L 18 SB 57/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 SB 810/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 57/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 07.06.1999 aufgehoben und der Bescheid des Beklagten vom 30.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.11.1998 abgeändert.
II. Der Beklagte wird verurteilt, die Behinderungen des Klägers ab 20.08.1998 mit einem GdB von 50 zu bewerten.
III. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 40 zusteht.

Bei dem am 1944 geborenen Kläger waren mit Bescheid vom 01.04.1986 als Behinderungen mit einem GdB von 40 anerkannt: 1. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20) 2. Karpaltunnelsyndrom beiderseits, linksbetont (Einzel-GdB 20) 3. Hüft- und Kniegelenksarthrose, Krampfaderleiden (Einzel-GdB 20) 4. Sehbehinderung (Einzel-GdB 10) 5. Hautmykose (Einzel-GdB 10).

Auf einen Antrag auf Neufeststellung vom 20.08.1998 stellte der Beklagte nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen des Klägers nach Aktenlage mit Bescheid vom 30.09.1998 als weitere Behinderung "6. Funktionsbehinderung des Kniegelenkes rechts" mit einem Einzel-GdB von 10 unter Beibehaltung des Gesamt-GdB von 40 fest. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27.11.1998).

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth hat der Kläger einen höheren GdB als 40 begehrt. Das SG hat den Kläger von dem Chirurgen Dr.K.B. terminsärztlich untersuchen lassen (Gutachten vom 07.06.1999). Dieser hat - in Beantwortung der Beweisfrage in der Beweisanordnung des SG vom 28.03.2000 - eine wesentliche Änderung im Vergleich zu den für den Bescheid vom 30.09.1998 maßgeblichen Verhältnissen verneint. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 07.06.1999 abgewiesen und sich auf das Gutachten des Dr.K.B. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und weiterhin einen höheren GdB als 40 begehrt. Er hat insbesondere gerügt, Dr.K.B. habe seine durch eine Lyme-Borreliose im 3.Stadium verursachten ständigen Kniebeschwerden rechts nicht erkannt. Auch sein seelischer Zustand sei nicht berurteilt worden.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers beigezogen und den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof.Dr.Th.G. mit Gutachten vom 27.06.2000 gehört. Dieser hat den Gesundheitsstörungen des Klägers auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet nur untergeordnete Bedeutung beigemessen und die Einschätzung des GdB von den chirurgisch-orthopädisch oder internistisch zu beurteilenden Beschwerden des Bewegungsapparates abhängig gemacht. Für das sehr leichte Karpaltunnelsyndrom links mit nächtlichen Missempfindungen, ohne neurographische Normabweichungen hat er einen GdB von 10 angesetzt. Dem zeitweiligen Spannungskopfschmerz, den sehr leichten Nervenwurzelausfallserscheinungen der Nervenwurzel L 4 und einer leichtgradigen depressiven Anpassungsstörung auf die Körperbeschwerden hat er keinen eigenständigen GdB zugeordnet.

Einer vom Senat vorgesehenen ambulanten orthopädischen Begutachtung hat sich der Kläger nicht unterziehen wollen. Daraufhin hat der Senat von dem Orthopäden Dr.A.D. ein Gutachten nach Aktenlage vom 20.09.2000/06.03.2001 eingeholt. Dieser hat zusätzlich zu den vom Beklagten festgestellten Behinderungen für die chronisch rückfällige Entzündung des rechten Knies mit Gelenkergüssen bei Lyme-Arthritis einen Einzel-GdB von 30 angenommen und den Gesamt-GdB - wegen einer ungünstigen wechselseitigen Beziehung des Wirbelsäulen-Leidens und des rechtsseitigen Kniegelenksleidens - mit 50 eingeschätzt.

Der Beklagte hat sich gegen die Annahme eines Gesamt-GdB von 50 gewandt (versorgungsärztliche Stellungnahmen des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie PD Dr.K. vom 13.11.2000 und des Chirurgen Dr.H. vom 16.11.2000/10.04.2001).

Der Kläger beantragt (sinngemäß), das Urteil des SG Bayreuth vom 07.06.1999 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 30.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.11.1998 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, für die bei ihm festgestellten Behinderungen einen GdB von 50 festzusetzen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 07.06.1999 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50.

Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Voraussetzung für die Feststellung, ob eine Änderung des GdB vorliegt, ist ein Vergleich zwischen den gesundheitlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der bindend gewordenen letzten bescheidmäßigen Feststellung des GdB und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung. Die letzte bindende Feststellung des GdB erfolgte mit Bescheid vom 01.04.1986. Dieser Bescheid ist als Vergleichsbescheid heranzuziehen und nicht - wie das SG fälschlicherweise angenommen hat - der angefochtene Bescheid vom 30.09.1998.

In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Behinderungen mit einem GdB von 40 im Bescheid vom 01.04.1986 maßgeblich waren, ist eine wesentliche Verschlimmerung dergestalt eingetreten, dass die Behinderungen des Klägers ab 20.08.1998 (Antragstellung) mit einem GdB von 50 zu bewerten sind.

Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem von ihm eingeholten Sachverständigengutachten des Orthopäden Dr.A.D ... Danach besteht beim Kläger neben Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), dem linksbetonten beidseitigen Karpaltunnelsyndrom (Einzel-GdB 20), einer Arthrose und Neigung zu Gelenkentzündungen (Einzel-GdB 20), insbesondere eine chronisch rückfällige Entzündung des rechten Kniegelenkes mit Gelenkergüssen (Einzel-GdB 30). Während der Versorgungsarzt Dr.H. die Bewertung der Behinderungen des rechten Kniegelenkes und der Wirbelsäule mit Einzel-GdB-Werten von 30 und 20 für zutreffend hält, bewertet er das Karpaltunnelsyndrom lediglich mit einem GdB von 10 und meint deshalb, die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers verneinen zu müssen. Zudem geht er davon aus, dass die Annahme einer "Arthrose und Neigung zu Gelenkentzündungen" mit einem weiteren Einzel-GdB von 20 eine unzulässige Doppelbewertung darstelle. Der Senat teilt diese Bedenken nicht. Zwar hält auch Dr.A.D. die Bewertung des linksbetonten Karpaltunnelsyndroms mit einem Einzel-GdB von 20 für relativ hoch, belässt diesen Einzel-GdB aber letztlich doch bei 20. Die weitere Behinderung "Arthrose und Neigung zu Gelenkentzündungen" stellt keine unzulässige Doppelbewertung dar, da dieses Beschwerdebild dem Krankheitsbild der beim Kläger bestehenden Lyme-Arthritis entspricht. Bei dieser Erkrankung sind - wie auch beim Kläger - allgemeine rückfällige Gelenkbeschwerden an Schultern, Ellbogen, Hand- und Fingergelenken, Hüftgelenken, Knien und Füßen zu berücksichtigen.

Der Senat folgt dem Vorschlag des Dr.A.D. , die Behinderungen des Klägers mit einem Gesamt-GdB von 50 zu bewerten. Dr.A.D. folgert die Schwerbehinderteneigenschaft zu Recht aus einer ungünstigen wechselseitigen Beziehung des Wirbelsäulenleidens und des rechtsseitigen Kniegelenksleidens. Zwar dürfen nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 Rdnr 19 Abs 1 die einzelnen GdB-Werte grundsätzlich nicht addiert werden und führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 oder 20 bedingen nur in Ausnahmefällen zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (so aaO Abs 4). Ein solcher Ausnahmefall ist hier aber anzunehmen. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbehinderung dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (aaO Abs 3). Das Knieleiden rechts rechtfertigt entsprechend den Feststellungen des Dr.A.D. für sich allein die Annahme eines Einzel-GdB von 30. Der Sachverständige hat diesen Teil-GdB zu Recht in Anlehnung an das Vergleichsbeispiel der AHP 26.18 S 152 "ausgeprägte Knorpelschäden der Kniegelenke ... mit anhaltenden Reizerscheinungen einseitig mit Bewegungseinschränkung 20-40" gebildet. Wegen des ungünstigen Zusammenwirkens der Funktionsbeeinträchtigungen des rechten Knies und der Wirbelsäule ist die Annahme eines GdB von 50 gerechtfertigt. Der Kläger ist seitens der Wirbelsäule aufgrund der ausgeprägten Spondylochondrose mit Bandscheibenverschmälerung L 4/5 und vermutlichen rückfälligen Ischialgien im linken Bein bei allen Rumpfbewegungen, insbesondere iS des Bückens nach vorne, behindert. Aufgrund des Kniebefundes kann der Kläger nicht kompensatorisch durch Hockstellung Funktionen verrichten, die seitens der Wirbelsäule schlechter durchführbar sind. Darüber hinaus ist der Kläger vergleichsweise aufgrund des Knie- und Wirbelsäulenbefundes in funktioneller Hinsicht etwa einem Unterschenkelamputierten mit noch genügender Funktionstüchtigkeit des Stumpfes und der Gelenke gleichzusetzen, bzw während der nachweislich häufigen Phasen mit Kniegelenksentzündungen sogar hinsichtlich der Gehfähigkeit schlechter gestellt. Der Senat hält deshalb grenzwertig einen Gesamt-GdB von 50 für vertretbar.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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