L 14 RA 87/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 28 RA 47/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 RA 87/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 250/03 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.10.2001 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass auch die Klage gegen den Rentenbescheid vom 27.04.2001 abgewiesen wird. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung einer Ersatzzeit gemäß § 250 Abs. 1 Ziffer 3 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI) für den Zeitraum vom 01.10.1955 bis zum 31.01.1957 bei der Altersrente des Klägers.

Der Kläger wurde am 00.00.1939 in Q, Kreis P in Schlesien (jetzt Polen) geboren. Er reiste am 00.00.1957 in die Bundesrepublik Deutschland ein und ist Inhaber des Vertriebenenausweises A. Im Rahmen eines im Jahre 1993 betriebenen Kontenklärungsverfahrens führte der Kläger zu seinem Vertreibungsschicksal aus, seine Mutter habe im Mai 1945 Polen verlassen, da der Vater in der Waffen-SS gedient habe. Er selbst sei bei der Großmutter zurückgeblieben und im Wege der Familienzusammenführung im Februar 1957 zu seiner Mutter nach T gelangt. In einer schriftlichen Erklärung führte die Zeugin B H (Tante des Klägers/Schwester der Mutter) am 20.09.1993 aus, der Kläger habe auf dem Hof seiner Großmutter ohne Lohn gegen Kost und Logis nach Verlassen der Volksschule bis zum Februar 1957 gearbeitet.

In dem auf der Grundlage des § 149 Abs. 5 SGB VI erteilten Bescheid vom 06.01.1995 lehnte die Beklagte u.a. die Vormerkung der Zeit vom 29.09.1955 bis zum 20.02.1957 als rentenrechtliche Zeit ab, da sie weder nach dem deutsch-polnischen Abkommen noch nach dem Fremdenrentengesetz erfasst werde. Dieser Bescheid wurde insoweit bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 05.06.1997 bat der Kläger um Überprüfung der Nichtanerkennung von rentenrechtlichen Zeiten für den Zeitraum vom 01.10.1955 bis zum 31.03.1957. Ab Vollendung seines 14. Lebensjahres bis zur Übersiedlung nach Deutschland sei zumindest eine Ersatzzeit anzurechnen, da er in Polen festgehalten worden sei.

Mit Bescheid vom 10.12.1997 lehnte die Beklagte die Berücksichtigung des Zeitraumes vom 01.10.1955 bis 31.03.1957 als Ersatzzeit ab, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Im Rahmen des hiergegen erhobenen Widerspruchs führte der Kläger aus, seine Mutter habe 1945 Polen Hals über Kopf verlassen und ihn bei der Großmutter zurücklassen müssen. Anschließend seien die Grenzen geschlossen gewesen. Die Bemühungen der Mutter, den Sohn nachkommen zu lassen, hätten erst im Februar 1957 Erfolg gehabt. Mit Bescheid vom 25.11.1998 erkannte die Beklagte den Monat Februar 1957 als Ersatzzeit wegen Vertreibung bzw. Flucht an. Im Übrigen und wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.1999 zurück. Die Berücksichtigung der Zeit vom 01.10.1955 bis 31.01.1957 als Ersatzzeit gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI komme nicht in Betracht, da der Kläger keiner feindlichen Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift ausgesetzt gewesen sei. Die nach Beendigung des zweiten Weltkrieges in den Ostblockstaaten verhängten allgemeinen Ausreisesperren seien keine feindlichen Maßnahmen, denn sie hätten sich nicht gegen den Berechtigten als Deutschen oder deutschen Volkszugehörigen gerichtet.

Hiergegen hat der Kläger am 08.04.1999 bei dem Sozialgericht Dortmund Klage erhoben.

Der Kläger hat vorgetragen, er habe in der Schule unter Repressalien leiden müssen. Seine Tante habe nach der Ausreise seiner Mutter die Mutterrolle übernommen. Man habe den Hof gemeinsam bewirtschaftet. Er wisse nicht, wer in seiner Kindheit bzw. Jugend einen Ausreiseantrag für ihn gestellt habe.

Der Kläger hat beantragt,

unter Abänderung des Bescheides vom 10.12.1997 und 25.11.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.03.1999 die Beklagte zu verpflichten, die Zeit vom 01.10.1955 bis 31.01.1957 als Ersatzzeit für die Rentenberechnung vorzumerken.

Die Beklagte hat beantragt,

die Kläger abzuweisen.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin B H. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 13.09.2001 (Bl. 88 ff. PA) verwiesen. Außerdem hat das Sozialgericht die vom Landessozialgericht NRW in dem Rechtsstreit L 3 An 29/72 erteilten Auskünfte der deutschen Botschaft in Warschau vom 31.07.1975 und des Osteuropa-Institutes vom 01.03.1976 beigezogen (Bl. 27 f, 29 bis 52 PA).

Mit Bescheid vom 27.04.2001 hat die Beklagte dem Kläger Altersrente für Schwerbehinderte ab dem 01.07.2001 bewilligt.

Mit Urteil vom 25.10.2001 hat das Sozialgericht die Klage - ohne mündliche Verhandlung - abgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Vormerkung der Zeit vom 01.10.1955 bis 31.01.1957 als Ersatzzeit. Die Voraussetzungen der dafür allein in Betracht kommenden Vorschriften des § 250 Abs. 1 Ziffer 3 SGB VI seien nicht erfüllt. Hiernach könnten Zeiten vor dem 01.01.1992 angerechnet werden, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden habe und der Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr während oder nach dem Ende des Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen bis zum 30.06.1945 an der Rückkehr aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze oder danach aus Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches dieser Gesetze, soweit es sich nicht um das Beitrittsgebiet handele, verhindert gewesen oder dort festgehalten worden sei. Der Kläger sei jedoch nicht durch feindliche Maßnahmen gehindert worden, aus seinem Heimatgebiet in Polen in den Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze zurückzukehren. Dabei sei bereits ein Rückkehrwillen bei dem Kläger in der fraglichen Zeit nicht gegeben. Der ernsthafte Willen des Klägers selbst, den Mittelpunkt seines persönlichen und wirtschaftlichen Lebensbereichs nach Deutschland zu verlegen, sei nicht dargetan. Vielmehr sei die Ausreise des Klägers nach den Angaben der Zeugin von der Mutter des Klägers betrieben worden. Dabei neige die Kammer der Auffassung zu, dass ab dem 14. Lebensjahr insoweit auf den Willen des Minderjährigen abzustellen sei. Stelle man aber auf den Willen der Mutter als maßgeblichen ab, sei völlig ungeklärt, wann der Ausreiseantrag gestellt worden sei, da weder der Kläger noch seine Tante hierzu hätten Angaben machen können. Da somit nicht feststehe, ab wann ein Rückkehrwille bestanden habe, habe der Kläger nach dem auch im Sozialgerichtsverfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast, die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen. Abgesehen davon sei der Kläger auch nicht durch feindliche Maßnahmen an der Ausreise aus Polen gehindert worden. In Polen habe damals, wie den Ausführungen des Osteuropa-Institutes zu entnehmen sei, ein generelles Ausreiseverbot bestanden, wobei sich diese Freizügigkeitsbeschränkung überwiegend gegen die polnische Stammbevölkerung und keineswegs allein oder überwiegend gegen die deutsche Volksgruppe gerichtet habe. Es habe sich daher nicht um eine überwiegend gegen Deutsche gerichtete feindliche Maßnahme gehandelt.

Gegen das ihm am 14.11.2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11.12.2001 Berufung eingelegt.

Der Kläger vertritt weiterhin die Auffassung, dass er durch feindliche Maßnahmen gehindert gewesen sei, in den Geltungsbereich des Reichsversicherungsgesetzes zurückzukehren. Insoweit sei auf den Willen der Mutter abzustellen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25.10.2001 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Rentenbescheides vom 27.04.2001 zu verurteilen, die Zeit vom 01.10.1955 bis 31.01.1957 als Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI rentensteigernd zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen S C und F C. Wegen der Einzelheiten der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 10.10.2003 verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten sowie die Akte des Sozialgerichts Dortmund - Az.: S 28 An 61/97 - Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Gegenstand des Verfahrens ist jedoch nur noch der bereits vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils ergangene Altersrentenbescheid vom 27.04.2001, durch den die nach § 149 SGB VI ergangenen Vormerkungsbescheide vollständig ersetzt worden sind. Mithin ist dieser Bescheid nach § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand schon des Klageverfahrens geworden.

Der Kläger kann eine höhere Rente unter Berücksichtigung der geltend gemachten Ersatzzeiten nicht beanspruchen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Ersatzzeit nach der vom Sozialgericht zutreffend wieder gegebenen Bestimmungen des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI liegen nicht vor. Dabei lässt es der Senat offen, ob hinsichtlich des insoweit erforderlichen Rückkehrwillens auf den Willen des Klägers oder den seiner im streitigen Zeitraum bereits längere Zeit in Deutschland lebenden Mutter abzustellen ist, und wie der Umstand zu bewerten ist, dass die tatsächliche elterliche Sorge ersichtlich nicht von der Mutter ausgeübt werden konnte. Dies kann dahingestellt bleiben, da auch unter Würdigung der Beweisaufnahme weiterhin nicht dargetan ist, dass der Kläger ab Vollendung seines 14. Lebensjahres bis zu seiner Ausreise nach Deutschland im Februar 1957 durch eine feindliche Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI an einer Rückkehr aus Polen nach Deutschland verhindert gewesen ist. Bei den in dieser Vorschrift genannten "feindlichen Maßnahme" kann es sich nur um solche Maßnahmen handeln, mit denen ein ausländischer Staat in der Person der deutschen Staats- und Volkszugehörigen den früheren Kriegsgegner Deutschland treffen will. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG soll mit der rentenrechtlichen Berücksichtigung von Ersatzzeiten nämlich Ersatz für solche Zeiten gewährt werden, während der infolge außergewöhnlicher, in der Regel kriegsbedingter Umstände Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung nicht zurückgelegt werden konnten (BSG, SozR 2200 § 1251 Nr. 103). Bestand indessen unabhängig von der Staats- und Volkszugehörigkeit ein allgemeines Ausreiseverbot für die gesamte Bevölkerung, liegt in der Regel keine feindliche Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI vor, weil nicht hauptsächlich deutsche Volkszugehörige oder speziell die Ausreise nach Deutschland betroffen waren. Das generelle Ausreiseverbot in Polen stellte schon im Hinblick auf das Potsdamer Abkommen keine feindliche Maßnahme dar (BSG, SozR 2200 §§ 1251 Nr. 58, 126, 129). Wie das BSG ebenfalls bereits mehrfach entschieden hat, kann im Zusammenhang mit einem allgemeinen Ausreiseverbot nur dann ausnahmsweise doch von einer feindlichen Maßnahme ausgegangen werden, wenn die individuellen Modalitäten der Anwendung, also die Verweigerung der Ausreise, eine besondere persönliche Richtung gegen einzelne oder Gruppen von Deutschen hatte (BSG, SozR 2200 § 1251 Nr. 52; Urteil vom 12.12.1995 - Az.: 8 RKN 4/94 mit weiteren Nennungen). Eine derartige individuelle Ausrichtung des allgemeinen Ausreiseverbots bezogen auf den Kläger hat dieser jedoch weder selbst dargetan noch konnte eine solche besondere Zielrichtung im Rahmen der Beweisaufnahme festgestellt werden. Dabei liegt eine solche persönliche Zielrichtung ersichtlich nicht bereits dann vor, wenn Ausreiseanträge im Rahmen des allgemeinen Ausreiseverbots ohne nähere Begründung abgelehnt worden sind. Zwar hat der Zeuge S C bekundet, dass seine Mutter von Deutschland aus mehrere Versuche unternommen habe, eine Ausreise des Klägers nach Deutschland zu bewirken, und diese Ausreiseanträge zunächst abgelehnt worden seien. Diesem Vorgang kann indessen keine besondere Zielrichtung im Sinne der Rechtsprechung des BSG bezogen auf die Person des Klägers entnommen werden. Die Ablehnung solcher Ausreiseanträge ist letztlich dem Bestehen eines allgemeinen Ausreiseverbots immanent und kann daher als allgemeine Verwaltungspraxis keine feindliche Maßnahme darstellen.

Gegen eine besondere Zielrichtung des Ausreiseverbotes im Falle des Klägers spricht auch der Umstand, dass nach den Bekundungen des Zeugen S C den Großeltern des Klägers vom polnischen Staat kurz nach dem zweiten Weltkrieg die Möglichkeit eingeräumt worden war, entweder Polen in Richtung Deutschland zu verlassen oder aber bewusst für Polen zu "optieren". Dies war nach Darstellung des Zeugen darauf zurückzuführen, dass im Heimatgebiet des Klägers von jeher zwei Sprachen, nämlich polnisch und deutsch vorherrschten. Tatsächlich haben die Großeltern auch bewusst eine "Option" für ein Verbleiben in Polen ausgeübt. Auch dies lässt vermuten, dass die Familie des Klägers keinen gezielten deutschfeindlichen Maßnahmen ausgesetzt war.

Gegen eine besondere persönliche Ausrichtung in der Umsetzung des Ausreiseverbotes sprechen auch die Darlegungen des Zeugen F C, der bezogen auf sein eigenes Ausreiseverfahren, das er jedoch erst ab 1958 betrieben hatte, im Rahmen seiner Vernehmung bekundet hat, dass der Erfolg von Ausreiseanträgen unter Umständen davon abhing, ob der Arbeitgeber den jeweiligen Ausreisewilligen entbehren konnte, oder ob der polnische Staat ggf. Interesse an gewissen Vermögenswerten hatte, die der betreffende Ausreisewillige zurück ließ. Welche Gründe für die Ablehnung der den Kläger betreffenden Ausreiseanträge maßgebend waren, konnte auch der Zeuge letzlich nicht sagen.

Sowohl nach der Aussage der Tante des Klägers, der Zeugin B H, die bereits vom Sozialgericht vernommen worden ist, als auch nach den Aussagen seiner Brüder, der Zeugen S und F C, lassen sich somit keine über die bloße Ablehnung von Ausreiseanträgen hinausgehenden besonderen Maßnahmen gegen den Kläger feststellen, in denen sich über die Anwendung des allgemeinen Ausreiseverbotes in Polen hinausgehende besondere Benachteiligungen des Klägers realisiert hätten. Eine feindliche Maßnahme im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI ist in diesem Sinne mithin vom Kläger weder im Einzelnen dargetan, noch glaubhaft gemacht oder gar nachgewiesen worden.

Da mithin eine anspruchsbegründende Tatbestandsvoraussetzung bereits nicht vorliegt, bedarf es keiner weiteren Feststellungen zur Rückkehrverhinderung oder zu der Frage, inwieweit der Kläger gemäß § 250 Abs. 2 Nr. 3 an einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit auch aus anderen als denen in § 250 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 5 genannten Gründen nicht ausgeübt hat, was ggf. zu einer Begrenzung der Ersatzzeiten vom 01.10.1955 bis zum 31.12.1956 führen würde.

Aus alledem konnten Berufung und Klage keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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