B 9 SB 6/02 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 SB 6/02 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. August 2002 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu Recht von 50 auf 30 herabgesetzt hat.

Bei dem Kläger wurde im August 1998 ein Rektumkarzinom (TNM-Klassifikation: pT2, N0, M0) operativ entfernt. Der Beklagte bezeichnete die Funktionsbeeinträchtigung als "Teilverlust des Dickdarms, Stadium der Heilungsbewährung" und stellte einen GdB von 50 fest (Bescheid vom 23. März 1999). Mit Bescheid vom 19. Oktober 2000 setzte er - nach Anhörung des Klägers - den GdB unter Bezeichnung der Funktionsstörungen als "Teilverlust des Dickdarms, Verdauungsstörung, Ablauf der Heilungsbewährung" mit folgender Begründung auf 30 herab: Die Zeit der Heilungsbewährung sei abgelaufen, so dass der GdB nun unter Berücksichtigung der tatsächlich vorliegenden Behinderung habe bewertet werden können. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2001).

Das Sozialgericht Düsseldorf (SG) hat die Herabsetzungsentscheidung aufgehoben und zur Begründung ausgeführt (Urteil vom 14. März 2002): Weder die tatsächlichen noch die rechtlichen Verhältnisse hätten sich seit dem Erstbescheid von März 1999 geändert. Der Tumor sei bereits im Sommer 1998 entfernt worden, der Teilverlust des Dickdarms bereits damals eingetreten. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP 1996), in denen eine Höherbewertung des GdB bis zur Heilungsbewährung vorgesehen sei, stellten keine Rechtsgrundlage für den Entzug von Sozialleistungen dar. Sie würden rechtsstaatlichen Anforderungen nicht gerecht.

Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. August 2002). Es hat seine Entscheidung auf folgende Erwägungen gestützt: Zur Einschätzung des GdB sei auf die AHP 1996 zurückzugreifen, die normähnlichen Charakter hätten und in der Regel wie untergesetzliche Normen anzuwenden seien. Das dort geregelte Institut der Heilungsbewährung sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Zu Recht habe der Beklagte den GdB deshalb zunächst höherbewertet und nach Ablauf der Zeit der Heilungsbewährung herabgesetzt. Der Gesamt-GdB für die verbliebenen Funktionsstörungen ("Teilverlust des Dickdarms, Verdauungsstörung, Ablauf der Heilungsbewährung") und die mit einem Einzel-GdB von 10 daneben bestehende Divertikulose sei mit 30 einzuschätzen.

Mit seiner Revision macht der Kläger geltend: Das LSG habe § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Der im Ausgangsbescheid mit 50 festgesetzte GdB habe nicht herabgesetzt werden dürfen, weil die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers sich seither nicht geändert hätten. Es gebe keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach bei einer Krebserkrankung der vorliegenden Art bereits zwei Jahre nach der Operation eine Heilungsbewährung eingetreten sei. Zu Unrecht habe das LSG den AHP 1996 einen solchen Erfahrungssatz entnommen. Die AHP genügten - allgemein - rechtsstaatlichen Anforderungen an untergesetzliche Rechtsnormen nicht und gäben in dem hier entscheidenden Punkt auch nicht die herrschende Meinung in der medizinischen Wissenschaft wieder. Das LSG hätte eigene Feststellungen zur Dauer der Heilungsbewährung nach Operation von Rektumkarzinomen treffen müssen und hätte die Frist mit fünf Jahren bemessen müssen (Hinweis auf Pschyrembel, 258. Aufl, S 800, unter "Karzinom, kolorektales").

Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 8. August 2002 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 14. März 2002 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, dort werde intensiv an einer Verrechtlichung der AHP gearbeitet. Mit der Einleitung eines förmlichen Gesetzgebungsverfahrens sei noch im Jahre 2003 zu rechnen (Schreiben vom 18. März 2003 - Az 435-61821/61073).

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das klageabweisende Urteil des LSG ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden.

Der Beklagte hat den GdB nach Ablauf einer zweijährigen Heilungsbewährung zu Recht von 50 auf 30 herabgesetzt. Dieser Entscheidung fehlt - anders als vom Kläger und auch vom SG angenommen - weder eine gesetzliche Grundlage noch erweist sie sich als rechtswidrig, weil die Frist der Heilungsbewährung hier - wie vom Kläger gewünscht - statt mit zwei mit fünf Jahren zu bemessen wäre.

Da sich der Kläger iS einer Anfechtungsklage (vgl § 54 Abs 1 SGG) gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt wendet, bezieht sich die Prüfung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der (letzten) Verwaltungsentscheidung, hier also des Wiederspruchsbescheides des Beklagten vom 18. Juni 2001 (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 13, 21).

Ermächtigungsgrundlage für die hier angefochtenen Bescheide des Beklagten ist § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche, dh rechtserhebliche (vgl BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19), Änderung eintritt. Gestützt auf diese Vorschrift hat der Beklagte ohne Rechtsverstoß den bindenden Bescheid vom 23. März 1999 teilweise aufgehoben und einen niedrigeren GdB festgestellt. In der Zeit von März 1999 bis Juni 2001 haben sich zwar nicht die rechtlichen, wohl aber die tatsächlichen Verhältnisse in einem entsprechenden Maße geändert.

Maßstab für die GdB-Einschätzung sowohl im März 1999 (Ausgangsbescheid) als auch bei Ende des Verwaltungsverfahrens im Juni 2001 sind die AHP 1996. Ihre generelle Beachtlichkeit im konkreten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren als antizipierte Sachverständigengutachten ergibt sich zum einen daraus, dass eine dem allgemeinen Gleichheitssatz entsprechende Anwendung des § 4 SchwbG (Auftrag zur Feststellung des GdB) nur dann gewährleistet ist, wenn die verschiedenen Behinderungen nach gleichen Maßstäben beurteilt werden; zum anderen stellen die AHP 1996 (ebenso wie ihre Vorgänger) nach den Erfahrungen des BSG ein geeignetes, auf Erfahrungswerten der Versorgungsverwaltung und Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft beruhendes Beurteilungsgefüge zur Einschätzung des GdB dar (vgl BSGE 72, 285, 286 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; BSGE 75, 176, 177 f = SozR 3-3870 § 3 Nr 5; BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6). Dies galt auch für den streitbefangenen Zeitraum (vgl dazu ausführlich das Senatsurteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen), obwohl die AHP 1996 nach wie vor nicht demokratisch legitimiert sind. Weder für die AHP selbst noch für die Organisation, das Verfahren und die Zusammensetzung des dieses Regelwerk erarbeitenden und ständig überprüfenden Expertengremiums (des Ärztlichen Sachverständigenbeirats - Sektion Versorgungsmedizin - beim BMGS) gibt es eine Rechtsgrundlage im Sinne eines materiellen Gesetzes. Es ist aber absehbar, dass dieser "Missstand" (vgl BVerfG aaO S 12) demnächst endet, nachdem das BMGS mitgeteilt hat, ein förmliches Gesetzgebungsverfahren zur Verrechtlichung der AHP werde voraussichtlich noch im Jahre 2003 eingeleitet (vgl dazu bereits die Ankündigung in BArbBl 1997, Nr 4, 78). Unter diesen Umständen hält es der Senat nicht für sachgerecht, gerade jetzt durch eine pauschale Verwerfung der AHP 1996 eine für die Praxis schwer zu bewältigende Lage zu schaffen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass derzeit - wie das LSG im Einzelnen dargelegt hat - kein anderes Beurteilungssystem vorhanden ist, welches zumindest ebenso gut wie die AHP 1996 geeignet wäre, den GdB im Sinne von § 69 SGB IX bestimmen zu helfen, ohne denselben Bedenken zu begegnen wie diese.

Die nach § 48 Abs 1 SGB X erforderliche Änderung ergibt sich hier aus dem Ablauf einer Heilungsbewährungszeit. Nach dem Maßstab der AHP 1996 hat der Beklagte den GdB zutreffend zunächst auf 50 eingeschätzt und dann auf 30 herabgesetzt. Nr 26.10 AHP 1996 (S 98) schreibt nach Entfernung maligner Darmtumoren im Frühstadium (Dukes A; entspricht dem hier festgestellten Grad pT2, N0, M0 nach der TNM-Klassifikation, vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl 2002, 392 f, unter "Dukes-Klassifikation") - ohne künstlichen After - während einer Heilungsbewährung von zwei Jahren einen GdB von 50 vor. Dieser GdB war damit beim Kläger ohne Rücksicht auf den Grad der Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen für die Zeit von der Operation im Sommer 1998 bis zum Sommer 2000 anzunehmen. Für die Zeit danach ist der GdB auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen - dem Schweregrad der Afterschließmuskelschwäche entsprechend (s dazu AHP 1996, S 99) - mit 30 einzuschätzen, weil Rezidive und Metastasen des Tumors innerhalb von zwei Jahren nicht aufgetreten waren, die Heilung der Krebserkrankung im Anschluss an die Operation sich also "bewährt" hatte.

Ohne Erfolg macht der Kläger geltend, der in den AHP 1996 niedergelegte Erfahrungssatz einer zweijährigen Heilungsbewährung nach Entfernung maligner Darmtumoren widerspräche neuzeitlichen medizinischen Erkenntnissen; aus Pschyrembel aaO, 258. Aufl 1998, S 800 (unter "Karzinom, kolorektales") ergebe sich, dass die Erkrankung an einem kolorektalen Karzinom erst fünf Jahre nach dessen Operation als überwunden gelten könne. Daraus folge zwingend eine fünfjährige Frist bis zur Annahme einer Heilungsbewährung. Dieser Gedankengang trifft nicht zu. Unter der vom Kläger angegebenen Fundstelle wird eine "Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Dukes A 85 bis 100 % ..." genannt. Das besagt lediglich, dass 85 bis 100 % der an einem kolorektalen Karzinom (im Stadium Dukes A) erkrankten Personen die Operation um fünf Jahre überleben. Diese wahrscheinliche Überlebensrate ist nach den AHP für die Dauer der Heilungsbewährung unerheblich; denn wer nach fünf Jahren noch lebt, gleichgültig, ob inzwischen wiedererkrankt oder nicht, für den bestätigt sich nur, dass er zu den 85 bis 100 % (neuerdings: 90 bis 100%) Karzinompatienten gehört, für die ein Überleben dieses Zeitraumes prognostisch zu erwarten war. Die AHP stellen demgegenüber zu Recht auf die medizinstatistisch ermittelte Rezidivgefahr und deren signifikante Abnahme zwei Jahre nach der Operation ab (vgl Rösner, MedSach 1996, 173, 176 f; ders./Eckart, MedSach 1999, 117): 50 bis 80 % der Rezidive treten - nach dem Stadium des Primärkarzinoms nicht unterschieden - innerhalb dieses Zeitraums auf (vgl Pschyrembel, aaO, 259. Aufl 2002, S 837; missverständlich dagegen noch 258. Aufl 1998, S 801).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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