L 17 U 276/91

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 U 252/88
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 276/91
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.10.1991 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger aufgrund des Schulwegeunfalles vom 14.07.1986 Anspruch auf Verletztenrente hat.

Der am 13.12.1978 geborene Kläger, der albanischer Volksangehöriger ist, wurde am 14.07.1986 auf dem Weg zur Volksschule ..., Nürnberg vom Frontstoßfänger eines PKW erfasst und blieb bewusstlos liegen. Der Durchgangsarzt Dr.H ... diagnostizierte ein Schädelhirntrauma (Durchgangsarztbericht vom 14.07.1986 der 2. Chirurgischen Klinik des Klinikums Nürnberg). Der Kläger befand sich deswegen bis 29.07.1986 in dieser Klinik. Im Abschlussbericht vom 31.07.1986 lautete die Diagnose: "Commotio cerebri mit schweren Allgemeinveränderungen im EEG über 10 Tage, Enuresis nocturna". Am 14.04.1987 erlitt der Kläger bei einem weiteren (nicht versicherten) Verkehrsunfall eine Prellung des linken Kniegelenks mit Verdacht auf Patellalängsfissur (Attest des Allgemeinarztes Dr.A.N ... vom 11.12.1987). Der Kläger verlor im Verlauf des Jahres 1987 die Reaktion auf die Umgebung und das Sprachvermögen und befand sich wegen schwerer regressiver Verhaltensstörungen in der Zeit vom 31.08. bis 25.09.1987 in der Kinderklinik und Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg und vom 28.09. bis 05.10.1987 in der Fachabteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Nürnberg in stationärer Behandlung.

Zur Ermittlung des Sachverhalts zog der Beklagte Befundberichte des Nervenarztes Dr.B ... (Nürnberg) vom 07.12.1987 mit der Diagnose "Schwere Verhaltensstörung nach Contusio cerebri", der HNO-Ärzte Dr.W ... (Nürnberg) vom 16.09.1987 und Dr.F.B ... (Nürnberg) vom 17.09.1987, der Kinderärztin Dr.M.M ... (Nürnberg) vom 27.09.1987, die medizinischen Unterlagen des Zentrums für Chirurgie beim Klinikum der Stadt Nürnberg, der Klinik und Poliklinik für HNO-Kranke und der Kinderklinik und Poliklinik der Universität Erlangen - Nürnberg sowie eine Auskunft der Volksschule Nürnberg, ... vom 03.02.1988 (incl Schulzeugnisse der 1. und 2. Jahrgangsstufe) bei. Anschließend holte der Beklagte ein Gutachten des Nervenarztes Dr.H.G ... (Nürnberg) vom 18.02.1988 ein, der die bei dem Unfall vom 14.07.1986 erlittene Gehirnerschütterung und deren Folgeerscheinungen als längst abgeklungen ansah. Er verneinte einen Zusammenhang der bestehenden psychischen Veränderungen mit dem Unfallereignis vom 14.07.1986, da diese ein dreiviertel Jahr nach dem Unfall allmählich aufgetreten seien und daher psychogener Natur seien.

Mit Bescheid vom 15.04.1988 erkannte der Beklagte den Unfall vom 14.07.1986 als Arbeitsunfall (Wegeunfall) an. Die Gewährung einer Rente lehnte er ab, weil Folgen der erlittenen Gehirnerschütterung nicht verblieben seien. Die ab November 1986 aufgetretenen Verhaltensstörungen hielt er für psychogen und damit unfallunabhängig. Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15.09.1988 zurück.

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben und beantragt, wegen der Folgen des Schulwegeunfalls Verletztenrente vom 14.07.1986 bis 29.07.1986 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH, vom 30.07.1986 bis 30.04.1987 nach einer MdE von 70 vH und ab 01.05.1987 nach einer MdE um 100 vH zu gewähren. Er hat ua vorgetragen, dass er vor dem Unfall keine psychischen oder hirnorganischen Auffälligkeiten gezeigt habe. Der Unfall habe zu einem Schock geführt, der den Sprachverlust zur Folge gehabt habe.

Nach Beiziehung eines Befundberichtes des Nervenarztes Dr.B ... vom 26.05.1989 und Vorlage ärztlicher Bescheinigungen des Krankenhauses Doboj (Jugoslawien) vom 17.01.1990/21.05.1990 hat Dr.J.W ... (Klinikum der Stadt Nürnberg) ein kinder- und jugendpsychiatrisches Gutachten vom 15.08.1990/11.10.1990/ 23.05.1991 erstellt mit der Diagnose: "Autistisch regressives Syndrom bei Zustand nach schwerer Commotio cerebri". Er ist von einem Zusammenhang zwischen dem aktuellen Zustandsbild des Klägers und dem Unfall vom 14.07.1986 ausgegangen und hat ausgeführt, dass sich der Kläger bis zum Unfall vom 14.07.1986 problemlos entwickelt habe. Bei dem Unfall selbst könne es im Zusammenhang mit einem Hirnödem zu diffusen cerebralen Schädigungen im Mikrobereich gekommen sein. Die Commotio sei nicht einfach und unkompliziert gewesen. Bereits kurze Zeit nach der Entlassung aus der Klinik sei der Kläger deutlich verändert gewesen, was auch aus den Zeugnissen erkennbar sei. Zumindest ab Ostern 1987 sei der Schulbesuch mit zunehmendem Rückzug bis zur völligen Beteiligungslosigkeit verlaufen. Der weitere Verkehrsunfall vom 14.04.1987 habe nicht zu einer Verstärkung der psychischen Symptomatik geführt. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit werde zumindest ab Oktober 1987 mit 100 vH angenommen.

Der Beklagte hat sich unter Vorlage eines Gutachtens nach Aktenlage des Nervenarztes Dr.V ... (Neurologisches Rehabilitationskrankenhaus Gailingen) vom 08.01.1991 gegen diese Auffassung gewandt und ausgeführt, die von Dr.A.W ... gestellte Diagnose eines "autistisch regressiven Syndroms bei Zustand nach Commotio cerebri" sei zweifellos richtig. Für die an den Unfall anschließende posttraumatische Entwicklung seien aber unfallunabhängige Faktoren denkbar, wie ein Fehlverhalten der Eltern im häuslichen Milieu, die frühkindliche Entwicklung des Klägers mit frühzeitiger Trennung von den Eltern. Eine MdE in Folge der erlittenen Hirnverletzung sei für einen Zeitraum von etwa 1 bis 2 Jahren anzunehmen.

Nach Beiziehung der Akte der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Nürnberg-Fürth (Unfall vom 14.04.1987) und Vorlage eines Arztberichtes des Krankenhauses Doboj vom 01.06.1991 hat das SG die frühere Lehrerin des Klägers Z ... am 02.10.1991 als Zeugin einvernommen. Sie hat berichtet, dass ihr in der Zeit bis zum Zwischenzeugnis vom 13.02.1987 noch nichts Wesentliches am Kläger aufgefallen sei. Dies habe sich aber etwa Mitte März 1987, also ungefähr einen Monat vor Ostern geändert. Der Junge sei zunehmend teilnahmslos, kaum ansprechbar geworden. Dieser Zustand habe sich laufend verschlimmert, so dass man mit ihm praktisch überhaupt nichts habe anfangen können.

Das SG hat mit Urteil vom 02.10.1991 den Beklagten verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Schulunfalles vom 14.07.1987 vom 15. bis 29.07.1986 Unfallrente nach einer MdE um 100 vH, vom 30.07.1986 bis 30.04.1987 nach einer MdE von 70 vH und ab 01.05.1987 nach einer MdE um 100 vH zu gewähren. Es hat sich dabei vor allem auf das Gutachten des Dr.A.W ... unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Aussage der früheren Lehrerin des Klägers gestützt und angenommen, dass das beim Kläger bestehende autistische regressive Syndrom bei Zustand nach schwerer Commotio cerebri in ursächlichem Zusammenhang zumindest iS einer wesentlichen Mitverursachung mit dem Schulunfall vom 14.07.1986 stehe.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt und vorgetragen, dass die psychischen Auffälligkeiten des Klägers auf den Freizeitunfall vom 14.04.1987 zurückgingen. Er hat auf ein nervenärztliches Aktenlagegutachten des Prof. Dr.S ... (Herrsching) vom 15.02.1992 verwiesen, der eine Contusio cerebri aufgrund des Schulwegeunfalls als erwiesen angesehen hat. Mit gewissen Folgeerscheinungen sei daher zu rechnen gewesen, die aber mit einer MdE von maximal 30 bis 40 vH bis zu 2 Jahren nach dem Unfall zu bewerten seien. Die nach dem April 1987 aufgetretenen psychischen Auffälligkeiten stellten eine hochgradige abnorme Erlebnisreaktion auf den zweiten Unfall vom 14.04.1987 dar.

Der Senat hat Unterlagen des Allgemeinarztes Dr.A.N ... (Nürnberg), Krankheitsauskunft der BKK MAN Nürnberg vom 29.06.1992, Schulunterlagen der Volksschule Nürnberg, Befundberichte der Nervenärztin Dr.D.N ... vom 19.08.1992 und des Kinderarztes Dr.F.E ... (Nürnberg) vom 24.09.1993, Krankengeschichte der Erler-Klinik Nürnberg (Privatunfall vom 14.04.1987) sowie eine Mitteilung der Stadt Nürnberg über die Einschulungsuntersuchung des Klägers vom Juli 1985, Atteste des Krankenhauses Tesanj (Bosnien-Herzogovina) vom 13.03.1997/10.04.1997, die medizinischen Unterlagen der BKK MAN und MTU München und der BKK AEG Schienenfahrzeuge sowie die Betreuungsakte des Vormundschaftsgerichtes Nürnberg beigezogen. Er hat ein Gutachten nach Aktenlage der Nervenärztin Dr.P ... (Landsberg) vom 03.06.1994 / 20.06.1995/29.11.1996 eingeholt. Sie hat die Diagnose eines autistisch regressiven Syndroms gestellt, das mit Wahrscheinlichkeit iS der Entstehung wesentlich durch den Schulunfall vom 14.07.1986 bedingt sei. Es sei zu einer hirnorganischen Beeinträchtigung aufgrund einer Contusio cerebri gekommen. Ein wesentliches symptomfreies Intervall vom Juli 1986 bis März 1987 sei nicht anzunehmen, da der behandelnde Kinderarzt bereits ab Januar 1987 eine Enuresis festgestellt habe, die eindeutig als Verhaltensauffälligkeit einzustufen sei. Verstärkend hinsichtlich psychoreaktiver Folgeschäden habe sich ein weiterer Verkehrsunfall im April 1987 ausgewirkt, dessen Anteil mit 20 - 30 % einzuschätzen sei. Daraus ergebe sich eine dauerhafte MdE von mindestens 70 vH.

Der Beklagte hat Gutachten des Nervenarztes Dr.K ... (München) vom 23.09.1994/08.07.2000 vorgelegt. Dieser hat zwar ein Schädel-Hirn-Trauma aufgrund des Unfalles vom Juli 1986 bestätigt, aber die diagnostische Einordnung des Krankheitsbildes aus seiner Sicht, da er kein Kinderpsychiater sei, nicht für aufgeklärt erachtet. Der Beklagte hat weiter in seinen Schriftsätzen vom 07.03.1996/14.01.1997 den Erstschaden aufgrund des Unfalles vom 14.07.1986 als ungeklärt bezeichnet. Bei der Entlassung aus der stationären Behandlung am 29.07.1986 sei der Kläger, ebenso wie bei der ambulanten Nachuntersuchung am 01.08.1986 neurologisch unauffällig gewesen. Der Zeitraum von August 1986 bis März bzw April 1987 stelle ein symptomfreies Intervall ohne Verhaltensauffälligkeiten dar. Starke Verhaltensauffälligkeiten seien erst nach den Osterferien 1987 und damit nach dem Privatunfall beobachtet worden. Aufgrund der EEG-Befunde sei eine eindeutige Rückbildungstendenz der erlittenen Gehirnverletzung gesichert. Eine weitergehende organische Hirnschädigung habe bisher nicht nachgewiesen werden können.

Auf Veranlassung des Senats haben Prof. Dr.T ... (Neurologische Klinik der Universität Würzburg) ein Gutachten vom 14.01.1999 (mit neuroradiologischem Zusatzgutachten vom 11.01.1999) und Prof. Dr.A.W ... (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Würzburg) ein jugendpsychiatrisches Gutachten vom 07.12.1999 erstellt. Prof. Dr.T ... hat einen regelhaften neurologischen Befund vorgefunden und auf deutliche Diskrepanzen zwischen den erhobenen Befunden und dem nach außen imponierenden mutistischen Zustandsbild des Klägers hingewiesen. Prof.Dr.A.W ... hat ausgeführt, beim Kläger sei es aufgrund einer chronischen Überforderung, die Folge der posttraumatischen Belastungsstörung und einer zusätzlichen psychischen Störung aufgrund einer Funktionsstörung des Gehirns sei, zu einer Konversionsstörung mit dem klinischen Bild eines dissoziativen Stupors gekommen. Eine Simulation, beginnend im Kindesalter und sich fortsetzend im Erwachsenenalter, hält er für ausgeschlossen bzw in höchstem Maße für unwahrscheinlich. Die MdE sei bis 29.07.1986 mit 100 vH, bis März 1987 mit 70 vH, ab Mitte März 1987 mit 100 vH zu bewerten.

Der Beklagte hat ein Teilanerkenntnis dahingehend abgegeben, dass er dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 100 vH bis 29.07.1986 und 35 vH bis 31.07.1988 gewährt (Ausführungsbescheid vom 02.07.1997).

Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 02.10.1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit sie über das Teilanerkenntnis hinausgeht. Hilfsweise beantragt er, dass im Hinblick auf die spezielle kinderpsychiatrische Fragestellung - wie von Dr.K ... in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 08.07.2000 vorgeschlagen - noch der Kinderpsychiater Prof.Dr.T ..., Aschaffenburg, zum Gutachten von Prof.Dr.W ... gehört wird; dies vor allem auch vor dem Hintergrund, dass die bisher eingeholten Gutachten nicht dahingehend zusammengeführt werden können, dass auch nur von halbwegs gesicherten Diagnosen bzw von einem halbwegs gesicherten Krankheitsbild ausgegangen werden kann. Ferner wird beantragt, Herrn Z ... (Mitarbeiter bei der Fahrbereitschaft des SG Würzburg) als Zeugen zu vernehmen zu dem Beweisthema: Verhalten des Klägers und dessen Vaters auf dem Weg zum Gerichtsgebäude am 25.02.1997, vgl Schriftsatz des Beklagten vom 16.02.2000).

Der Kläger beantragt, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialge richts Nürnberg vom 02.10.1991 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten, der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie der beigezogenen Akte des Amtes für Versorgung und Familienförderung Nürnberg Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig.

Da der Kläger prozessunfähig ist (§ 71 Abs 6 Sozialgerichtsgesetz - SGG - iV mit § 53 Zivilprozessordnung - ZPO -), hat das Amtsgericht Nürnberg - Vormundschaftsgericht - auf Antrag des Senats den Vater des Klägers ... mit Beschluss vom 05.04.2000 gemäß § 1896 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zum Betreuer bestellt. Dieser hat Rechtsanwalt ... für die Vertretung vor dem Senat bevollmächtigt.

In der Sache ist die Berufung unbegründet. Das SG hat zu Recht den Beklagten mit Urteil vom 02.10.1991 verurteilt, Verletztenrente nach einer MdE um 100 vH vom 15.07. bis 29.07.1986, 70 vH bis 30.04.1987 und ab 01.05.1987 nach einer MdE um 100 vH gemäß §§ 539 Abs 1 Nr 14 a, 550 Abs 1, 581 Abs 2 Reichsversicherungsordnung - RVO - zu gewähren.

Die Vorschriften der RVO sind gemäß § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) noch anwendbar, da über den Eintritt eines Versicherungsfalles vor dem 01.01.1997 zu entscheiden ist.

Der Kläger war als Schüler einer allgemeinbildenden Schule (Volksschule Nürnberg) auf dem Weg von und zur Schule gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 b RVO gegen Arbeitsunfall (Schulunfall) versichert.

Ein Anspruch auf Verletztenrente setzt nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO voraus, dass die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten infolge eines Arbeitsunfalles um wenigstens 20 vH gemindert ist. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalls setzt voraus, dass die versicherte Tätigkeit, das Unfallereignis und die Erkrankung mit Gewissheit bewiesen sind. Gewissheit bedeutet, dass ein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch keinen Zweifel hat. Ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen, genügt (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl Anm 10 zu § 8 Sozialgesetzbuch - SGB VII). Voraussetzung dafür, dass eine Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles anerkannt werden kann, ist, dass zwischen der unfallbringenden versicherten Tätigkeit und dem Unfall ein ursächlicher Zusammenhang besteht (haftungsbegründende Kausalität) sowie zwischen dem Unfall und der Gesundheitsstörung (haftungsausfüllende Kausalität). Die haftungsausfüllende Kausalität ist nach dem in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff nur dann gegeben, wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen die Entstehung oder Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat. Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn beim vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann (Bereiter-Hahn aaO Anm 10.1 zu § 8 SGB VII).

Diese Voraussetzungen des Anspruchs auf Gewährung von Verletztenrente sind über das vom Beklagten abgegebene Teilanerkenntnis hinaus im Hinblick auf den Zustand des Klägers auf Dauer erfüllt.

In Würdigung der Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr.W ... (Gutachten vom 07.12.1999) sowie zT Dr.P ... (Gutachten vom 03.06.1994/20.06.1995/29.11.1996) und Dr.W ... (Gutachten vom 15.08.1990/11.10.1990/23.04.1991) steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Schulwegeunfalls vom 14.07.1986 für die Zeit ab 15.07.1986 in dem Maße wie vom SG ausgesprochen gemindert ist. Der Senat hält das Gutachten des Prof. Dr.W ... vom 07.12.1999, der neben den Autismus - wie er von Dr.W ... und Dr.P ... diagnostiziert wurde - noch den Stupor, dh die völlige Interaktionslosigkeit stellt und zu der Diagnose einer Konversionsstörung in Form des dissoziativen Stupors kommt, für überzeugend. Kennzeichnend hierfür sind der teilweise oder völlige Verlust der Kontrolle von Körperbewegungen, das Fehlen willkürlicher Bewegungen und normaler Reaktionen auf äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Berührung, das Fehlen von Sprache und spontanen oder gezielten Bewegungen. Muskeltonus, Haltung, Atmung, gelegentliches Öffnen der Augen und koordinierte Augenbewegungen zeigen, dass der Patient weder schläft noch bewusstlos ist. Sowohl sämtliche während des Gerichtsverfahrens gehörten Gutachter wie auch die vom Vormundschaftsgericht gehörte Ärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr.W ... im Gutachten vom 08.08.1997 haben ein derartiges Zustandsbild beschrieben. Der Senat sieht daher die Diagnose der Konversionsstörung als mit Gewissheit gesichert an, so dass es - nachdem zwei führende Kinderpsychiater mit der Erstellung von Gutachten betraut waren - keines weiteren Gutachtens bedarf. Dem Beweisantrag der Beklagten brauchte der Senat daher nicht zu folgen.

Die Simulation dieses Zustandsbildes schließt der Senat in Übereinstimmung mit der Auffassung des Prof. Dr.W ... aus. Es ist schlichtweg undenkbar, dass der Kläger seit dem Alter von 8 Jahren über inzwischen 14 Jahre hinweg die Störung des vorliegenden Ausmaßes, wie sie sich hinreichend deutlich aus den Beschreibungen der Gutachter ergibt und sie auch bei der mündlichen Verhandlung vom 25.02.1997 für den Senat erkennbar war, vortäuscht. Ein Kind bzw Jugendlicher ist nicht - wie der Beklagte darzustellen versucht - dahingehend zu dressieren, dass ein mutistisches bzw stuporöses Zustandbild wiederholte Male über Jahre hinweg festzustellen ist. Die Tatsache, dass der Kläger in Ansätzen die Fähigkeit zu willkürlichen aktiven Bewegungen zeigte, dass es in unbekannten Situationen bei ihm zu Gleichgewichtsreaktionen, auch zu Ausgleichsbewegungen kam, bestätigt das Bild des dissoziativen Stupors, denn - wie Prof. Dr.W ... darlegt - kann es im Rahmen einer dissoziativen Störung von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde zu einem Wechsel in der Fähigkeit zu bewusster und selektiver Kontrolle der gestörten Funktionen kommen. Hiermit erklärt sich auch das Fehlen von Gelenkversteifungen oder Dekubitalgeschwüren und einer Verschmächtigung der Muskulatur. Auch ist die Mitteilung des Bevollmächtigten des Klägers vom 23.11.1999 hiermit vereinbar, dass der Kläger nunmehr in der Lage sei, ab und zu selbständig zu laufen bzw kleinere Sätze zu äußern.

Die Einvernahme des Zeugen Z ... über Reaktionen des Klägers anlässlich der mündlichen Verhandlung vom 27.02.1997 kann daher zur Erhellung des medizinischen Sachverhalts nichts beitragen, so dass der Senat dem Beweisantrag des Beklagten nicht gefolgt ist.

Das beim Kläger bestehende Krankheitsbild ist mit Wahrscheinlichkeit durch den Unfall vom 14.07.1987 verursacht worden. Der Senat schließt sich insoweit vollinhaltlich den Ausführungen im Urteil des SG an. Danach ist nach der umfangreichen Anhörung der Eltern sowie der 1 1/2 Jahre älteren Schwester des Klägers B ... und der Aussage der einvernommenen Zeugin Z ... davon auszugehen, dass bei dem Kläger anamnestisch keine Auffälligkeiten in der Grundpersönlichkeit und auch keine Primordialzeichen zu finden sind, die auf eine mögliche zukünftige neurotische Entwicklung hinweisen könnten. B ... schilderte ihn als ruhigen und kontaktfreudigen Jungen ohne Aggressionen. Er besuchte nach seiner Rückkehr zu den Eltern in die Bundesrepublik im Alter von 5 Jahren den Kindergarten, ohne dass Besonderheiten in seinem Verhalten deutlich geworden wären. Der Klasslehrer M ... charakterisiert ihn im Zwischenzeugnis der ersten Jahrgangsstufe der Volksschule Nürnberg, als stets vergnügten Schüler, der in der Klassengemeinschaft leicht Kontakt fand, sich kameradschaftlich und verträglich verhielt, im Unterricht aufmerksam und konzentriert mitarbeitete, sich rege und mit großem Interesse am Unterrichtsgeschehen beteiligte und im schriftlichen Bereich Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zeigte. Er konnte flüssig lesen, leicht Zahlenbeziehungen erfassen und am Deutschunterricht spontan und ideenreich mitwirken. Das Jahreszeugnis des gleichen Lehrers vom 30.07.1986, am Ende der ersten Schulklasse, schildert B ... in praktisch gleicher Weise als freundlich und immer vergnügt, den Mitschülern gegenüber als kameradschaftlich und verträglich, in der Unterrichtsbeteiligung als aufmerksam und konzentriert und sehr interessiert am Unterrichtsgeschehen. Die damalige Beurteilung wird auch von der einvernommenen Klassenlehrerin der zweiten Volksschulklasse Z ... als zutreffend angesehen. Wie ihrer Zeugenaussage zu entnehmen ist, kannte sie den Schüler bereits aus der Zeit der ersten Klasse, in der sie wöchentlich zwei Stunden Unterricht zu halten hatte. Sie erlebte den Jungen von der ersten Klasse an als einen völlig normalen Schüler wie jeden anderen auch, ohne dass ihr Besonderheiten an ihm aufgefallen wären. Er sei lediglich in seinem Verhalten zurückhaltend gewesen, was für einen Schüler einer ersten Klasse nicht als ungewöhnlich anzusehen ist, noch dazu, wenn sich der Kontakt mit einem Lehrer wöchentlich auf zwei Stunden beschränkt. Auch wenn der Lehrerin in der zweiten Klasse zunächst noch keine größeren Auffälligkeiten erkennbar wurden, was bei der großen Zahl von Schülern in den unteren Jahrgangsstufen verständlich ist, deutet alles darauf hin, dass beim Kläger schon Anzeichen für psychische Veränderungen vorhanden waren, die von den nächsten Angehörigen in seiner familiären Umgebung bereits deutlich wahrgenommen werden konnten, ohne nach außen hin stärker in Erscheinung zu treten. Die Klassenlehrerin hat als Zeugin unter Eid ausgesagt, der Schüler sei zunehmend teilnahmslos geworden, habe nach und nach überhaupt nicht mehr mitgearbeitet, sei kaum ansprechbar und immer mehr verschlossen und in sich gekehrt gewesen. Dieser Zustand habe sich laufend verschlimmert und sei schließlich so massiv geworden, dass man mit ihm überhaupt nichts mehr habe anfangen können. Er habe sich praktisch wie ein Stein verhalten, so dass er auf alle Versuche, ihn anzusprechen oder zur Mitarbeit zu bewegen, vollkommen teilnahmslos geblieben sei. Bei einer Rücksprache habe die Mutter des Schülers von Angstzuständen ihres Sohnes berichtet und erzählt, er sei auch zu Hause in der Familie teilnahmslos. Nach dem Inhalt des Jahreszeugnisses der Klassenlehrerin vom 26.07.1987 beteiligte sich der Junge nach den Osterferien am Unterricht überhaupt nicht mehr. Er saß still da, sprach seit dieser Zeit kein Wort mehr, schrieb keine Zeile und malte auch nicht. Er fehlte sehr oft und konnte das Klassenziel unter diesen Umständen nicht erreichen. Die Leistungen in Deutsch als Zweitsprache wurden als ungenügend bezeichnet.

Im Hinblick auf diese Ausführungen steht auch für den Senat fest, dass die psychisch auffälligen Veränderungen des Klägers sich bald nach dem Unfall anbahnten und ab März 1987 zunehmend deutlicher in Erscheinung traten. Hierfür sprechen die deutlichen Unterschiede in der Zeugnisbeurteilung im Februar 1987 gegenüber Juli 1986 sowie auch die wiederholten Hörprüfungen bereits im Herbst 1986 - lt Auskunft des HNO-Arztes Dr.F.B ... (Nürnberg) am 11.11., 14.11.1986 und 02.02.1987 - und eine im Januar dokumentierte Enuresis - Bericht des Kinderarztes Dr.E ... vom 24.09.1993 -, die als Verhaltensauffälligkeit zu bewerten ist, worauf Dr.P ... hinweist. Von einem symptomfreien Intervall nach dem Unfall ist nicht auszugehen, sondern vielmehr von einer sich stetig verschlimmernden Entwicklung, die ihren ersten Höhepunkt im Sommer 1987 erreichte und dann auch zu den stationären Aufenthalten führte.

Dem zweiten Unfall vom 14.04.1987 misst der Senat - entsprechend den Ausführungen des SG - keine wesentliche ursächliche Bedeutung für den Gesundheitsschaden des Klägers bei. Er stellt lediglich einen unwesentlichen Bagatellunfall dar, der ohne Bewusstlosigkeit, stationäre Behandlung oder nachweisbaren Schockzustand abgelaufen ist.

Weitere unfallunabhängige Faktoren für die Entwicklung der beim Kläger vorhandenen Gesundheitsstörung, wie sie insbesondere von Dr.V ... aufgeführt werden, hält der Senat ebenfalls nicht für wesentlich. Zu Recht weist Dr.P ... darauf hin, dass die familiäre Entwicklung, der der Kläger ausgesetzt war, in Gastarbeiterfamilien in der Regel nicht zu psychischen Störungen führt. Auch kann die mögliche Fixierung der Eltern und auch ein gewisses Fehlverhalten - verständlich im ihnen fremden Kultur- und Sprachraum - nicht wesentliche Ursache für das Krankheitsbild des Klägers sein, insbesondere nachdem ein derart schweres Zustandsbild über einen langen Zeitraum nicht allein durch psychogene Faktoren aufrecht erhalten wird - worauf Dr.P ... hinweist.

Das Gutachten des Prof. Dr.S ... vom 25.02.1992 ist- in keiner Weise überzeugend. Er misst nur dem Unfall vom 14.04.1987 die wesentliche Ursache für das auch von ihm bestätigte autistisch regressive Syndrom zu, mit der unzureichenden Begründung, diese Traumatisierung sei bewusst erlebt worden. Auch setzt er sich nicht mit dem am pathologischen EEG nachweisbaren anhaltenden hirnorganischen Veränderungen auseinander, die durch den zweiten Unfall nicht verursacht worden sein können. Auch die Gutachten des Dr.K ... vom 23.09.1994 und 08.07.2000 konnten - da er kein Kinderpsychiater ist - zur Entscheidungsfindung nicht beitragen.

Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht - wie Prof. Dr.W ... nachvollziehbar vorträgt - sich hinreichend Hinweise ergeben, dass in unmittelbarer Folge nach dem Schädel-Hirn-Trauma ein hirnorganisches Psychosyndrom bestand und sich nachfolgend Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung ausbildeten. Eine derartige Störung nimmt, wie beim Kläger, bei manchen Personen über viele Jahre einen chronische Verlauf und geht dann in eine dauernde Persönlichkeitsänderung über. Durch den Unfall vom 14.07.1986 ist der Kläger in einen Zustand unlösbarer Schwierigkeiten geraten, eine Überforderung hat sich aus der Wechselwirkung primär hirnfunktionell begründeter Defezite mit psychosozialen Anforderungen, wie zB Schulleistungsanforderungen, sprachlicher und sozialer Verständigung ergeben.

Bei Abwägen der bekannt gewordenen Umstände der Situation des Klägers nach dem Unfall vom 14.07.1986 und dem Verlauf der Erkrankung kommt der Senat zu der Überzeugung, dass die wesentliche Bedingung für die eingetretene Konversionsstörung mit dissoziativen Stupor der Unfall vom 14.07.1986 ist und somit der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden wahrscheinlich ist.

Der Senat hat auch keine Bedenken, der Auffassung der gehörten Sachverständigen Prof.Dr.W ... und Dr.W ... und des SG bezüglich der Einschätzung der MdE - der in der gesetzlichen Unfallversicherung verwendete Begriff "MdE" gilt auch für jugendliche Versicherte (Bereiter-Hahn aaO Anm 11 zu § 56 SGB VII) - zu folgen.

Die Berufung des Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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