L 8 AL 81/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 18 AL 11/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 8 AL 81/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 19. März 2013 geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die beiden Bescheide der Antragsgegnerin vom 12. Dezember 2012 sowie die beiden Bescheide vom 18. März 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 2013 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 19. März 2013, mit dem dieses es abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid von Arbeitslosengeld anzuordnen, sowie eine Regelungsanordnung dahingehend vorzunehmen, dass dem Antragsteller Arbeitslosengeld zu gewähren ist, ist zulässig und begründet.

Das Rechtsschutzgesuch des Antragstellers ist nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu beurteilen. Hiernach kann das Gericht auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Ein solcher Fall liegt, wie die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers zutreffend erkannt hat, hier vor. Nicht nachvollziehbar sind dagegen die Ausführungen des Sozialgerichts, wonach nichts dafür ersichtlich sei, dass die Antragsgegnerin die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid zum Nachteil des Antragstellers bezweifele. Eine solche aufschiebende Wirkung ist hier nicht gegeben. Widerspruch und Anfechtungsklage haben gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 2 SGG keine aufschiebende Wirkung, da die Bescheide vom 12. Dezember 2012 bzw. auch die gemäß § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewordenen Bescheide vom 18. März 2013 eine laufende Leistung der Antragsgegnerin, nämlich das mit Bescheid vom 23. August 2012 zuerkannte Arbeitslosengeld, entziehen.

Die genannten Bescheide sind auch nicht bestandskräftig geworden. Nach telefonischer Auskunft der Hauptregistratur des Sozialgerichts Potsdam vom 05. Juli 2013 hat der Antragsteller gegen den Widerspruchsbescheid vom 27. März 2013 am 10. April 2013 Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 18 AL 95/13 anhängig ist.

Ob die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen ist oder nicht, entscheidet das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen auf der Grundlage einer Abwägung, bei der das private Interesse des Bescheidadressaten an der Aufschiebung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes abzuwägen ist. Dabei gilt der Grundsatz, dass, je größer die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens sind, um so geringer die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers zu stellen sind. An einer Vollziehung eines offenbar rechtswidrigen Verwaltungsaktes besteht kein öffentliches Interesse. Andererseits ist die aufschiebende Wirkung bei einer aussichtslosen Klage nicht anzuordnen. Sind die Erfolgsaussichten nicht abschätzbar, bleibt die allgemeine Interessenabwägung, wobei der Grad der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren mit zu berücksichtigen ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer; Kommentar zum SGG, 10. Auflage, § 86 b Rdnr. 12 c ff).

Um eine Entscheidung zugunsten des Bescheidadressaten zu treffen, ist deshalb jedenfalls zunächst erforderlich, dass bei der im einstweiligen Anordnungsverfahren allein möglichen summarischen Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitigen Bescheides bestehen (vgl. Krodel, Das Sozialgerichtliche Eilverfahren, 3. Auflage 2012, Rdnr. 219 ff) und dass ein Aussetzungsinteresse, mithin zumindest ein gewisses Maß an Eilbedürftigkeit, besteht, dem Betroffenen also das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache nicht zugemutet werden kann (vgl. Beschlüsse des Landessozialgerichts – LSG – Berlin-Brandenburg vom 06. März 2007, Az.: L 28 B 290/07 AS ER; L 10 B 191/06 AS ER, jeweils abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de).

An diesen Grundsätzen gemessen war die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Entscheidungen der Antragsgegnerin anzuordnen. Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand ist eine Erfolgsaussicht der Klage des Antragstellers gegeben, allerdings bedarf es hierzu weiterer Ermittlungen (auch dazu im Übrigen, auf welchen Tatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X – die erst durch den Bescheid vom 18. März 2013 und damit rückwirkend verfügte Aufhebung wegen wesentlicher Änderung der leistungserheblichen Verhältnisse gestützt wird, wobei auch zu prüfen ist, ob vor der Aufhebung eine ordnungsgemäße Anhörung im Sinne des § 24 SGB X erfolgt ist).

Der Senat geht davon aus, dass ein Fall der sogenannten "Nahtlosigkeitsregelung" gemäß § 145 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) nicht gegeben ist. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift hat Anspruch auf Arbeitslosengeld auch eine Person, die allein deshalb nicht arbeitslos ist, weil sie wegen einer mehr als sechsmonatigen Minderung ihrer Leistungsfähigkeit versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigungen nicht unter den Bedingungen ausüben kann, die auf dem für sie in Betracht kommenden Arbeitsmarkt ohne Berücksichtigung der Minderung der Leistungsfähigkeit üblich sind, wenn eine verminderte Erwerbsfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung nicht festgestellt worden ist. Die Feststellung, ob eine verminderte Erwerbsfähigkeit vorliegt, trifft der zuständige Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ( ).

Die Nahtlosigkeitsregelung hat der Gesetzgeber getroffen, um zu verhindern, dass ein Arbeitsloser (Versicherter) wegen unterschiedlicher Beurteilung seiner gesundheitlichen Leistungsfähigkeit von der Bundesagentur nicht als verfügbar sowie vom Rentenversicherungsträger nicht als erwerbs- bzw. berufsunfähig [jetzt: erwerbsgemindert] angesehen wird und daher weder Leistungen wegen Arbeitslosigkeit, noch Versichertenrente erhält (vgl. Urteil des BSG vom 12. Juni 1992, Az. 11 RAr 35/91, juris, Rdnr. 24 = SozR 3-4100 § 105 a Nr. 4). Diese Fiktion hindert die Arbeitsverwaltung daran, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld mit der Begründung zu verneinen, der Arbeitslose sei wegen nicht nur vorübergehenden Einschränkungen der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit objektiv nicht verfügbar. Erst nachdem der Rentenversicherungsträger eine positive Feststellung über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit [heute wegen Erwerbsminderung] getroffen hat, entfällt auch die Sperrwirkung der Nahtlosigkeitsregelung, so dass die Bundesagentur nunmehr in ihrer Beurteilung der objektiven Verfügbarkeit frei ist und den Anspruch auf Arbeitslosengeld ggf. mit der Begründung verneinen kann, der Arbeitslose könne eine Beschäftigung nicht mehr ausüben (vgl. Urteil des BSG vom 09. September 1999, Az. B 11 AL 13/99 R, juris, Rdnr. 15 = SozR 3-4100 § 105 a Nr. 7).

Vorliegend hat die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg festgestellt, dass der Antragsteller voll erwerbsgemindert ist und hat aus diesem Grund den Antrag auf Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Bescheid vom 20. November 2012 abgelehnt. Dieser galt als Rentenantrag (§ 116 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch). Der Antragsteller hat jedoch, nachdem seine Krankenkasse die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrages zurückgenommen hat, weil bei dem Antragsteller der Bezug einer Rente wegen Erwerbsminderung bei der späteren Altersrente zu Abschlägen, das heißt zu einem geminderten Zugangsfaktor führen würde, von der ihm (wieder) zustehenden Dispositionsbefugnis Gebrauch gemacht, indem er erklärt hat, dass der Reha-Antrag nicht als Rentenantrag gelten solle. In dieser, im Rahmen des Verfahrens bzgl. eines Anspruchs auf Teilhabe am Arbeitsleben getroffenen Feststellung, dass volle Erwerbsminderung vorliegt, liegt nach Auffassung des Senats die in § 145 Abs. 1 Satz 2 SGB III angesprochen Feststellung der verminderten Erwerbsfähigkeit. Diese ist zwar nicht in einem förmlichen Verfahren nach Anfrage der Antragsgegnerin festgestellt worden, die Feststellung setzt eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Verfahren jedoch nicht voraus (vgl. Urteil des BSG vom 09. September 1999, aaO., juris, Rndr. 15). Damit entfällt die Sperrwirkung der Nahtlosigkeitsregelung, wie bereits oben zitiert. Dahingestellt bleiben kann bei diesem Sachverhalt, ob die Aufforderung der Antragsgegnerin, einen Rentenantrag zu stellen, rechtmäßig war bzw. der Antragsteller diesbezüglich ausreichend belehrt wurde, da die Nahtlosigkeitsregelung gar nicht mehr anwendbar war bzw. ist, weil bereits Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger festgestellt war.

Die positive Feststellung von Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit [heute wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung] durch den zuständigen Rentenversicherungsträger bindet die Arbeitsverwaltung nicht, sondern eröffnet ihr die Möglichkeit, nunmehr ohne die Beschränkungen der Nahtlosigkeitsregelung die objektive Verfügbarkeit aufgrund eigener Feststellungen zu verneinen (vgl. Urteil des BSG vom 09. September 1999, aaO., juris, Rdnr. 15). Die Bundesagentur ist zur selbständigen Beurteilung des Leistungsvermögens des Arbeitslosen berechtigt. Sie ist wegen des Gesetzeszwecks, einen negativen Kompetenzkonflikt bei unterschiedlicher Beurteilung der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit zu Lasten des Arbeitslosen (Versicherten) auszuschließen, nicht gehindert, abweichend von der Feststellung des Rentenversicherungsträgers zu entscheiden, dass Erwerbsminderung nicht vorliegt und – bei Vorliegen der Voraussetzungen im Übrigen – objektive Verfügbarkeit (gemäß § 138 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 5 SGB III) gegeben ist (vgl. Urteil des BSG vom 12. Juni 1992, aaO., juris, Rdnr. 25, so zuletzt auch Beschluss des BSG vom 23. August 2010, Az. B 11 AL 2/10 BH, juris, Rdnr. 8; Brand in Kommentar zum SGB III, 6. Auflage, § 145, Rdnr. 7 und 8). Seine subjektive Verfügbarkeit hat der Antragsteller ausdrücklich erklärt.

Es ist zwar im vorliegenden Fall keine Prognose dahingehend möglich, ob die Antragsgegnerin entgegen der Feststellung des Rentenversicherungsträgers annehmen wird, dass keine volle Erwerbsminderung bei dem Antragsteller vorliegt. Dagegen spricht eben diese vom Rentenversicherungsträger vorgenommene Feststellung, dafür allerdings, dass die Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin sowie Allgemeinmedizin, Dr. S, in ihrem Gutachten vom 01. August 2012 den Antragsteller als leistungsfähig (mit qualitativen Einschränkungen) angesehen und ein Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich angenommen hat für maximal mittelschwere körperliche Arbeiten. Dabei hatte sie eine umfängliche Untersuchung vorgenommen und ihr lag der Rehabilitations-Entlassungsbericht der Fachklinik A vor, in der der Antragsteller in der Zeit vom 12. April 2011 bis 10. Mai 2011 eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme absolviert hatte und aufgrund dessen die Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg eine Leistungsfähigkeit sowohl als Lüftungsmonteur als auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als drei Stunden täglich angenommen hatte. Es ist denkbar, dass die Einschätzung der Deutschen Rentenversicherung falsch ist, wenn auch in der Regel mehr dafür spricht, dass diese zutrifft. Ausschlaggebend für den Senat, hier die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anzuordnen, ist jedoch, dass der Antragsteller, der sich ausdrücklich gemäß den arbeitsamtsärztlichen Feststellungen dem allgemeinen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt hat, Rechtsschutz wahrnehmen können muss und dies nur gegenüber der Antragsgegnerin tun kann, die allein eine Regelung mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen zu treffen hat (vgl. Urteil des BSG vom 12. Juni 1992, aaO., juris, Rdnr. 25). Zu berücksichtigen ist bei der hier vorzunehmenden Interessenabwägung auch, dass der Antragsteller bei der gegebenen Sachlage, nämlich dass die Deutsche Rentenversicherung einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung annimmt, von anderen Leistungsträgern, also vom JobCenter bzw. vom Sozialhilfeträger als Träger der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, wohl keine Leistungen wird beziehen können, da er bezüglich eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II ebenfalls als nicht erwerbsfähig angesehen werden würde und ein Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch gegenüber dem vorhandenen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung subsidiär wäre. Der Antragsteller muss sich allerdings darüber bewusst sein, dass es sich um eine vorläufige Regelung handelt und er ggf., sofern er im Hauptsacheverfahren nicht obsiegt, die Leistungen zurückzahlen müsste.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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