L 18 U 171/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 144/93
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 171/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 25.02.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes A. S. (S) Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) nach Nrn 1301 (hier: Krebs der Harnwege durch aromatische Amine) und 4203 (Adeno-Carcinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- oder Buchenholz) der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) hat und ihr Verletztenrente für die Zeit von Juni 1990 bis Juli 1991 sowie Hinterbliebenenleistungen zustehen.

Der am 1936 geborene und am 17.07.1991 verstorbene S war seit 1950 bei der Karosseriefabrik V. (W.) beschäftigt. Von 1950 bis 1953 absolvierte er eine Lehre als Fahrzeugstellmacher, danach war er von 1954 bis 1982 im Modell- und Formenbau tätig. Dabei verarbeitete er Epoxidharz und Buchenholz. Von 1982 bis 09.01.1990 war er freigestellter Betriebsrat. Anschließend war er arbeitsunfähig und verstarb am 17.07.1991 an einem invasiven Urothel-Carcinom der Harnblase bei stummer Niere links und Zustand nach Radio-Chemotherapie bei Hypopharynx-Carcinom.

Im Juni 1990 ging bei der Beklagten die Anzeige des Hausarztes Dr.R. über eine Berufskrankheit des S ein. Die Beklagte zog Unterlagen der behandelnden Ärzte und Kliniken bei, Auskünfte der Firma S.-Chemie über die Rezepturen der von dieser Firma vertriebenen Epoxidharze seit 1981 und weitere Auskünfte der Firma H. GmbH mit den Sicherheitsblättern der von dort hergestellten Produkte. Dann holte sie von dem Pathologen Prof. Dr.M. eine Gutachten vom 30.11.1992 ein. Dieser stellte als Grunderkrankung des S ein Carcinom der Harnblasenschleimhaut (Urothel-CA), ein Carcinom der Schlundregion (Hypopopharynx-CA) sowie eine Leberzirrhose fest. Der Tod des S sei mittelbare Folge des Harnblasen-Carcinoms gewesen. Er sei bei seinen Tätigkeiten der Einwirkung von Buchenholzstaub, Epoxidharzen und Lösungsmitteln ausgesetzt gewesen. Ein Zusammenhang zwischen dem beruflichen Umgang mit Kunstharzen und dem Auftreten des Harnblasen-Carcinoms sei jedoch nicht wahrscheinlich, da in der arbeitsmedizinischen Wissenschaft eine krebserzeugende Wirkung von Epoxidharzen nicht nachgewiesen sei. Ein gehäuftes Auftreten von bestimmten Tumoren, insbesondere Harnblasen-Carcinomen, sei nicht bekannt. Auch eine berufliche Verursachung des Tumors der Schlundregion durch die Inhalation von Holzstaub scheide aus. Bei der Einwirkung von Buchenholzstäuben seien nur Adeno-Carcinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen als BK nach Nr 4203 anerkannt. Durch Buchenholzstäube hervorgerufene Carcinome seien aber ausschließlich als drüsig differenzierte Carcinome darzustellen, wo hingegen das bei S gefundene feingewebliche Bild des Tumors für ein Plattenepithel-Carcinom spreche. Unter Berufung auf das Gutachten des Prof.Dr.M. lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen sowie Hinterbliebenenleistungen mit Bescheid vom 12.02.1993 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14.07.1993).

Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg hat die Klägerin die Anerkennung und Entschädigung der Krebserkrankungen des S als BK und die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen begehrt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Beklagte habe nicht genügend berücksichtigt, dass S mehr als 20 Jahre ausschließlich mit Kunststoffen wie Epoxidharzen und Aminoplasten sowie Phenolharzen gearbeitet habe, wobei der Grundbaustein Epichlorhydrin als krebserzeugende Arbeitsstoffe in Gruppe III eingestuft werde. Bei den Duroplasten gebe es Verbindungen, die unter Zugabe von Hexamethylentetramin aushärten und dabei Formaldehyd abspalten, wie Melaminharz, Harnstoffharz und Novolake. Sowohl Formaldehyd als auch Dimethylanilin seien unter der Rubrik Stoffe mit begründetem Verdacht auf krebserzeugendes Potenzial geführt. Es könne somit wohl mit Sicherheit gesagt werden, dass die Basis für die Krebserkrankungen nicht - wie die Beklagte behauptet - im Alkohol- und Nikotinkonsum des S liege, sondern durch die jahrelange Tätigkeit mit diesen Stoffen begründet sei. Darüber hinaus seien zwei Fälle von Mitarbeitern bekannt, die mit den gleichen Materialien gearbeitet hätten und ebenfalls auf Grund von Krebserkrankungen arbeitsunfähig geworden seien.

Nach Beiziehung von Behandlungsunterlagen des S und einer Auskunft des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 21.08.1995 hat das SG vom PD Dr.G. ein Gutachten vom 06.11.1997/ 15.01.1999 eingeholt. PD Dr.G. hat die Leberzirrhose, das Urothel-Carcinom und das Plattenepithel-Carcinom als BK anerkannt wissen wollen und den Tod des S auf diese von ihm angenommenen BK en zurückgeführt. Dabei ist er davon ausgegangen, dass S aromatischen Aminen ausgesetzt gewesen sei. Der TAD der Beklagten hat demgegenüber ermittelt, dass in den Produkten, deren Einsatz bei der Firma V. nachgewiesen worden sei, keine aromatischen Amine enthalten waren (Schreiben der Beklagten vom 09.12.1997, 01.04.1998 und 19.05.1998).

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 25.02.1999 abgewiesen und die Anerkennung einer BK nach Nr 1301 der Anl 1 zur BKV mit der Begründung abgelehnt, dass der notwendige Nachweis im Sinne des Vollbeweises des Kontakts mit aromatischen Aminen fehle. Das Vorliegen einer BK nach Nr 4203 hat es ebenfalls verneint, weil S an einem Plattenepithel-Carcinom erkrankt gewesen sei, das nicht unter diese BK falle. Ansprüche nach § 551 Abs 2 RVO (sog. Quasiberufskrankheiten) hat das SG verneint.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und gerügt, die Beklagte habe lediglich über die von S selbst angegebenen Produkte, mit denen er in Berührung gekommen sei, Auskünfte bei den Herstellerfirmen eingeholt. Sie hätte jedoch bei pflichtgemäßem Ermessen bereits im Jahr 1990 noch weitergehende Auskünfte des Arbeitgebers einholen müssen, mit welchen sonstigen Produkten S ab 1950, insbesondere im Zeitraum von 1963 bis 1982 in Berührung gekommen sei. Das Unterlassen dieser Maßnahme sei zumindest ein fahrlässiges Verschulden der Beklagten, zumal ihr der drohende Konkurs ihrer Mitgliedsfirma nicht entgangen sein könne und sie sich auch nicht auf die Angaben des verstorbenen S alleine berufen könne, da dieser gesetzliche Ermittlungspflichten der gesetzlichen Unfallversicherung nicht wirksam habe übernehmen können. Dem SG hätte sich daher die Frage aufdrängen müssen, ob nicht vorliegend eine Beweiserleichterung hätte zur Anwendung kommen müssen. Außerdem hat die Klägerin angeregt, ein (weiteres) medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen.

Der vom Senat von Amts wegen gehörte Prof.Dr.B. hat im Gutachten vom 19.03.2001 das Vorliegen einer Listenkrankheit des S nach der BKV für nicht gegeben erachtet und den Tod des S nicht mit Wahrscheinlichkeit auf eine BK zurückgeführt. Zur Beantwortung der Frage, ob das Harnblasen-Carcinom des S als BK zu entschädigen sei, ist er zwar von dem berufsbedingten Kontakt des S mit Buchenholzstaub, Acrylnitrit und Epichlorhydrin ausgegangen, hat aber darauf hingewiesen, dass über die Verursachung eines Harnblasen-Carcinoms durch diese Kontaktstoffe selbst in der Literatur aus neuester Zeit nicht berichtet werde. Prinzipiell wäre es möglich, dass bei Mischexpositionen (wie sie offensichtlich bei S vorgelegen hätten) auch andere Krebslokalisationen aufträten als bei Einwirkung von Einzelstoffen. Aussagen darüber, wie sich dies unter den konkreten Bedingungen am Arbeitsplatz des S ausgewirkt haben könnte, wären jedoch reine Spekulation. Aus Sicht des toxikologischen Fachgebiets fehlten somit bei S die expositionsmäßigen Voraussetzungen, um das Harnblasen-Carcinom als BK anerkennen zu können. Nach den Obduktionsbefunden sei es auch wenig wahrscheinlich, dass zwischen dem Hypopharynxcarcinom des S und seinem Tod eine Kausalbeziehung bestanden habe.

Der Sachverständige gem § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Prof.Dr.H. hat in seinem Gutachten vom 11.01.2002/20.02.2002 die haftungsausfüllende Kausalität hinsichtlich eines Harnblasen-Carcinoms des S im Hinblick auf dessen Rauchgewohnheiten verneint, hat aber dennoch das simultan entstandene Doppelcarcinom mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die berufsbedingte Exposition zu krebserzeugenden Stoffen am Arbeitsplatz und nach dreißigjähriger Exposition zurückgeführt sowie - ohne weitere Begründung - die Auffassung vertreten, dass die Einwirkung der BK den Eintritt des Todes um mindestens ein Jahr beschleunigt habe.

Die Klägerin hat ihr Klagebegehren auf die Zuerkennung einer BK gem § 551 Abs 1 RVO beschränkt.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß), das Urteil des SG Würzburg vom 25.02.1999 und den Bescheid der Beklagten vom 12.02.1993 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Krebserkrankungen des S als BK nach § 551 Abs 1 RVO iVm mit der BKV anzuerkennen und ihr als Rechtsnachfolgerin des S Lebzeitenrente von Juni 1990 bis Juli 1991 und Hinterbliebenenleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Würzburg vom 25.02.1999 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Akte der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK nach ihrem verstorbenen Ehemann S. Entschädigungs- und Hinterbliebenenleistungen sind daher nicht zu gewähren.

Gem § 212 Sozialgesetzbuch (SGB) - Siebtes Buch (VII) - sind die Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) für Versicherungsfälle vor dem 01.01.1997 weiter anzuwenden.

Nach § 553 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine BK. BK en sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung bezeichnet (sog Listenkrankheiten) und die der Versicherte bei einer versicherten Tätigkeit erleidet.

Die Anerkennung einer BK nach 4104 (im Sozialgerichts-Urteil abgehandelt) nach der ab 01.12.1997 geltenden BKV vom 31.10.1997 (Kehlkopfkrebs mit Asbesteinwirkung am Arbeitsplatz) scheidet unabhängig von der fehlenden Asbestbelastung des S bereits wegen der gem § 6 BKV beschränkten Rückwirkung auf Versicherungsfälle nach dem 31.12.1992 aus (Kehlkopf-CA des S im Jahr 1990). Ebenso kommt die Anerkennung einer BK wegen einer Leberzirrhose nicht in Betracht, weil diese keine Listenkrankheit im Sinne der BKV darstellt. BK en nach § 551 Abs 2 RVO macht die Klägerin nicht mehr geltend.

Zu den durch die Rechtsverordnung erfassten Listenkrankheiten zählen die unter Nr 1301 der Anlage zur BEKV erfassten Schleimhautveränderungen, Krebs- oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine. Bei S liegen die Voraussetzungen für eine Anerkennung der BK Nr 1301 aber nicht vor, da nicht nachgewiesen ist, dass er während seines Berufslebens aromatischen Aminen ausgesetzt war. Die von S angegebenen Produkte haben ausweislich der vom TAD der Beklagten bei den Herstellerfirmen durchgeführten Ermittlungen auch in der Zeit vor 1980 keine aromatischen Amine enthalten. Soweit die Klägerin geltend macht, dass ihr eine Beweiserleichterung für die Frage, mit welchen sonstigen Produkten S ab 1950, insbesondere von 1963 bis 1982 in Berührung gekommen sei, zu gewähren sei, weil die Beklagte verpflichtet gewesen sei, für diese Zeiträume weitergehende Auskünfte des (1992 in Konkurs gegangenen) Arbeitgebers einzuholen, vermag ihr der Senat nicht zu folgen. Die Beklagte hat nämlich ihre Ermittlungspflichten nicht verletzt. Die Beweisführung ist nicht durch ein pflichtwidriges Unterlassen der Beklagten unmöglich gemacht worden. Für die Ermittlungpflichten der Behörde im Verwaltungsverfahren nach § 20 Abs 1 Satz 2 SGB X gelten im Wesentlichen die gleichen Grundsätze wie für die Ermittlungspflichten des Gerichts nach § 103 SGG. Das Ausmaß der Ermittlungen steht im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde (BSG SozR 3-1750 § 444 Nr 1 unter Verweisung auf Hauck/ Haines, SGB X, § 20 RdNr 6). Die Behörde bestimmt mithin Art und Umfang der Ermittlungen. Bei ihren Nachforschungen hat sie sich allein an die Notwendigkeiten des jeweiligen Sachverhalts zu orientieren. Sie ist nicht gezwungen, auch in unerhebliche Richtungen Prüfungen vorzunehmen. Innerhalb dieser Grenzen hat die Beklagte den Sachverhalt vorliegend vollständig ermittelt. Sie konnte zunächst davon ausgehen, dass S - seit 1982 freigestellter Personalrat - zutreffend im Antrag angegeben hat, welche Firmen Produkte zur Verarbeitung in seine Firma geliefert haben. Die von der Rechtsprechung gewährte Beweiserleichterung geht hier nicht so weit, dass im Ergebnis eine Beweislastumkehr eintritt, dh dass die Beklagte nunmehr die Beweislast dafür trüge, dass S n i c h t (irgendwann) mit aromatischen Aminen in Kontakt gekommen ist. Dass eine weitere Sachaufklärung dahingehend, welche weitere Firmen - außer den Firmen S.-Chemie und H.-GmbH - irgendwann den Betrieb des S möglicherweise mit Produkten beliefert haben, die aromatische Amine enthalten haben, im Verwaltungsverfahren wegen des Konkurses der Firma nicht mehr möglich war, ist der Beklagten nicht anzulasten.

Als BK nach Nr 4203 der Anlage zur BKV werden Adeno-Carcinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichen- oder Buchenholz anerkannt. S hat jedoch nicht an einem Adeno-Carcinom der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen gelitten. Die Sachverständigen Prof.Dr.M. , Dr.G. und Prof.Dr.B. haben übereinstimmend festgestellt, dass bei S ein Plattenepithel-Carcinom vorgelegen hat.

Das Gutachten des PD Dr.G. vermag einen Anspruch der Klägerin nach Nr 1301 der Anlage zur BKV nicht zu stützen, da es insoweit unzutreffend davon ausgeht, dass S aromatischen Aminen ausgesetzt gewesen ist. Dem Gutachten des Prof.Dr.H. kann der Senat nicht folgen, da es grob unschlüssig ist. Die Beklagte hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Prof.Dr.H. seine widersprüchlichen Auffassungen nicht begründet hat. Während er im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung des Harnblasen-Carcinoms feststellt, dass die haftungsausfüllende Kausalität nicht gegeben ist, spricht er im Rahmen der Bewertung des Hypopharynx-Carcinoms davon, dass das simultan entstandene Doppelcarcinom "mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die berufsbedingte Exposition zu krebserzeugenden Stoffen an seinem Arbeitsplatz und nach 30-jähriger Expositionszeit entstanden ist". Diese widersprüchliche Auffassung wird nicht weiter begründet. Dies gilt auch für die Feststellung des Prof.Dr.H. , dass die Einwirkung der Berufserkrankung den Eintritt des Todes um mindestens ein Jahr beschleunigt habe.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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