenem Myokardinfarkt, Ballondilatation mit Stenteinlage (Einzel-GdB 20) 4. somatoforme Störung (Einzel-GdB 10).

Den GdB bewertete er mit 60. Die Merkzeichen B und aG entzog er. Der Beklagte begründete die Herabbemessung und den Entzug der Merkzeichen mit dem guten Operationsergebnis an beiden Hüftgelenken im Jahr 1990.

Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 06.02.2001).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 03.08.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2001 beantragt. Das SG hat die Klägerin von der Internistin und Rheumatologin Dr.J. anlässlich des Termins zur mündlichen Verhandlung am 18.09.2002 untersuchen lassen (Gutachten vom 18.09.2002). Die in der Beweisanordnung vom 29.07.2002 vom Vorsitzenden der 10. Kammer des SG gestellten Beweisfrage, ob "beim Vergleich der dem Änderungsbescheid vom 03.08.2000 zugrunde gelegenen Befunde, die mit einem GdB von 60 bewertet wurden mit dem jetzt bei der Klägerin zu erhebenden Befunden eine wesentliche Änderung im Sinne einer Verschlechterung/Besserung eingetreten ist" sei, hat die Sachverständige verneint. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B hat sie bejaht, da die Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel infolge ihrer Gehbehinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sei, insbesondere um Sturzereignisse mit Verletzungsfolgen zu vermeiden. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG hat sie verneint. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 18.09.2002 abgewiesen und sich bezüglich der Höhe des GdB und des Merkzeichens aG der Beurteilung der Sachverständigen Dr.J. angeschlossen. Bezüglich des Merkzeichens B ist das SG der Sachverständigen nicht gefolgt und hat dies damit begründet, dass die Klägerin wegen ihrer Sturzneigung nach eigenen Angaben öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen könne und regelmäßig allein mit dem Auto fahre. Das SG hat insoweit kein Bedürfnis für eine weitere Gewährung des Anspruchs auf unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln gesehen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und darauf hingewiesen, dass die Sachverständige Dr.J. die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B bejaht habe. Auch das Merkzeichen aG stehe ihr zu, da sie mit Krücken schmerzfrei nur eine Strecke von 50 Meter zurücklegen könne. Auf Grund des jahrelangen ständigen Krückeneinsatzes leide sie auch unter Schmerzen im Handgelenks- und Armbereich. Weiterhin seien ihre Wirbelsäulenbeschwerden schlimmer, als von der gerichtsärztlichen Sachverständigen festgestellt. Insbesondere der Halswirbelsäulen-Bereich sei von der Sachverständigen nicht ausreichend gewürdigt worden. Weiterhin seien auch die Verengung der Halsschlagader und der damit verbundene schwankende Blutdruck sowie die Herzbeschwerden nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 18.09.2002 und den Bescheid vom 03.08.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.02.2001 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Würzburg vom 18.09.2002 zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die nach §§ 143, 151 SGG zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung an das SG begründet.

Das Landessozialgericht kann durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs 1 Nr 2 SGG).

Das sozialgerichtliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat gegen den Grundsatz der Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, indem es über den Antrag der Klägerin befunden hat, ohne ein Sachverständigengutachten auf orthopädischem Gebiet einzuholen. Der Grundsatz der Amtsermittlung ist auch dadurch verletzt, dass es die rechtlichen Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) verkannt hat und die für die Annahme einer wesentlichen Änderung erforderlichen medizinischen Feststellungen nicht hat treffen lassen. Es hat auch die Grenzen der freien Beweiswürdigung verfahrensfehlerhaft nicht beachtet (§ 128 SGG).

Das SG hat den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 1.Halbs SGG). Dieser Grundsatz gilt im Sozialgerichtsgesetz wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der Entscheidung (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7.Aufl, § 103 RdNr 1). Der Untersuchungsgrundsatz bezieht sich auf den Sachverhalt (aaO RdNr 3). Es müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind (aaO RdNr 4 a). Wenn das Gericht davon absieht, Sachverständige zu bestellen, so verstößt es gegen § 103 SGG, wenn es eine Tatsachenfrage selbst beurteilt, ohne selbst über besondere eigene Sachkunde zu verfügen (aaO RdNr 7 b).

Zwar hat das SG von der Internistin und Rheumatologin Dr.J. ein Gutachten eingeholt und diese hat sich auch auf orthopädischem Gebiet gutachtlich geäußert. Hierzu war sie aber nicht fachkompetent (vgl aaO § 118 RdNr 12 unter Verweisung auf BSG SozR 1500 § 160 a Nr 60 bei Beweisaufnahme mittels eines Terminsarztes). Nach § 407 a Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hat der Sachverständige unverzüglich zu prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne die Hinzuziehung weiterer Sachverständiger erledigt werden kann. Ist dies nicht der Fall, hat er unverzüglich das Gericht zu verständigen (§ 407 a Abs 1 Satz 2 ZPO). Dies hat Dr.J. unterlassen. Das SG hätte sich aber gedrängt fühlen müssen, auf orthopädischem Gebiet ein Gutachten einzuholen, da auch ihm die erforderliche Sachkunde gefehlt hat. Zwar kann ein Gericht auch dem Gutachten eines Terminsarztes folgen, insbesondere bei einfachen Befunden, wenn an Unterlagen über eine frühere, eingehende Untersuchung angeknüpft wird (aaO § 128 RdNr 7 b). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Der Beklagte hat die Klägerin im Verwaltungsverfahren nicht orthopädisch begutachten lassen. Nach Sachlage war vorliegend nicht lediglich eine sozialmedizinische Beurteilung hinreichend geklärter medizinischer Sachverhalte gefragt - hier kann im Einzelfall eine sozialmedizinische Beurteilung ausreichend sein -, vielmehr waren hier Art und Umfang der Behinderungen auf orthopädischem Fachgebiet im sozialgerichtlichen Verfahren erstmals zu klären. Die Annahme eines Einzel-GdB von 80 im Vergleichsbescheid vom 10.07.1990 weist auf einen erheblichen orthopädischen Befund hin. Das SG hätte sich daher gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt auf orthopädischem Gebiet mittels eines Fachgutachtens aufzuklären.

Das SG hat auch die Grenzen der freien Beweiswürdigung in verfahrensfehlerhafter Weise nicht beachtet (vgl Meyer-Ladewig aaO § 128 RdNr 10), indem es dem Gutachten der Dr.J. gefolgt ist, obwohl diese auf orthopädischem Gebiet nicht über die erforderliche Fachkunde verfügt hat. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind auch dadurch verletzt, dass sich das SG über die Feststellungen der Sachverständigen Dr.J. bezüglich der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B ohne ausreichende Begründung hinweggesetzt hat. Die vom SG für die Ablehnung des Merkzeichens herangezogene Begründung, wegen der Sturzneigung der Klägerin und ihren Angaben deshalb regelmäßig mit dem Auto zu fahren, bestehe kein Bedürfnis für eine weitere Gewährung des Anspruches auf eine unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson in öffentlichen Verkehrsmitteln, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Es ist vielmehr offensichtlich, dass der Anspruch der Klägerin nicht deshalb verneint werden kann, weil die Klägerin - ohne in Besitz des Merkzeichens B zu sein - öffentliche Verkehrsmittel nicht benutzt.

Das SG hat auch die rechtlichen Voraussetzungen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 SGB X verkannt. Nach § 48 SGB X ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Ein Bescheid, mit dem der GdB nach § 48 SGB X wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse herabgesetzt worden ist, wirkt nicht auf Dauer, weil er sich im teilweisen Entzug des vormals festgestellten GdB erschöpft. Für die Beurteilung einer dagegen gerichteten reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) ist maßgeblich, ob der Herabsetzungsbescheid bei seinem Erlass der Sach- und Rechtslage entsprochen hat (vgl BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 7 mwN). Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung vorliegt ist ein Vergleich zwischen den objektiven Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung der Leistung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung (von Wulffen SGB X 4.Auflage § 48 RdNr 7). Das SG hat von der Sachverständigen eine gutachtliche Äußerung zum Vergleich der Verhältnisse im Zeitpunkt der Neufeststellung und der gerichtsärztlichen Begutachtung abverlangt. Es wurden somit medizinische Sachverhalte herangezogen, die für die Frage einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 SGB X unerheblich sind. Wegen der fehlerhaften Fragestellung an die Sachverständige ist das Gutachten nicht verwertbar. Es wird daher auch auf internistischem Gebiet eine erneute Begutachtung erforderlich sein.

Die festgestellten Verfahrensfehler sind wesentlich, da das angefochtene Urteil auf ihnen beruhen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung anders entschieden hätte.

Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein (aaO § 159 Anm 5). In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen der notwendigen umfangreichen Beweisaufnahme (Sachaufklärung durch Einholung eines orthopädischen und internistischen Gutachtens) eine Zurückverweisung für geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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