L 19 RJ 537/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 177/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 537/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 13.07.1999 abgeändert. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 13.10.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1998 verurteilt, dem Kläger ab 01.07.1996 die gesetzlichen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger 2/3 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der am 1959 geborene Kläger hat den Beruf des Metzgers erlernt (Prüfung 1978) und war nach Ableistung seines Wehrdienstes von 1979 bis 1996 in diesem Beruf als Lohn- und Kopfschlächter versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 13.05.1996 war er arbeitsunfähig und anschließend arbeitslos.

Vom 02.11. bis 18.12.1996 unterzog sich der Kläger einer stationären Heilmaßnahme in der O.-Klinik. Nach dem Entlassungsbericht wurde er für die Tätigkeit eines Schlächters als (derzeit) nicht geeignet angesehen. Er könne jedoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mittelschwere Arbeiten möglichst im Wechselrhythmus vollschichtig verrichten. Die dem Kläger zumutbar Gehstrecke liege unter einem Kilometer. Auch längeres Stehen über 10 Minuten werde von ihm nur schlecht toleriert. Es werde die Durchführung einer Umstellungsosteotomie empfohlen. Eine berufliche Neuorientierung des Klägers sollte in Betracht gezogen werden.

Am 25.08.1997 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte ließ ihn durch die Orthopädin Dr.B. untersuchen, die im Gutachten vom 26.09.1997 zu dem Ergebnis kam, der Kläger könne in seinem bisherigen Beruf nicht mehr (unter zweistündig) eingesetzt werden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne er leichte und mittelschwere Arbeiten möglichst im Wechselrhythmus in Vollschicht verrichten. Auszuschließen seien Tätigkeiten unter Vibration, Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten und solche mit Gefährdung durch Kälte, Nässe und Hautreizstoffe. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 13.10.1997 ab. Der Kläger könne seinen Beruf als Fleischer und Kopfschlächter zwar nicht mehr verrichten; er könne jedoch zumutbare Verweisungstätigkeiten als Fahrverkäufer im Frischdienst, Verkäufer in einer Wurst- und Fleischabteilung und als Lagerverwalter im Lebensmittelbereich verrichten. Dagegen erhob der Kläger am 12.11.1997 Widerspruch. Die Beklagte nahm ein Gutachten des Dr.S. vom 19.11.1997 bei (erstellt auf Veranlassung des Arbeitsamtes). Auch in diesem Gutachten wurde die Feststellung getroffen, dass der Kläger seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben könne; er sei noch geeignet für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten in wechselnder Arbeitshaltung (ohne häufiges Bücken, ohne einseitige Körperzwangshaltung, ohne Nässe, Kälte und Zugluftexposition). Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 27.01.1998 zurück und verwies den Kläger auf die bereits benannten Tätigkeiten sowie auf Arbeiten eines Registrators.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger am 26.02.1998 Klage beim Sozialgericht Würzburg erhoben. Die von der Beklagten benannten Verweisungstätigkeiten seien für ihn ungeeignet, denn er verfüge nicht über buchhalterische und kaufmännische Kenntnisse.

Das SG nahm einen Befundbericht des Dipl.-Mediziners W. zum Verfahren bei und bestellte den Sozialmediznier Dr.E. zum ärztlichen Sachverständigen. Im Gutachten vom 13.07.1999 beschrieb dieser v.a. orthopädische Befunde: Hüftgelenksbeschwerden beidseits, Bewegungs- und Belastungsbeschwerden im rechten Handgelenk, Bewegungs- und Belastungseinschränkung des linken Schultergelenkes, rezidivierendes LWS-Syndrom mit Funktionsstörung bei nachgewiesenem Bandscheibenprolaps, anamnestisch HWS-Syndrom. Der Kläger sei für leichte Arbeiten in Vollschicht einsatzfähig und für mittelschwere Arbeiten nur zwei Stunden bis unterhalbschichtig. Hinsichtlich des Berufes eines Verkäufers für Fleisch- und Wurstwaren seien dem Kläger teilweise Zwangshaltungen wie Bücken, Hocken oder Überkopfarbeit zuzumuten; allerdings müsse darauf geachtet werden, dass ein gesundheitsangepasster Arbeitsplatz gewählt werde, weil es denkbar sei, dass weitere den Kläger überlastende Tätigkeiten mit der Verkaufstätigkeit verbunden seien. Mit Urteil vom 13.07.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger sei schon nicht berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI. Er könne zwar seinen Beruf als Fleischer, nicht nur in der Variante des Kopfschlächters, nicht mehr ausüben. Er sei jedoch als Facharbeiter verweisbar auf die Tätigkeit eines Verkäufers für Fleisch- und Wurstwaren. Eine Belastungsfähigkeit, wie sie in den berufskundlichen Unterlagen gefordert werde, mit teilweisen Zwangshaltungen, wie Bücken, Hocken und Überkopfarbeit sei beim Kläger gerade noch gegeben. Insbesondere sei der Kläger geeignet für die genannte Variante des sogenannten Fahrverkäufers, der mit einem fahrbaren Verkaufsstand verschiedene Verkaufsstellen bediene. Der Kläger müsse auch als fähig angesehen werden, sich innerhalb einer Zeit von bis zu drei Monaten in eine solche Tätigkeit einzuarbeiten.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 22.10.1999 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung des Klägers. Dieser verlangt weiterhin die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Er sei auch und insbesondere für die Verweisungstätigkeit eines Fachverkäufers für Fleisch- und Wurstwaren nicht geeignet, da es sich hierbei um eine fast ausschließlich stehende Tätigkeit handele. Zudem stünden einer solchen Tätigkeit seine Beschwerden bzw Behinderung am rechten Handgelenk entgegen. Auch verfüge er über keinerlei kaufmännische Vorkenntnisse. Bei seinem Gesundheitszustand sei er einer vollschichtigen Tätigkeit, auch nur leichter Art, überhaupt nicht gewachsen. Der Senat hat Befundberichte des Orthopäden Dr.A. und des Dipl.-Mediziners W. (mit weiteren Unterlagen: Berichte des Nervenarztes Dr.B. , des Radiologen Dr.R. und der Klinik für Handchirurgie B.) zum Verfahren beigenommen.

Auf Veranlassung des Senats haben der Orthopäde Dr.H. das Gutachten vom 13.02.2002 und der Nervenarzt K. das Gutachten vom 07.06.2002 jeweils nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstattet. Dr.H. stellte folgende Diagnosen: Beginnende degenerative Veränderungen der Hüftgelenke beidseits, rezidivierende Arthralgie rechtes Handgelenk (Zustand nach arthroskopischer Revision 1997 bei nur leichter bis mittelgradiger Funktionseinschränkung), rezidivierendes LWS-Syndrom ohne wesentliche neurologische Symptomatik, Zustand nach operativ versorgter Schultereckgelenkssprengung (mittelgradige Funktionseinschränkung), diskrete Verschleißerscheinung der Kniegelenke beidseits (leichte Funktionseinschränkung), beginnender Verschleiß des rechten Sprunggelenkes (leichte Funktionseinschränkung), rezidivierendes HWS-Syndrom (ohne neurologische Beschwerdesymptomatik). Dem Kläger seien vollschichtige Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ohne weiteres möglich; daneben auch überwiegend mittelschwere Arbeit, nur ganz kurzfristig schwere Arbeit. Der Kläger sollte nicht überwiegend in Kälte und Nässe arbeiten. Für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Metzger sei er auf Dauer nicht mehr geeignet, da das negative Leistungsbild doch deutlich überschritten werde; kurzfristig bis zu einer beruflichen Neuorientierung sei aber ein Verbleib im Beruf zumutbar. Die Belastung als Fachverkäufer für Fleisch- und Wurstwaren sei im Vergleich zum Metzger und Kopfschlächter verringert. Da aber in diesen Bereich überwiegend auch stehende und gehende Tätigkeiten auf harten Böden erfolgten, bestehe diesbezüglich auf Dauer ebenfalls keine Eignung. Hinsichtlich einer beruflichen Neuorientierung sei es dem Kläger durchaus zuzumuten im Rahmen einer Weiterqualifikation ganztägig auch im Sitzen an einer Schulungsmaßnahme teilzunehmen. Der Nervenarzt K. nannte als Diagnosen seines Fachgebietes: Chronisches Schmerzsyndrom bei Bandscheibenvorwölbung im Segment LWK 5/SWK 1 und darüber hinaus die vom Orthopäden beschriebenen Gelenkveränderungen betreffend Hüft- und Kniegelenke, sowie des rechten Sprunggelenkes. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht ergäben sich keine Einschränkungen der individuellen Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Auch der Nervenarzt empfahl, eine berufliche Neuorientierung des Klägers zu betreiben. Die Beklagte hält den Kläger weiterhin für geeignet, als Verkäufer für Fleisch- und Wurstwaren zu arbeiten, darüber hinaus auch als Lagerverwalter für Lebensmittel oder als Registrator.

Die Beklagte hat mitgeteilt, dass sie mit Bescheid vom 21.10.2002 Leistungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes in Aussicht gestellt hat (Eingliederungshilfe an den Arbeitgeber).

Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 13.07.1999 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 13.10.1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 27.01.1998 zu verurteilen, Berufsunfähigkeit anzuerkennen und auf den Reha-Antrag vom 10.06.1996 die entsprechenden Leistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des SG Würzburg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel des Klägers erweist sich als begründet.

Nach Auffassung des Senats ist der Kläger zumindest seit Stellung des Reha-Antrags (am 10.06.1996) als berufsunfähig iS des § 43 Abs 2 SGB VI (in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung) anzusehen. Der Kläger erfüllt nach den aktenkundigen Feststellungen der Beklagten auch die sonstigen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung nach § 43, Abs 1 und 3 SGB VI. Mit den ärztlichen Sachverständigen Dr.E. und Dr.H. geht auch der Senat davon aus, dass der Kläger seit 1996 nicht mehr in der Lage ist, seinen erlernten und ausschließlich ausgeübten Beruf des Metzgers, zuletzt als Kopfschlächter, auszuüben. Dies ergibt sich im Wesentlichen aus den orthopädischen Gesundheitsstörungen des Klägers und ist unter den Beteiligten im Übrigen auch unstreitig. Der Kläger ist nur noch in der Lage, körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten in Vollschicht zu verrichten. Mit diesem Leistungsvermögen ist der Kläger als Facharbeiter berufsunfähig, wenn ihm gesundheitlich und sozial zumutbare Verweisungstätigkeiten nicht zur Verfügung stehen oder benannt werden können. Dies ist vorliegend der Fall. Für den überwiegenden Teil der von der Beklagten und vom SG in Aussicht genommenen Verweisungstätigkeiten ist der Kläger schon aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet. So bestehen gegen die Tätigkeit als Fachverkäufer für Fleisch- und Wurstwaren erhebliche medizinische Bedenken. Der ärztliche Sachverständige Dr.H. hat überzeugend herausgestellt, dass der Kläger auf Dauer weder für die ausgeübte Tätigkeit als Metzger einsatzfähig ist und auch den Belastungen als Fachverkäufer für Fleisch- und Wurstwaren auf Dauer nicht gewachsen ist. Im Verkaufsberuf für Fleischereiprodukte fallen überwiegend stehende und gehende Tätigkeiten auf harten Böden an, die den Kläger überfordern. Bereits im Entlassungsbericht nach dem Heilverfahren im Jahre 1996 sind entsprechende Probleme des Klägers aufgezeigt worden, die aus einer deutlichen Einschränkung der axialen Belastbarkeit der gesamten unteren Extremität resultierten; der Kläger konnte längeres Stehen von mehr als 10 Minuten nur schlecht tolerieren. Dazu kommt, dass sich der Verkäufer von Fleischereiwaren auch immer wieder (und nicht nur gelegentlich) in Kühlräumen aufhalten und dort arbeiten muss; beim Transport und der Lagerung der Produkte wird auch Heben und Tragen schwererer Lasten nicht immer zu umgehen sein. Die gesundheitliche Notwendigkeit, länger dauernde Tätigkeiten in Kälte, Nässe und Zugluft zu vermeiden, lässt sich mit Arbeiten in Kühlräumen nicht vereinbaren. Unabhängig davon, dass dem Kläger auch die kaufmännischen Grundkenntnisse für jede Verkaufstätigkeit fehlen, ist er für einen Einsatz als Fachverkäufer für Fleisch- und Wurstwaren aus den vorgenannten Gründen nicht geeignet. Völlig ungeeignet erscheint der Kläger für die ansprochene Tätigkeit eines Fahrverkäufers (mit fahrbarem Verkaufsstand) da er hierbei neben den ebenfalls erforderlichen Geh- und Stehbelastungen auch noch überwiegend den Witterungsbedingungen wie Zugluft, Nässe oder Kälte ausgesetzt wäre. Bedenken hinsichtlich einer Tätigkeit als Lagereiarbeiter/Lagerverwalter hat bereits Dr.E. geäußert. Auch wenn die Beklagte diesbezüglich einen konkreten Arbeitsplatz nicht bezeichnet hat, ist doch davon auszugehen, dass in großen Lagerhallen, zB in der Lebensmittelbranche, überwiegend computergesteuerte Tätigkeiten anfallen. Dazu fehlen dem Kläger jegliche Vorkenntnisse und es erscheint unwahrscheinlich, dass ihm die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten innerhalb von 3 Monaten vermittelt werden könnten. Auch zu dem von der Beklagten zuletzt noch benannten Beruf des Registrators ist zu sagen, dass dem Kläger hierzu sämtliche Kenntnisse fehlen. Für einen Einstieg des Klägers als Registrator in eine höhere Vergütungsgruppe als die Gruppe IX nach dem Bundesangestelltentarif (BAT) oder den vergleichbaren Tarifverträgen der kommunalen Arbeitgeberverbände wird regelmäßig eine längere Ausbildungs- und Einarbeitungszeit als drei Monate zu fordern sein. Weitere dem Kläger objektiv und subjektiv zumutbare Verweisungstätigkeiten sind nicht ersichtlich. Auch die von der Beklagten mit Bescheid vom 21.10.2002 angebotene Eingliederungshilfe weist diesem keine konkret zumutbaren Tätigkeiten oder sonstige berufliche Alternativen zu.

Damit liegen die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen wegen Berufsunfähigkeit vor. Die ärztlichen Sachverständigen beschreiben den Gesundheitszustand des Klägers als in etwa gleichbleibend seit 1997 (Rentenantragstellung), wobei aber - ohne weitere Sachermittlungen - davon ausgegangen werden kann, dass dieser Zustand auch schon bei Stellung des Reha-Antrags im Juni 1996 vorgelegen hat. Die stationäre Heilmaßnahme vom 20.11. bis 18.12.1996 in O. hat die bereits bestehende Berufsunfähigkeit des Klägers nicht beseitigt, so dass der Antrag auf Leistungen zur Rehabilitation als Antrag auf Rente gilt, § 116 Abs 2 SGB VI. Die entsprechenden Leistungen wegen Berufsunfähigkeit (Übergangsgeld oder Rente) stehen dem Kläger daher ab 01.07.1996 zu (§ 99 Abs 1 SGB VI).

Die Beklagte hat dem Kläger 2/3 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten, da der Kläger erst in der mündlichen Verhandlung am 05.02.2003 sein Begehren auf Leistungen wegen Berufsunfähigkeit beschränkt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
Saved