L 8 AL 364/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 AL 93/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 364/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Kläger werden die Urteile des Sozialgerichts Augsburg vom 12. September 2000 und die Bescheide vom 8. Januar 1998 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20. Januar 1998 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Klägern jeweils ab 21.11.1997 Arbeitslosengeld zu bewilligen.
II. Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 21.11.1997 streitig.

Die 1972 geborene Klägerin zu 1.) bezog nach Abschluss ihrer Ausbildung als Hotelfachfrau vom 15. bis 29.02.1992 von der Beklagten Alg. Der 1971 geborene Kläger war nach Abschluss seiner Ausbildung als Koch vom 15.08.1991 bis 15.02.1992 beschäftigt und meldete sich am 13.02.1992 arbeitslos und beantragte Alg. Die Bewilligung von Alg wurde mit der Begründung abgelehnt, es sei eine Sperrzeit von sechs Wochen eingetreten. Zum 01.03.1992 haben sich beide in Arbeit abgemeldet.

Am 19.11.1997 meldeten sich die Kläger wieder bei der Beklagten arbeitslos und haben Alg beantragt, als Adresse gaben sie jeweils die H.straße in S. an. Nach Mitteilung des Österreichischen Arbeitsmarktservice waren sie ab 01.03. 1992 mit jährlicher Befristung bei demselben Arbeitgeber in Österreich - P.hotel A. - beschäftigt und haben vom 17.11. bis 14.12.1992, vom 28.04. bis 26.05. und 27.11. bis 14.12.1993, vom 22.04. bis 09.05. und 25.11. bis 15.12.1994, vom 05.04. bis 27.05. 06. bis 17.12.1995, vom 26.04. bis 07.05. und 27.11. bis 15.12.1996 in Österreich Alg bezogen; das letzte Arbeitsverhältnis ab 16.12.1996 endete ebenfalls wegen Befristung am 20.11.1997.

Mit Bescheiden vom 08.01.1998 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Alg mit der Begründung ab, die Kläger hätten nicht unmittelbar vor der am 21.11.1997 wirksam gewordenen Arbeitslosmeldung Beschäftigungszeiten im Geltungsbereich des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zurückgelegt. Die Widersprüche wies sie mit Widerspruchsbescheiden vom 22.01.1998 zurück. Da das bilaterale Abkommen mit Österreich nicht mehr anzuwenden sei, sei nur noch zu prüfen, inwieweit aufgrund EG-Vorschriften ein Alg-Anspruch gegeben sei. Nach Art.67 Abs.3 EWGV 1408/71 seien Beschäftigungszeiten, die ein Deutscher in einem anderen EG-Land als Arbeitnehmer ausübe, nur dann anwaltschaftsbegründend, wenn er nach Beendigung seiner Beschäftigung in seinem Heimtland eine die beitragspflichtbegründende Beschäftigung ausgeübt habe.

Mit ihren zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhobenen Klagen haben die Kläger geltend gemacht, die in Österreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten müssten berücksichtigt werden. Mit Urteilen vom 12.09.2000 hat das SG die Klagen abgewiesen. Die Kläger seien innerhalb der Rahmenfrist ausschließlich in Österreich und damit nicht beitragspflichtig im Sinne des § 168 AFG beschäftigt gewesen. Eine Berücksichtigung der in Österreich zurückgelegten Beschäftigung setze nach Art.67 Abs.3 EWGV 1408/71 voraus, dass unmittelbar vor der Arbeitslosmeldung in der Bundesrepublik Deutschland Versicherungszeiten zurückgelegt worden seien. Auch die Voraussetzungen für einen Anspruch nach Art.71 Abs.1 Buchst.b Ziffer ii EWGV 1408/71 lägen nicht vor, da die Kläger mit ihrer Beschäftigungsaufnahme in Österreich ihren Wohnsitz und Lebensmittelpunkt auf Dauer in dieses Land verlegt hätten.

Mit ihren Berufungen machen die Kläger geltend, man habe nicht die Absicht gehabt, auf Dauer in Österreich zu verbleiben, sondern wieder in die Bundesrepublik zurückzukehren. Ihr Lebensmittelpunkt habe sich nach wie vor hier befunden. Sie hätten bereits am 18.08.1997 einen Mietvertrag über eine gemeinsame Wohnung in der Bundesrepublik Deutschland zum 15.11.1997 abgeschlossen und hätten am 17.11.1997 ihren Wohnsitz in Deutschland angemeldet. Man sei nach Österreich gegangen, um dort Erfahrungen zu sammeln, da Auslandserfahrung in ihrem Beruf wichtig sei. Von Anfang an sei beabsichtigt gewesen, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Dies sei im November 1997 erfolgt, weil sie der Meinung gewesen seien, dass sie eine Weiterarbeit in Österreich beruflich nicht mehr weiter bringe und sie sich in Deutschland etwas aufbauen wollten. Während des Aufenthaltes in Österreich hätten sie ständigen Kontakt mit ihren Eltern, Großeltern und sonstigen Verwandten und Freunden aufrechterhalten und regelmäßig ihren Urlaub in Deutschland verbracht. Darüber hinaus hätten sie auch während ihrer saisonalen Beschäf- tigungen von Dezember bis April und Mai bis November durchschnittlich zwei- bis dreimal ihre Verwandten und Freunde in Deutschland besucht. Zudem hätten sowohl die Klägerin zu 1) als auch der Kläger zu 2) jeweils im Hause der Eltern das von Kindheit an bewohnte Zimmer weiterhin zur Verfügung gehabt und während ihrer Besuche bewohnt.

Die Kläger beantragen sinngemäß, die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Sozialgerichts Augsburg vom 12.09.2000 und der Bescheide vom 08.01.1998 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20.01.1998 dem Grunde nach zu verurteilen, ihnen jeweils ab 21.11.1997 Arbeitslosengeld zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Berufungen zurückzuweisen.

Ein Anspruch werde auch nicht dadurch begründet, dass die Kläger noch während der letzten Beschäftigung ihren Wohnort nach Deutschland verlegt und nach dieser Verlegung nicht mehr in den Beschäftigungsstaat Österreich zurückgekehrt seien. Die für die Anwendung des Art.71 Abs.1 Buchst.b Ziffer ii EWGV 1408/71 erforderlichen besonderen Beziehungen zu Deutschland hätten hier nicht vorgelegen. Einer Anwendung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Arbeitslosenversicherung stehe entgegen, dass die Kläger nach In-Kraft-Treten der EWG-Verordnungen Leistungen nach österreichischem Recht bezogen und mithin auf ihre Rechte aus dem Abkommen verzichtet hätten.

Der Senat hat mit Beschluss vom 26.11.2001 die beiden Streit- sachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufungen sind zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 SGG) liegt nicht vor.

Die Rechtsmittel erweisen sich auch in der Sache als begründet. Den Klägern steht ab 21.11.1997 Alg zu.

Die Kläger haben gemäß § 100 Abs.1 AFG Anspruch auf Alg ab 21.11.1997, da sie ab diesem Zeitpunkt der Arbeitsvermittlung zur Verfügung standen, die Anwartschaftszeit erfüllt, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alg beantragt haben. Insbesondere haben sie die Anwartschaftszeit erfüllt, obwohl sie im Sinne des § 104 Abs.1 Satz 1 AFG innerhalb der dreijährigen Rahmenfrist in der Bundesrepublik Deutschland nicht in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung im Sinne des § 168 AFG gestanden haben. Denn insoweit bestimmt Art.7 Abs.1 Satz 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Arbeitslosenversicherung (BGBl. 1979 Teil II, S.790 ff.), dass Zeiten einer beitragspflichtigen Beschäftigung, die nach den Rechtsvorschriften des anderen Vertragsstaates zurückgelegt worden sind, bei der Beurteilung, ob die Anwartschaftszeit erfüllt ist, und bei der Festsetzung der Anspruchsdauer (Bezugsdauer) berücksichtigt werden, sofern der Antragsteller die Staatsangehörigkeit des Vertragsstaates besitzt, in dem der Anspruch geltend gemacht wird und sich im Gebiet dieses Vertragsstaates gewöhnlich aufhält. Letzteres ist hier gegeben, da die Kläger ab 17.11.1997 erneut ihren Wohnsitz auf Dauer in der Bundesrepublik Deutschland begründeten und sich somit hier gewöhnlich aufhalten und zudem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Da sich ein Anspruch somit aus diesem Abkommen ergibt, kann dahinstehen, ob, wofür vieles spricht, die Kläger auch Anspruch auf Alg gegen die Beklagte gemäß Art.71 Abs.1 Buchstabe b Ziffer ii EWGV 1408/71 haben, weil sie noch während der Dauer des Arbeitsverhältnisses ihren Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland zurückverlegt und während ihres Aufenthaltes in Österreich, der von vornherein nur als vorübergehend beabsichtigt war, aufgrund ihrer familiären Bindungen besondere Beziehungen zu dem Land, in dem sie sich jetzt gewöhnlich aufhalten, nämlich der Bundesrepublik Deutschland, aufrechterhalten haben (vgl. EuGH, Urteil vom 22.09.1988, 236/87, SozR 6050 Art.71 Nr.10; BSG SozR 3-6050 Art.71 Nr.5).

Art.7 Abs.1 Satz 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Arbeitslosenversicherung ist hier weiterhin anzuwenden ungeachtet der Tatsache, dass in Österreich seit 01.01.1994 die EWGV 1408/71 gilt, die in Art.6 bestimmt, dass sie an die Stelle solcher bilateralen Abkommen über soziale Sicherheit tritt; die durch Art.7 Abs.2c EWGV 1408/71 eröffnete Möglichkeit, das Abkommen weiter gelten zu lassen, wurde ausdrücklich nur für Art.1 Abs.5 und Art.8 des Abkommens, nämlich für die Grenzgängerregelung, wahrgenommen. Denn unabhängig davon lassen es Art.48 Abs.2 und Art.51 EWGVtr nicht zu, dass Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicher- heit verlieren, weil Abkommen, die zwischen zwei oder mehr Mitgliedsstaaten bestehen und in das nationale Recht eingeführt sind, aufgrund des In-Kraft-Tretens der EWGV 1408/71 unabwendbar werden (EuGH, Urteil vom 07.02.1991 -C-227/89, SozR 3-6030 Art.48 Nr.3). Gerade der von Art.51 verfolgte Zweck der Herstellung der für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen werde verfehlt, wenn Arbeitnehmer, die von diesem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit, die ihnen jedenfalls die Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates sichern, verlieren (EuGH aaO).

Diese Grundsätze gelten auch für die Anwendung des deutsch-österreichischen Abkommens für Arbeitslosenversicherung, wenn Arbeitnehmer vor In-Kraft-Treten der EWGV 1408/71 und dem damit verbundenen grundsätzlichen Außer-Kraft-Treten bilateraler Abkommen von dem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben (EuGH, Urteil vom 05.02.2002 -C-277/99-, SozR 3-6050 Art.71 Nr.14). Die Kläger haben hier von dem Recht auf Freizügigkeit vor dem 01.01.1994 Gebrauch gemacht, indem sie in Österreich eine Beschäftigung aufgenommen und vorübergehend dort ihren Wohnsitz begründet haben. Wenn die Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten, aufgrund deren ein Anspruch auf Alg geltend gemacht wird, vor dem In-Kraft-Treten der EWGV 1408/71 begonnen haben, sind diese Zeiten für die gesamte Zeit, während der von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht wurde, nach den Bestimmungen des bilateralen Abkommens zu beurteilen, ohne dass danach zu unterscheiden ist, ob diese Zeiten vor oder nach dem In-Kraft-Treten der EWGV liegen (EuGH aaO). Dass die EWGV 1408/71 mit dem Beitritt Österreichs zur EG anwendbar geworden ist, darf keine Auswirkungen auf ein wohl erworbenes Recht, in den Genuss einer bilateralen Regelung zu kommen, die in dem Zeitpunkt, in dem von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht wurde, allein anwendbar war, haben. Denn die Betroffenen, hier die Kläger, haben ein schützenswertes Vertrauen entwickeln dürfen, von den Bestimmungen des bilateralen Abkommens profitieren zu können (EuGH aaO).

Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn der Betreffende nach Erschöpfung aller seiner Rechte aus dem Abkommen erneut von der Freizügigkeit Gebrauch macht und neue Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zurücklegt, die ausschließlich nach dem In-Kraft-Treten der EWGV 1408/71 liegen. Dies ist hier nicht der Fall. Zu Unrecht wendet die Beklagte ein, die Kläger hätten in Österreich Leistungen wegen Arbeitslosigkeit bezogen und dadurch auf ihre Rechte aus dem Abkommen "verzichtet". Der Leistungsbezug in Österreich beruhte ausschließlich auf der Anwendung österreichischen Rechts, wonach derjenige, der in Österreich Beschäftigungszeiten zurücklegt, dort auch Anspruch auf Leistungen hat. Die sich gerade aus dem deutsch-österreichischen Abkommen über Arbeitslosenversicherung ergebenden Ansprüche haben die Kläger erstmals mit der Arbeitslosmeldung in der Bundesrepublik Deutschland am 19.11.1997 geltend gemacht, da nur dieses Abkommen einen Anspruch in dem Vertragsstaat, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt, und in dem man sich nunmehr gewöhnlich aufhält, begründet, wenn die Beschäftigungszeiten in dem anderen Vertragsstaat zurückgelegt wurden. Somit liegt der vom EuGH dargestellte Ausnahmefall, wonach Rechte aus dem Abkommen nicht mehr bestehen, wenn nach Erschöpfung der Rechte aus dem Abkommen erneut von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht und neue Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten zurückgelegt wurden, hier nicht vor.

Somit waren auf die Berufungen der Kläger die Urteile des So- zialgerichts Augsburg vom 12.09.2000 und die Bescheide der Beklagten vom 08.01.1998 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 20.01.1998 aufzuheben und diese dem Grunde nach zu verurteilen, den Klägern ab 21.11.1997 Alg zu bewilligen.

Die Entscheidung konnte gemäß § 124 Abs.2 SGG ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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