S 31 SB 282/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
31
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 31 SB 282/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 22.01.2001 und der Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001 werden aufgehoben. Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz - SchwbG - um die Höhe des Grades der Behinderung - GdB -.

Bei der 1945 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Bescheid vom 29.08.1995 einen GdB von 50 wegen

1. Verlust der Gebärmutter im Stadium der Heilungsbewährung (nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten GdB 50)

2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Skoliose und Beckenschiefstand rechts (GdB 10)

festgestellt.

Im Juli 2000 trat der Beklagte in eine Überprüfung des Behinderungsgrades von Amts wegen ein. Zu diesem Zweck holte er Befundberichte von dem Frauenarzt T und dem Arzt für Nervenheilkunde I ein und hörte die Klägerin unter dem 16.10.2000 zu einer ins Auge gefassten Herabsetzung des GdB auf 20 an. Zur Begründung führte der Beklagte in seinem Anhörungsschreiben aus:

"Nach den maßgebenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz werden bei Erkrankungen, die zu Rückfällen neigen, für einen bestimmten Zeitraum nicht nur die Funktionsstörungen infolge von Organ- und Gliedmaßenschäden sowie die damit verbundenen Leistungsbeeinträchtigungen berücksichtigt, sondern auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung in der Lebensführung. In Anbetracht dieser besonderen Umstände ist bei ihnen der GdB höher als allein nach den objektiv vorliegenden Funktionseinschränkungen festgestellt worden. Aus den mir jetzt vorliegenden Berichten des T von 21.08.2000 sowie des I vom 18.09.2000, die ich unter Beteiligung meines ärztlichen Beraters ausgewertet habe, ergibt sich, dass hinsichtlich der bei ihnen festgestellten Funktionsbeeinträchtigung "Verlust der Gebärmutter" eine Heilungsbewährung eingetreten ist. In den letzten Jahren seit ihrer Erkrankung sind Rückfälle nicht aufgetreten, das Risiko eines Rückfalls ist erheblich reduziert und ihr Gesundheitszustand hat sich stabilisiert".

Hiergegen wendete sich die Klägerin, indem sie ausführte, die beabsichtigte Herabstufung wegen einer Heilungsbewährung sei falsch. Bei ihr bestehe ein familiär erhöhtes Karzinom-Risiko.

Mit Bescheid vom 22.01.2001 setzte der Beklagte den GdB auf 20 herab. Dabei ist der Beklagte - nach der internen ärztlichen Stellungnahme vom 05.10.2000 - allein von der Behinderung degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Skoliose mit Beckenschiefstand rechts, chronisches Schmerzsyndrom (GdB 20) ausgegangen.

Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, den sie erneut mit dem familiär erhöhten Krebsrisiko begründete.

Mit Bescheid vom 13.06.2001 wies der Beklagte den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus:

Bei Funktionsbeeinträchtigungen, die zu Rückfällen neigen oder bei denen die Belastbarkeit abgewartet werden muss, stellt ohne Befundänderung allein die durch Zeitablauf eingetretene Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 des Zehntes Buches des Sozialgesetzbuches - SGB X - dar.

Gegen den Bescheid richtet sich die am 16.07.2001 bei Gericht eingegangene Klage.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 22.01.2001 und den Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung Befundberichte von dem Orthopäden E, dem Internisten H, dem Nervenarzt I und dem Gynäkologen T eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene und Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Maßgebend ist die Rechtslage bei Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheides, der noch bei Geltung des Schwerbehindertengesetzes erlassen wurde (Seit Juil 2001 SGB IX).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.

Nach § 48 SGB X, auf den der Beklagte seinen Bescheid gestützt hat, kann, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt aufgehoben werden.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vorliegend nicht vor. Weder in den rechtlichen noch in den tatsächlichen Verhältnissen hat sich seit Erteilung des Verwaltungsaktes vom 29.08.1995 eine wesentliche Änderung ergeben.

Tatsächlich liegt eine Änderung nicht vor, weil der Gesundheitszustand hinsichtlich des Krebsleidens am 29.08.1995 im Wesentlichen der gleiche war wie zum Zeitpunkt des Bescheides vom 22.01.2001. Sowohl im Januar 2001 wie auch im August 1995 hat die Klägerin an einem Zustand nach Verlust der Gebärmutter durch Krebs gelitten. Der bei der Klägerin vorliegende Gebärmutterkrebs ist im Marienhospital Düsseldorf im Februar 1994 entfernt worden. Seitdem sind Metastasen des Tumors nicht mehr nachgewiesen worden. Eine erkennbare Änderung im Gesundheitszustand zwischen August 1995 und Januar 2001 ist demnach nicht ersichtlich. Wenn überhaupt hat sich hier eine Verschlechterung ergeben, denn das Wirbelsäulenleiden der Klägerin wird nun mit einem GdB von 20 bewertet.

In den Verhältnissen der Klägerin ist auch keine rechtliche Veränderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten. Die Vorschrift des § 48 SGB X ist im fraglichen Zeitraum nicht verändert worden.

Soweit sich der Beklagte hinsichtlich der Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 1996" - Anhaltspunkte - beruft, ist festzuhalten, dass diese "Anhaltspunkte" keine Rechtsgrundlage für den Entzug von Sozialleistungen darstellen können. Nach Artikel 19 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - darf in eine Rechtsposition nur mittels eines allgemein geltenden Gesetzes eingegriffen werden. Die "Anhaltspunkte" sind kein Gesetz (Strassfeld , Charakter der "Anhaltspunkte" unter www.uwendler.de). Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG Urteil vom 11.10.1994, Az.: 9 RVs 1/93) festgestellt, dass den "Anhaltspunkten" rechtsnormähnliche Qualität zukommt, dies reicht jedoch ebenfalls nicht aus, um den Vorgaben des Grundgesetzes gerecht zu werden. Das Bundessozialgericht hat nämlich gleichzeitig ausgeführt, dass auf Dauer den "Anhaltspunkten" nur gefolgt werden kann, wenn diese in ein Gesetz überführt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 06.03.1995 (Az.: 1 BvR 60/95) festgestellt, dass die "Anhaltspunkte" in Zukunft nur Beachtung finden können, wenn sie in ein "Gesetz" überführt werden. Vor dem Bundesverfassungsgericht hat der Bundesminister für Arbeit, der die "Anhaltspunkte" herausgibt, seinerzeit zugesagt, die "Anhaltspunkte" alsbald in ein Gesetz zu überführen. Das Bundesverfassungsgericht hat dann ausgeführt:

"Bis zur Schaffung der erforderlichen Rechtsgrundlagen ist ein Eingreifen des Bundesverfassungsgericht noch nicht angezeigt ( ...)."

Diesbezüglich ist allerdings festzuhalten, dass inzwischen sieben Jahre vergangen sind und der Bundesminister für Arbeit keinerlei Anstalten macht, die "Anhaltspunkte" in ein Gesetz zu überführen. In einem Parallelverfahren vor dem SG Düsseldorf hat der Bundesminister inzwischen mitgeteilt, dass jedenfalls in dieser Legislaturperiode keine "Verrechtlichung" der Anhaltspunkte mehr geplant ist. Das Gericht geht davon aus, dass die Überführung der "Anhaltspunkte" in ein Gesetz damit zumindest noch auf Jahre nicht erfolgen dürfte. Damit wird ein für Gerichte und Behinderte nicht hinnehmbarer Rechtszustand zementiert. Nach somit weiter geltender "Rechtslage" wird nämlich das "Gesetz" im Schwerbehindertenrecht weiterhin ausschließlich von der Verwaltung selbst gemacht. Inwieweit die "Anhaltspunkte" geändert oder fortgeschrieben werden bestimmt nämlich der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesminister für Arbeit. Dieser besteht aus den leitenden Ärzten der Landesversorgungsämter und einigen Mitarbeitern des Bundesministeriums für Arbeit. Dieses Gremium unterliegt keiner wie immer gearteten parlamentarischen oder rechtlichen Kontrolle, sondern es bestimmt allein nach Gutdünken darüber, welcher Behinderungsgrad welcher Krankheit zugeordnet wird.

Neben der Tatsache, dass die Verwaltung hier das maßgebliche Recht selber ausgestaltet, ist das gewählte Verfahren auch aus anderen Gründen bedenklich. Zum einen fehlt den "Anhaltspunkten" jegliche Transparenz, denn Außenstehende und selbst die Gerichte können nicht erkennen, welche Behinderung gerade wie bewertet wird. Zum Anderen erfüllen die "Anhaltspunkte" nicht die vom Bundessozialgericht aufgestellten Anforderungen, weil sie einer wissenschaftlichen Grundlage entbehren und nicht von einem entsprechenden Fachgremium aufgrund der zusammengefassten Sachkunde und Erfahrung ihrer sachverständigen Mitglieder erstellt werden (vgl. BSG Urteil vom 02.05.2001 Az.: B 2 U 24/00 R). Außerdem sind die "Anhaltspunkte" rechtswidrig, denn Sie weichen vielfach von Begutachtungsrichtlinien der Berufsgenossenschaften ab, was zu Feststellungen nach dem SchwbG führt, die mit Art. 3 GG nicht in Einklang zu bringen sind.

1. Die mangelnde Transparenz der Anhaltspunkte folgt daraus, dass die Anhaltspunkte nur etwa alle 10 Jahre neu gefasst werden. Zwischenzeitlich werden aber die "Anhaltspunkte" durch den ärztlichen Sachverständigenbeirat beim BMA - auf seinen halbjährlichen Beiratssitzungen - geändert. Die Beschlüsse über diese Änderungen werden vom Bundesminister für Arbeit ausschließlich den Versorgungsbehörden zur Verfügung gestellt. So hat der Bundesminister für Arbeit mit Schreiben vom 01.08.2001 an alle Ministerien und Senatoren für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Bundesländer folgendes Schreiben verschickt:

"Wie die ( ...) Prüfung der Rechtslage ergeben hat, sind die Niederschriften urheberrechtlich geschützt. Bei ihnen handelt es sich weder um Rechtsnormen noch um sonstige, im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlichte Werke im Sinne des § 5 Urheberschutzgesetz.

Eine Veröffentlichung oder Verwertung der Niederschriften über die Sitzungen des ärztlichen Sachverständigenbeirats, ob als Druckwerk oder im Internet, ist deshalb ( ...) unzulässig."

Anlass für dieses Schreiben war die Veröffentlichung von Beiratsbeschlüssen (ohne nicht öffentliche Aussagen und persönliche Angaben in den Beschlüssen) durch das Landessozialgericht NRW, auf dessen Internetseite. Folgerichtig hat der BMA dem LSG und Anderen, die die Beschlüsse veröffentlichen wollten, dies auch untersagt (vgl. "Rechtliches" auf der Internetseite http://www.uwendler.de.). Mit dem Schreiben des BMA wird klargestellt, dass die Versorgungsämter die Niederschriften in keiner Weise weitergeben dürfen. Die geht auch aus dem Vermerk zur Beiratssitzung von November 2000 hervor, wo der Beirat ausführt:

Aus gegebenem Anlaß wurde darauf hingewiesen, dass die Sitzungen der Sektion Versorgungsmedizin nicht öffentlich sind. Die Niederschriften der Sitzungen werden deshalb nur einem sehr eng begrenzten Kreis von Berechtigten ( ...) übersandt. Mit der Übersendung hat der Empfänger nicht das Recht, die Niederschriften ( ...) weiterzugeben, oder sogar für eine Veröffentlichung ( ...) freizugeben.

Da die Niederschriften nur mit nichtöffentlichen Aussagen und persönlichen Angaben weitergegeben werden, und Niederschriften ohne diese Zusätze vom Bundesminister weder erstellt noch veröffentlicht werden, ist ein Zugriff Dritter, sogar der Gerichte, auf die Niederschriften nicht möglich. In NRW erhalten die Gerichte die Niederschriften zwar seit 1997 aufgrund einer Vereinbarung mit dem Landesversorgungsamt NRW, dies gilt jedoch für andere Bundesländer nicht. Der BMA hat sich jedenfalls gegenüber dem Sozialgerichts Düsseldorf geweigert, die Niederschriften zur Verfügung zu stellen.

Zwar wird ein Teil der Niederschriften in dem von Mitarbeitern des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung bearbeiteten Kommentar Rohr/Strässer "veröffentlicht", dies reicht jedoch zur allgemeinen Kenntnisnahme nicht aus. Abgesehen davon, dass der obengenannte Kommentar mehrere hundert Euro kostet und daher als allgemeine Veröffentlichungsquelle schon nicht geeignet ist, werden in dem Kommentar nur einige der Beiratsbeschlüsse aufgeführt. Zudem werden die Beschlüsse dort nicht im Wortlaut wiedergegeben, sondern ihnen wird von den Kommentatoren ein vermeintlicher Inhalt unterstellt. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass Beschlüsse falsch oder sinnentstellt wiedergegeben werden. Zudem werden ältere Beschlüsse des ärztlichen Sachverständigenbeirats, die nicht mehr dem aktuellen Stand der "Anhaltspunkte" entsprechen oder die die Verfasser des Kommentars für nicht mehr zutreffend halten, nicht abgedruckt. Damit ist der nach § 48 SGB X erforderliche Vergleich der Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses früherer Bescheide mit der heutigen Rechtslage anhand des Kommentars nicht möglich.

Auch die gelegentlich vom Bundesminister für Arbeit veröffentlichten Änderungen der "Anhaltspunkte" in seinem Ministerialblatt sind zur Herstellung der erforderlichen Transparenz nicht ausreichend. So hat der BMA beispielsweise erst im Jahre 2001, rückwirkend einzelne Änderungen der letzten vier Jahre in seinem Ministerialblatt veröffentlicht (Schreiben des BMA vom 20.3.2001 Geschäftszeichen VI a 5 -65463-3). Eine so sporadische und zudem äußerst lückenhafte Veröffentlichung der Beiratsbeschlüsse und der Änderungen der "Anhaltspunkte" hält das Gericht für nicht ausreichend.

Tatsächlich ist auch von Seiten des Bundesarbeitsministeriums gar nicht beabsichtigt, den Antragstellern, Anwälten und Behindertenvertretern sowie den Gerichten den aktuellen Stand der "Anhaltspunkte" bekannt zu geben. Dies wird schon daraus sichtbar, dass sich der BMA nach dem oben zitierten Schreiben vom 01.08.2001 hier auf das Urhebergesetz beruft und zwar mit der Begründung, die Beiratsbeschlüsse seien nicht "zur allgemeinen Kenntnisnahme"bestimmt (Schreiben vom 1.8.01(a.a.O.).

Es ist nicht Aufgabe dieser Entscheidungsgründe über Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise des BMA zu spekulieren. Es muss aber die Feststellung getroffen werden, dass der BMA jedenfalls mit allen Mitteln versucht, eine Unterrichtung breiter Kreise über die Fortschreibung der "Anhaltspunkte" zu verhindern.

2. Die "Anhaltspunkte" stellen zudem kein "einleuchtendes und abgewogenes Beurteilungsgefüge" (BSG Urteil vom 11.10.1994 a.a. O.) dar. Dies schon deshalb, weil die "Anhaltspunkte" - entgegen entsprechender Behauptungen des BMA - nicht auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt sind. Die "Anhaltspunkte" werden nämlich - wie bereits oben dargelegt - ausschließlich von den leitenden Ärzten der Landesversorgungsämter und den Mitarbeitern des BMA ausgestaltet. Diese Schöpfer der Anhaltspunkte sind in der Regel nicht wissenschaftlich oder klinisch tätig, in der Regel nicht einmal mit der praktischen Auslegung der "Anhaltspunkte" befasst, denn die leitenden Ärzte der Landesversorgungsämter sind ganz überwiegend mit Verwaltungsorganisationstätigkeiten betraut. Es erscheint daher nicht unbedingt zwingend, dass gerade dieser Kreis von Medizinern den ausschließlichen Sachverstand besitzt, die Auswirkung von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu beurteilen. Tatsächlich funktionieren die "Anhaltspunkte" nach einem System, dessen wissenschaftliche Legitimation eher fraglich ist; nämlich wie folgt:

Der Leiter der Sektion Versorgungsmedizin beim Bundesminister für Arbeit Dr. Rösner ist gleichzeitig Chefredakteur (Hauptschriftleiter) der Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige" und zwar nicht nur im Nebenamt, sondern offenbar im Rahmen seiner BMA-Tätigkeit, denn er firmiert auf dem Briefpapier des die Zeitschrift herausgebenden "Gentner Verlages" mit seiner Dienstbezeichnung und (ausschließlich) seiner dienstlichen Telefonnummer beim BMA. Dieser Zeitschrift - die, nur wenige Abonnenten (soweit bekannt ca. 1000) hat und Verbreitung kaum über die Verwaltung hinaus findet - spricht der BMA und der Sachverständigenbeirat beim BMA die Kompetenz zu, den Stand der medizinischen Wissenschaft bei Begutachtungen wiederzugeben. Bei näherer Betrachtung gewinnt der Beobachter allerdings den Eindruck, dass es sich bei dieser Zeitschrift um ein abgeschottetes System handelt, um unter Anderem. die "Anhaltspunkte" (pseudo-) wissenschaftlich zu begründen. Jedenfalls liegen dem Gericht Beschwerden von unabhängigen Sachverständigen vor, dass eine Veröffentlichung Ihrer Beiträge von der Zeitschrift abgelehnt wurde. Wie aus verschiedenen Beiratsbeschlüssen ersichtlich, funktioniert das System in der Praxis so, dass beispielsweise ein zum ärztlichen Sachverständigenbeirat gehörender oder diesem Beirat gesonnener Arzt, einen entsprechenden Bericht in der Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige" veröffentlicht. Diese Veröffentlichung wird dann, bei der nächsten Beiratssitzung, zur Tischvorlage gemacht und unter Berufung auf diese Veröffentlichung, die nun angeblich den Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben soll, werden die "Anhaltspunkte" geändert. Dieser Irreführung ist sogar das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 11.10.1994 aufgesessen. Zur Untermauerung, dass das vom BMA (Dr. Rösner) in den "Anhaltspunkten" verankerte Institut der "Heilungsbewährung" wissenschaftlichem Stand entspricht, wird dort auf einen Aufsatz von Dr. Rösner in "Der medizinische Sachverständige" (Chefredakteur Dr. Rösner) verwiesen.

Auch in vielen anderen Bereichen werden die "Anhaltspunkte" von unabhängigen Sachverständigen zum Teil scharf angegriffen.

So berücksichtigen die "Anhaltspunkte" beispielsweise bei Herzerkrankungen weder das Geschlecht (trotz nachweislich unterschiedliche Leistungsfähigkeit) noch das Gewicht.

Das Institut der Heilungsbewährung ist z.T. systemwidrig (fehlende Funktionsbeeinträchtigung) z.T. -hinsichtlich der Zeiten - willkürlich, seine Begründung ist zweifelhaft, wie auch der vorliegende Fall zeigt. So führt der Bekl. im Widerspruchsbescheid aus, die "Heilungsbewährung" bewerte "für einen bestimmten Zeitraum nicht nur die Funktionsstörungen infolge von Organ- und Gliedmaßenschäden sowie die damit verbundenen Leistungsbeeinträchtigungen, sondern auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung in der Lebensführung". Die Klägerin stützt aber ihre Klage hier - mit guten Gründen - gerade darauf, dass entsprechende Ängste und Ungewissheiten in gleichem Ausmaß auch nach Ablauf der Heilungsbewährung bestehen können.

Bei Gelenkveränderungen bewerten die "Anhaltspunkte" im Wesentlichen nur die Funktionsbreite, nicht aber die Minderbelastung von Gelenken u.s.w.

Viele ernst zu nehmende Wissenschaftler zweifeln daher an, dass die "Anhaltspunkte" ein in sich logisches und wissenschaftlich nachvollziehbares Beurteilungsgefüge bilden. Da Sie aber über die Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige" (s.o) kein Forum für ihre Thesen erhalten, bleibt ihre Meinung bei Änderungen der "Anhaltspunkte" unbeachtet.

3. Schließlich sind die "Anhaltspunkte" mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften des SGB XI nicht in Einklang zu bringen. Gemäß § 69 Abs. 2 (früher § 4 Abs. 2 SchwbG) des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - SGB IX - ist eine Feststellung nach Abs. 1 des § 69 nicht zu treffen, wenn eine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Erwerbsminderung schon in einem Rentenbescheid, einer entsprechenden Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung oder einer vorläufigen Bescheinigung der für dieser Entscheidungen zuständigen Dienststellen getroffen worden ist. Eine Feststellung nach Satz 1 gilt zugleich als Feststellung des Grades der Behinderung.

Nach der vorgenannten zitierten Rechtsnorm hat also derjenige, bei dem eine bestimmte MdE zum Beispiel in einem berufsgenossenschaftlichen Verfahren festgestellt wurde, gleichzeitig Anspruch auf einen entsprechenden GdB bzw. die bei ihm festgestellte MdE gilt als GdB nach dem Schwerbehindertengesetz. Unter Berücksichtigung von Art. 3 GG (Gleichheitsgrundsatz) gebietet diese gesetzliche Vorschrift die "Anhaltspunkte" in den entsprechenden Bereichen so zu gestalten, wie die entsprechenden Tabellen zum Beispiel der Berufsgenossenschaften. Dem werden die Anhaltspunkte aber nicht gerecht. So hat noch der ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMA in seiner Sitzung vom April 2001 bekundet, dass er der Änderung der Berufsgenossenschaft bei dem Verlust einer Hand nicht folgen will und den GdB für diese Behinderung weiterhin mit 50 ansetzen will (BG= MdE 60). Dies hat praktisch zur Folge, dass jemand der seine Hand bei einem Berufsunfall verliert Anspruch auf einen GdB von 60 hat. Wer dagegen seine Hand bei einem Freizeitunfall verliert, hat dagegen nur Anspruch auf einen GdB von 50. Diese Unterscheidung ist nicht nur grob systemwidrig, sondern auch rechtlich nicht vertretbar, denn das Schwerbehindertenrecht unterscheidet ausdrücklich nicht danach, bei welcher Gelegenheit und aus welchem Grund eine Behinderung eingetreten ist. Nach Recherchen der Kammer weichen die (verschiedenen) BG-Richtlinien in über 40 Fällen von den "Anhaltspunkten" ab, so dass bei Berufsunfällen die Bildung des GdB häufig eher zufällig ist.

Nach alledem hält es die Kammer nicht mehr für gerechtfertigt, die "Anhaltspunkte" anzuwenden, denn die Behinderten werden von diesen unangemessen benachteiligt.

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) den Gerichten ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln. Zwar haben die Gerichte bislang hiervon keinen Gebrauch gemacht, eine Gruppe von unabhängigen Sachverständigen hat jedoch im Internet inzwischen eine "Behindertentabelle" (www.behindertentabelle.de) veröffentlicht, die eine Reihe der oben zitierten Fehler der "Anhaltspunkte" beseitigt. Diese Tabelle ist für jedermann zugänglich und die aus ihr abzulesenden Behinderungsgrade sind damit nachvollziehbar. Im Übrigen folgt die Tabelle internationalen Vorgaben und Standards und die Tabelle gleicht die Behinderungsgrade in zahlreichen Fällen den "BG-Richtlinien" an (zumindest dort, wo Behinderte benachteiligt sind. In den Fällen, wo Behinderte durch die "Anhaltspunkte" begünstigt werden, ist eine Angleichung gemäß § 69 SGB IX nicht erforderlich). Mit dem Erscheinen der "Behindertentabelle" sind auch die Bedenken des BSG hinsichtlich einer gleichmäßigen Behandlung der Behinderten ausgeräumt. Das Bundessozialgericht hat nämlich die weitere Anwendung der "Anhaltspunkte" im wesentlichen damit begründet, dass eine Alternative zu den "Anhaltspunkten" fehle. Zwar dürfte auch die "Behindertentabelle" - zumindest derzeit - noch nicht alle Ungereimtheiten der "Anhaltspunkte" beseitigen. Gerichte, unabhängige Sachverständige und Behinderte haben aber die Möglichkeit diese Tabelle entsprechend auszubauen und zu beeinflussen.
Rechtskraft
Aus
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