L 17 U 119/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 203/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 119/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 31.01.2001 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 17.02.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.1999 wird die Beklagte verurteilt, eine um 10 vH erhöhte Verletztenrente zu gewähren.
II. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Gewährung einer Schwerverletztenzulage nach § 582 Reichsversicherungsordnung (RVO) hat. Der am 1965 geborene Kläger, der keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, arbeitete früher als Schlosser, Montagehelfer, Produktionshelfer sowie im Rohstoffhandel. Seit August 1991 war er als Subunternehmer im Gerüstbau selbstständig tätig. Er erlitt am 09.11.1995 einen Wegeunfall. In der Zeit ab 09.11.1995 war er arbeitsunfähig krank bzw nahm erfolglos an Umschulungsmaßnahmen teil. Nach Einholung von Gutachten des Chirurgen Prof. Dr.V.B. und des Nervenarztes Dr.L.N. (beide Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik M.) vom 02.08.1996, des HNO-Arztes Dr.C.H. (M.) vom 12.04.1997, des Chirurgen Prof.Dr.E. (Klinikum M.) vom 20.01.1998/ 07.07.1998, des Nervenarztes Dr.H.W.F. (W.) vom 07.04.1998/02.06.1998/ 23.11.1998, des HNO-Arztes Dr.A.M. (F.) vom 15.04.1998, des Augenarztes Dr.G. (S.-Krankenhaus F.) vom 14.04.1998, sowie der Dipl.-Psychologin C.M.N. (A.-Klinik W.) vom 23.05.1998 gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 17.02.1999 Verletztenrente ab 13.10.1997 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH. Aufgrund des unfallbedingten erstgradig offenen Bruches des Schädeldaches im Bereich der rechten Schläfe mit Hirnquetschung sowie der Schultergelenkssprengung rechts erkannte sie als Folgen des Unfalles an: Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk - insbesondere bei Vorwärts- und Seitwärtsbewegung, Instabilität des rechten Schultergelenkes im Sinne einer Rockwood-II-Instabilität sowie klinisch bestehendes Subluxations-Phänomen im rechten Schulterhauptgelenk, Kraftminderung bei Außendrehbewegung, reizlose Narbenbildung im Bereich des rechten Schultergelenkes nach Schultergelenkssprengung rechts, leichte Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen, Wesensänderung mit verminderter Dauerbelastbarkeit im Sinne einer Hirnleistungsschwäche, rechtsseitige Hörminderung und dauerhafte Ohrgeräusche mit Konzentrations- und Schlafstörungen nach erstgradig offenem Bruch des Schädeldaches mit Hirnquetschung. Im anschließenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger eine Erhöhung der Verletztenrente um 10 vH geltend, da er Schwerverletzter sei und keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit habe. Mit Bescheid vom 27.05.1999 wies die Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, die Unfallfolgen seien nicht die rechtlich wesentliche Ursache für die Unfähigkeit des Klägers, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Außerdem sei sein Erwerbsleben durch die Unfallfolgen nicht endgültig beendet worden. Er habe noch Leistungen des Arbeitsamtes bezogen und damit dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden.

Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhoben und beantragt, den Rentenbetrag nach § 57 Sozialgesetzbuch - Siebtes Buch (SGB VII) um 10 vH zu erhöhen. Er hat vorgetragen, seine Unfähigkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, könne nur in durch den Unfall verursachten Beeinträchtigungen gesehen werden. Die beim ihm vorwiegend psychischen Probleme, insbesondere die mangelnde Konzentrationsfähigkeit, seien durch die traumatischen Erlebnisse des Unfalls verursacht. Zudem habe er keinen Anspruch auf eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Urteil vom 31.01.2001 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, der Kläger genieße in der Rentenversicherung keinen Berufsschutz und sei auf alle Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Zwar sei er aufgrund der eingeholten Gutachten für höher qualifizierte Umschulungsmaßnahmen nicht mehr geeignet. Es ergebe sich aber kein Hinweis, dass aus medizinischen Gründen sein Erwerbsleben als beendet angesehen werden müsse. Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, er könne eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben und sei aus gesundheitlichen Gründen endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden. Er leide wegen der schwerwiegenden Folgen des offenen Schädelbruches an täglichen Kopfschmerzen, Tinnitus, Gleichgewichts-, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Die Symptomatik äußere sich auch in einer depressiven Verstimmung mit deutlichem Leistungsversagen, einer Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung sowie einer leichten Wesensänderung. Der Senat hat die Akten des Arbeitsamtes Aschaffenburg, des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg, der Landesversicherungsanstalt Westfalen sowie der G. Versicherung zum Verfahren beigezogen. Sodann hat der Senat von der Nervenärztin Dr.P. ein Gutachten vom 25.01.2002 eingeholt. Diese hat bei dem Kläger eine somatoforme Schmerzstörung mit Analgetikaabusus und depressiver Anpassungsstörung bei Primärpersönlichkeit mit depressiven Zügen, eine diskrete kognitive Störung sowie einen Tinnitus und eine diskrete Hörminderung rechts als unfallbedingte Gesundheitsstörungen festgestellt. Tätigkeiten des Klägers als Gerüstbauer oder ähnlichem hat sie für nicht mehr zumutbar erachtet, leichte körperliche und psychisch nicht belastende Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von 8 Stunden täglich hat sie bei ihm jedoch für möglich gehalten.

Die LVA Westfalen als zuständiger Träger der gesetzlichen Rentenversicherung hat mit Bescheid vom 12.07.1996 einen Antrag des Klägers auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit abgelehnt, da zwar die Wartezeit, jedoch nicht die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Aus diesem Grunde sei auch nicht die Frage geprüft worden, ob Erwerbsunfähigkeit vorliegt.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 31.01.2001 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 17.02.1999 idF des Widerspruchsbescheides vom 27.05.1999 zu verurteilen, die Verletztenrente nach § 57 SGB VII um 10 vH zu erhöhen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 31.01.2001 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der Akten des Arbeitsamtes Aschaffenburg, des Amtes für Versorgung und Familienförderung Würzburg und der LVA Westfalen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und auch begründet. Entgegen der Auffassung des SG hat der Kläger einen Anspruch auf eine Schwerverletztenzulage und damit Erhöhung der Verletztenrente um 10 vH gemäß § 582 RVO, da ihm der allgemeine Arbeitsmarkt aufgrund einer Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen verschlossen ist. Anzuwenden sind im vorliegenden Fall noch die Vorschriften der RVO, da sich der Versicherungsfall (Arbeitsunfall) vor dem 01.01.1997 ereignet hat (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII ). Kann ein Schwerverletzter im Sinne des § 583 Abs 1 RVO infolge des Arbeitsunfalles einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgehen und erhält er keine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, so erhöht sich die Verletztenrente um 10 vH (§ 582 RVO). Mit dieser Regelung will der Gesetzgeber einen Teilausgleich für die Entgelteinbußen von Schwerverletzten erreichen, die keinen Ersatz durch Renten aus eigener Rentenversicherung erhalten.

Der Kläger ist Schwerverletzter im Sinne des § 583 Abs 1 RVO. Mit Bescheid vom 17.02.1999 wurde ihm Verletztenrente nach einer MdE von 50 vH gewährt. Er hat auch keinen Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, weder aus der deutschen Rentenversicherung (Bescheid vom 12.07.1996) noch aus der niederländischen Versicherung (Bescheid vom 08.08.1996). Bei ihm fehlt es, obwohl er die Wartezeit nach deutschem Recht (60 Kalendermonate) erfüllt hat, an den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach §§ 43 Abs 1 Nr 2 bzw 44 Abs 1 Nr 2 SGB VI idF bis 31.12.2000. In den letzten 5 Jahren vor der Antragstellung zur gesetzlichen Rentenversicherung hat er nicht mindestens 3 Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt. Ein Anspruch auf die Regelaltersrente entsteht erst mit Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 35 SGB VI).

Der Kläger erfüllt auch die dritte Voraussetzung für eine Erhöhung der Verletztenrente, da er auf Dauer keine Erwerbstätigkeit mehr wahrnehmen kann. Die Erwerbstätigkeit muss in vollem Umfang und auf Dauer unmöglich sein (Kass Komm - Ricke - § 582 RdNr 4 RVO; BSGE 36, 96). Dabei muss zwischen der Unmöglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und dem Versicherungsfall ein ursächlicher Zusammenhang im Sinne der für die Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung bestehen. Beim Zusammentreffen mit bereits bestehenden Leiden müssen die Folgen des Versicherungsfalles rechtlich wesentlich dafür sein, dass eine Erwerbstätigkeit nicht mehr ausgeübt werden kann (Lauterbach, UV-SGB VII, § 57 RdNr 9). Diese Voraussetzung ist erfüllt. Zwar besitzt der Kläger nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr.P. grundsätzlich noch das Leistungsvermögen für eine vollschichtige leichte Tätigkeit. Die zahlreichen unfallbedingten Funktionseinschränkungen stellen aber die rechtlich wesentliche Ursache dafür dar, dass ihm trotz seines Restarbeitsvermögens der Arbeitsmarkt verschlossen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG für die gesetzliche Rentenversicherung kann der Arbeitsmarkt bei noch vorhandener Möglichkeit, einer Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit vollschichtig nachzugehen und mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen, verschlossen sein, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen vorliegt und nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen gearbeitet werden kann (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 19, 22; KK [Stand: Januar 2000] - Niesel § 43 SGB VI Rdnr 88, 89). Davon ist hier auszugehen. Alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes, auch einfachster Art, wie zB leichte Sortier- oder Montiertätigkeiten, können vom Kläger wegen der schwerwiegenden Unfallfolgen nicht mehr geleistet werden. Denn diese sind mit Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit und an das Konzentrations- sowie Reaktionsvermögen verbunden. Die ausgeprägte psychosomatische Erkrankung mit depressiver Verstimmung hat beim Kläger aber Konzentrations- und deutliche Merkfähigkeitstörungen sowie eine Einengung des inhaltlichen Denkens auf die Schmerzbeeinträchtigung und den Tinnitus zur Folge. Der Kläger leidet unter erheblichen Insuffizienzgefühlen, sein Antrieb und seine Psychomotorik sind gemindert und er hat Angst sich zu blamieren. Dadurch scheiden bereits Tätigkeiten mit Publikumsverkehr aus. Auch Arbeiten unter Zeitdruck, Fließband- oder Akkordbedingungen sowie in Nachtschicht müssen vermieden werden. Der Kläger kann kein Kraftfahrzeug mehr benutzen und hat seinen Führerschein aufgrund unfallverursachter Ängste zurückgegeben. Körperlich schwere und mittelschwere Tätigkeiten, insbesondere mit schwerem Heben und Tragen kommen für ihn wegen der Funktionseinschränkungen des rechten Schultergelenkes ohnehin nicht in Betracht. Überkopfarbeiten, Tätigkeiten auf Treppen, Leitern und Gerüsten sowie an verletzungsgefährdenden Maschinen sind wegen der Neigung zu Tinnitus und Schwindel ausgeschlossen. Deswegen ist eine Berufsausübung mit ausschließlichem oder überwiegendem Gehen und Stehen zu vermeiden. Die Hörminderung verbietet Tätigkeiten mit Anforderungen an das beidseitige Hörvermögen sowie Arbeiten unter erhöhter Lärmeinwirkung ohne ausgleichenden Hörschutz. In Anbetracht dieser Summierung von schweren spezifischen Funktionseinschränkungen sind dem Kläger daher wirtschaftlich verwertbare Tätigkeiten unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen nicht mehr möglich. Bereits deshalb kann von ihm eine Einarbeitung in einen neuen Beruf nicht mehr erwartet werden, wie die erfolglos durchgeführten Berufsförderungsmaßnahmen des Arbeitsamtes zeigen. Wollte man ihn aber dennoch veranlassen, eine entsprechende Tätigkeit wahrzunehmen, ginge dies auf Kosten seiner Restgesundheit, was ihm nicht zumutbar wäre. Dies würde dem Schutzgedanken des § 582 RVO widersprechen.

Nach alledem hat der Kläger einen Anspruch auf Erhöhung seiner Verletztenrente um 10 vH. Das Urteil des SG Würzburg vom 31.01.2001 war daher aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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