L 2 U 32/97

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 U 309/94
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 32/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ist der innere Zusammenhang der zum Unfall führenden Verhaltensweise des Versicherten mit dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule nicht bewiesen, weil der Unfallverlauf ungeklärt bleibt, kann Versicherungsschutz nur bejaht werden, wenn nur noch solche Sachverhaltsgestaltungen in Betracht kommen, die jeweils Versicherungsschutz begründen würden.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 6. November 1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Feststellung und Entschädigung eines Unfalls, den der Kläger als Schüler erlitten hat.

Der 1975 geborene Kläger nahm im Januar 1994 als Schüler des Gymnasiums ... an einer Orchesterfahrt nach ... teil. Am Sonntag, den 23.01.1994 wurde er zwischen 23.3o Uhr und 23.45 Uhr mit erheblichen Verletzungen vor dem Haus, in dem die Schüler untergebracht waren, aufgefunden und zwar unterhalb des Fensters eines Zimmers, das dem seinen benachbart war und in dem ein Mitschüler wohnte. Wie es zu dem Unfall kam, ist ungeklärt geblieben. Bei der Einlieferung in das Kreiskrankenhaus Sigmaringen am 24.01.1994 um 1.oo Uhr war der Kläger zwar wach, ansprechbar und orientiert, konnte sich aber nicht erinnern, was passiert war. Befragungen des Polizeipostens Stetten am Kalten Markt und des Polizeireviers Sigmaringen sowie des Staatlichen Gymnasiums ... durch die Beklagte und das Sozialgericht sowie eine Zeugeneinvernahme von drei Mitschülern und des als Aufsicht mitgereisten Lehrers Herrn ... durch das Sozialgericht ergaben, daß die Schüler an dem betreffenden Abend bis ca. 21.3o Uhr oder 22.oo Uhr eine Art Abschlußkonzert gegeben hatten und sich dann erlaubterweise im wesentlichen im Aufenthaltsraum und auf den vor ihren Zimmern befindlichen Gängen aufhielten. Über den Aufenthalt des Klägers unmittelbar vor dem Unfall konnte niemand Angaben machen. Aufmerksam auf den Kläger wurden Mitschüler durch Rufen des bereits Verunfallten zwischen 23.3o Uhr und 23.45 Uhr. Der Mitschüler, unter dessen Zimmer der Kläger gefunden wurde, gab an, er habe von dem Unfall um etwa 23.3o Uhr erfahren und sei zu diesem Zeitpunkt mit dem Lehrer im Erdgeschoß im Speiseraum gewesen. Er habe sein Zimmer offen vorgefunden, dies sei jedoch nicht ungewöhnlich gewesen, da sein Kassettenrecorder zur freien Verfügung gestanden habe. Er habe die Fenster geöffnet vorgefunden, sie seien jedoch nicht von ihm geöffnet gewesen. Die Brüstung des Fensters sei nach seiner Auffassung normal hoch gewesen, jedenfalls nicht besonders niedrig. Letztere Angabe wird insofern bestätigt, als sich aus einem vom Kläger vorgelegten Bild des Unterbringungshauses ergibt, daß es sich um ein Gebäude mit normal hohen Zimmern und in der üblichen Höhe angebrachten Fenstern handelt. Am Unfallabend war den Schülern das Verlassen des Hauses untersagt. Neben dem Kläger wurden am Unfallort seine Hausschuhe gefunden, ferner trug er den Hausschlüssel in der Hosentasche. Das über der Unfallstelle liegende Fenster befindet sich nach Angaben des Klägers in etwa 8 m Höhe.

Mit Bescheid vom 26.08.1994 lehnte der Beklagte die Entschädigung der Folgen des Unfalls ab. Sowohl die nicht von der Schule organisierte Freizeitgestaltung als auch die Nachtruhe seien dem nicht versicherten eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen und besondere Umstände der Übernachtungsstätte hätten nicht als wesentliche Ursache am Unfall mitgewirkt.

Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.09.1994 als unbegründet zurück.

Die anschließende Klage hat das Sozialgericht mit Urteil vom 6. November 1996 als unbegründet abgewiesen. Die Zeit nach Abschluß des Konzerts sei nicht als versicherte Tätigkeit zu bewerten gewesen. Weder habe es sich um eine Unterrichtsveran- staltung gehandelt noch um eine gemeinsame Freizeitgestaltung, die von Lehrkräften beaufsichtigt worden seien. Andere Gründe, die in den Organisationsbereich der Schule fielen und zum Sturz des Klägers hätten beitragen können, seien nicht ersichtlich. Schließlich seien auch keine besonderen betrieblichen Gefahrmomente ersichtlich, die aus der Übernachtungsstätte hergerührt hätten. Anhaltspunkte für spezifische gruppendynamische Prozesse, die zum Unfallgeschehen beigetragen hätten, bestünden nicht.

Mit seiner Berufung macht der Kläger im wesentlichen geltend, daß der Unfall immer noch in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Schulveranstaltung gestanden habe. Nachdem keine Umstände für sein Eigenverschulden, grobe Fahrlässigkeit oder gar Vorsatz sprächen, müsse zu seinen Gunsten davon ausgegangen werden, daß ein von ihm nicht zu vertretender Umstand zu dem Sturz geführt habe, der in einem inneren rechtlichen wesentlichen Zusammenhang mit dem Schulausflug stehe. Der Unfall hätte sich nicht ereignet, wenn er, der Kläger, nicht an der schulischen Veranstaltung teilgenommen und in dem Exerzitienhaus gewohnt hätte.

Der Kläger beantragt, das Urteil des SG Augsburg vom 06.11.1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 26.07.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.04.1994, ihm unter Anerkennung des Unfalls vom 23.01.1994 als Arbeitsunfalll Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung dem Grunde nach zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen und stützt sich auf die seiner Ansicht nach zutreffenden Gründe des angefoch- tenen Urteils.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung sind die Akte der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Augsburg. Auf ihren Inhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang des Unfalls mit der Schulveranstaltung nicht bewiesen ist.

Die Entscheidung richtet sich auch im Berufungsverfahren nach den Vorschriften der RVO, weil der Unfall vor dem 01.01.1997 geschehen ist (§ 212 SGB VII).

Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs.1 Satz 1 RVO ein Unfall, den eine versicherte Person bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Dazu gehören nach § 539 Abs.1 Nr.14 Buchst.b RVO auch Verrichtungen eines Schülers während des Besuchs einer allgemeinbildenden Schule. Dem Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen sogenannter Schulveranstaltungen. Der Schutzbereich der sogenannten Schülerunfallversicherung richtet sich nach dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Außerhalb dieses Verantwortungsbereichs besteht in der Regel auch kein Versicherungsschutz bei Verrichtungen, die wesentlich durch den Schulbesuch bedingt sind und ihm deshalb an sich nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zuzuordnen wären (vgl. BSG SozR 3-2200 § 539 Nr.34 m.w.N.). Zu den vom organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule erfaßten Veranstaltungen gehörte auch die im vorliegenden Fall unter schulischer Aufsicht durchgeführte Orchesterfahrt. Der Versicherungsschutz besteht jedoch nicht schlechthin während der gesamten Dauer für jedwede Betätigung der Reiseteilnehmer. Er besteht jedenfalls dann nicht, wenn sich die betreffende Person rein persönlichen, von der versicherten Tätigkeit nicht mehr beeinflußten Belangen widmet. Ausgenommen bleiben insofern grundsätzlich die überwiegend persönlichen Bedürfnissen dienenden Verrichtungen wie Essen, Trinken und Schlafen, ferner grundsätzlich auch etwaige eigenmächtige Aktionen (vgl. BSG SozR a.a.O.). Allerdings können auch hier betriebsbedingte (durch die Schulfahrt bedingte) Umstände im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen und Versicherungsschutz begründen. Dies erfordert allerdings eine über eine bloß raum-zeitliche Verursachung hinausgehende Gefährdung durch die Schulausbildung. Für den vorliegenden Fall erfordert dies, daß das zum Unfall führende Verhalten des Klägers in einem solchen inneren Zusammenhang mit der Orchesterfahrt stand. Darüber hinaus kann ein rechtlich wesentlicher innerer Zusammenhang mit der versicherten Orchesterfahrt auch bei einer dem privaten und damit unversicherten Bereich angehörenden Verrichtung gegeben sein, wenn gefahrbringende Umstände den Unfall wesentlich bedingt haben, die in ihrer besonderen Eigenart dem Schüler während seines normalen Verweilens am Wohnort nicht begegnet wären. Allerdings genügt die Erwägung, daß dem auf der Orchesterfahrt befindlichen Kläger der Unfall nicht zugestoßen wäre, wenn er zu Hause geblieben wäre, in dieser Allgemeinheit nicht, um den Versicherungsschutz zu bejahen. Vielmehr muß zu der nicht hinwegzudenkenden Bedingung noch eine nähere Beziehung zur schulischen Sphäre treten, welche die Annahme eines wesentlichen inneren Zusammenhangs mit dem Unfallereignis rechtfertigt (vgl. BSG SozR 3-2200 § 539 Nr.17). Auf die Tatsache allein, daß sich der Unfall nicht ereignet hätte, wenn der Kläger nicht an der schulischen Veranstaltung teilgenommen und nicht in dem Exerzitienhaus gewohnt hätte, kann der Anspruch des Klägers deshalb nicht gestützt werden. Auch äußere Besonderheiten der Unterbringungsstätte konnten nicht als wesentliche Ursache oder Mitursache des Unfalles festgestellt werden. Das Zimmer, aus dem der Kläger mit Wahrscheinlichkeit gestürzt ist, wies keine baulichen Besonderheiten auf, die einen solchen Unfall hätten begünstigen können.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist davon auszugehen, daß zum Unfallzeitpunkt das Abschlußkonzert bereits seit wenigstens einer halben Stunde beendet gewesen war und die Schüler sich der Freizeitgestaltung zugewendet hatten, die ihnen überlassen war und in die Nachtruhe münden sollte. Für diese Zeit war nicht mehr festzustellen, wo sich der Kläger vor dem Unfall aufhielt und was er tat. Es haben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, daß das Verhalten anderer Schüler, eines Lehrers oder sonstige vorhergehende Geschehnisse in der Gruppe in irgendeiner Weise zu dem Unfall beigetragen hätten.

Insbesondere ist das zum Unfall führende Verhalten des Klägers selbst nicht mehr feststellbar gewesen. Für die nach §§ 548 Abs.1 RVO erforderliche Annahme, daß sich der Unfall bei der versicherten Tätigkeit, also innerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule, ereignet hat, ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten beim Unfall einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der schulischen Tätigkeit bestehen, die es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSG SozR 3- 2200 § 548 Nr.21). Dabei bedürfen alle rechtserheblichen Tatsachen des vollen Beweises dergestalt, daß sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorgelegen haben (vgl. BSGE 45, 285). Dies betrifft nicht nur den Unfallvorgang selbst, sondern auch die versicherte, also dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule zuzurechnende Tätigkeit. Diese, insbesondere die Zweckbestimmung der zum Unfall führenden Verrichtung, muß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein (Krasney, VSSR 1993, 81, 113 m.w.N.). Allein aus der Tatsache, daß der Kläger am Ort der Unterbringung während der Orchesterfahrt verletzt aufgefunden wurde, kann noch nicht geschlossen werden, daß der Unfall mit der schulischen Veranstaltung innerlich zusammenhängt. Wie bereits ausgeführt, besteht bei Schulausflügen kein Versicherungsschutz rund um die Uhr, vielmehr sind typische eigenwirtschaftliche Verrichtungen, die in keinem wesentlichen inneren Zusammenhang mit der Schulveranstaltung stehen, vom Versicherungsschutz ausgenommen. Ein Fall, in dem die Unterbringung selbst zum pädagogischen Zweck der Orchesterfahrt gehört hätte (vgl. BSG SozR 3-220 § 539 Nr.22) liegt hier nicht vor.

Ist in einem Fall wie dem vorliegenden der innere Zusammenhang der zum Unfall führenden Verhaltensweise mit dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule nicht bewiesen, weil der Unfallverlauf ungeklärt bleibt, kann Versicherungsschutz nur bejaht werden, wenn nur noch solche Sachverhaltsgestaltungen in Betracht kommen, die jeweils Versicherungsschutz begründen würden. Nach den auch im Unfallrecht geltenden Regeln der sogenannten Wahlfeststellung ist Versicherungsschutz zu bejahen, wenn der Unfallverlauf ungeklärt bleibt und naturgemäß mehrere theoretische Möglichkeiten offenstehen, alle denkbaren Unfallverläufe und Zusammenhänge jedoch zu dem Ergebnis führen, daß Versicherungsschutz zu bejahen ist, weil die versicherte Tätigkeit in jedem denkbaren Falle eine rechtlich wesentliche Ursache für den Unfall gewesen ist (BSG SozR 2200 § 148 Nr.84). Dies trifft für den vorliegenden Fall jedoch nicht zu. Dabei bedarf es keiner näheren Überlegungen mehr, welche unfallversicherungsrechtlich nicht geschützten Verhaltensweisen des Klägers ernsthaft in Betracht zu ziehen sind, die den Versicherungsschutz ausschließen würden. Es ist vielmehr so, daß sich bei dem denkbaren Geschehensablauf keine Sachverhaltsvarianten anbieten, die einen wesentlichen inneren Zusammenhang zur schulischen Veranstaltung begründen könnten. Insoweit haben sich sowohl der Kläger selbst als auch die einvernommenen Zeugen keinen Reim auf das Geschehen bilden können, und auch das Gericht sieht keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang, der Versicherungsschutz begründen könnte.

Ist, wie im vorliegenden Fall, der notwendige innere Zusammenhang zwischen dem Schutzbereich der Versicherung und dem Unfall nicht beweisbar, so treffen die Folgen der objektiven Beweislosigkeit denjenigen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will (vgl. BSG SozR 3-2200 § 548 Nr.14). Das ist im vorliegenden Fall der Kläger, weil dessen Anspruch vom Vorliegen eines solchen inneren Zusammenhanges abhängig ist.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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