S 34 KR 647/00

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
34
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 34 KR 647/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.6.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2000 verurteilt, den Kläger nach jeweiliger Verordnung mit dem Medikament Xenical zu versorgen.
2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Xenical zusteht.

Der am XX.XX.44 geborene Kläger leidet unter Hypertonie, Diabetes mellitus und Gelenkverschleiss. Weiterhin ist der Kläger stark übergewichtig. Bei einer Körpergröße von 183 cm wiegt er aktuell 115 kg. Der in der Medizin zur Klassifizierung des Körpergewichts verwendete Body Maß Index (BMI) Quotient aus Körpergewicht in Kilogramm und Körpergröße in Metern zum Quadrat beträgt 34 (Normalgewicht: BMI kleiner = 25).

Bereits mit 19 Jahren war der Kläger erheblich übergewichtig. Durch Sport und körperliche Bewegung war er zunächst in der Lage, sein Körpergewicht zu reduzieren. Nachdem wegen Gelenkverschleiss 1994 eine Schulteroperation erfolgte und 1999 eine künstliche Hüfte eingesetzt werden musste, war es dem Kläger nicht mehr möglich, Sport zu treiben und durch mehr Bewegung das Gewicht zu halten oder zu verringern. Auch nach zahlreichen Diäten und zwei Kuren vermochte der Kläger sein Körpergewicht nicht dauerhaft zu reduzieren und nahm weiterhin zu. Zeitweise wog er sogar 132 kg. Mit Attest vom 18.05.2000 verordnete der behandelnde Arzt Dr. Krüger das Medikament Xenical für die Dauer von zunächst 12 Monaten. Wegen seiner Begleiterkrankungen sei der Patient nicht in der Lage, seinen Kalorienverbrauch durch Bewegung zu steigern. Bei dem Medikament Xenical handelt es sich um ein Präparat, welches zu einer Verminderung von 30 % des mit der Nahrung zugeführten Fettes führt. Mit Schreiben vom 16.06.2000, welches am 19.06.2000 bei der Beklagten einging, beantragte der Kläger die Versorgung mit dem Medikament Xenical. Beigefügt war das ärztliche Attest zur Vorlage bei der DAK vom 18.05.2000 sowie ein privatärztliches Rezept vom 14.06.2000 für Xenical. Mit Bescheid vom 23.06.2000 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme mit der Begründung ab, dass laut der Arzneimittelrichtlinien (AMR) des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen Xencal nicht verordnet werden dürfe. Am 25.07.2000 erhob der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkasse die Kompetenz für einen Ausschluss fehle.

Mit Bescheid vom 11.10.2000 wurde der Widerspruch des Klägers von der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen.

Unter dem 13.11.2000 erhob der Kläger Klage. Er führt zur Begründung an, dass nach der Rechtsprechung des BSG keine Kompetenz des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen für eine Einschränkung der Verordnung von Arzneimitteln bestehe, § 135 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) nicht für Fertigarzneimittel wie Xenical gelte und es sich bei Adipositas um eine Krankheit handele.

Der Kläger beantragt nunmehr,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.06.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2000 zu verurteilen, den Kläger nach jeweiliger Verordnung mit dem Medikament Xenical zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie ist der Ansicht, dass § 135 SGB V anwendbar sei und es sich um eine nicht anerkannte Behandlungsmethode handele, die nicht zu Lasten der Krankenkasse verordnet werden dürfe. Auch handele es sich nicht um eine Therapie einer Krankheit, sondern der Folgeerscheinungen.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 12.09.2003 informatorisch befragt. Es wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 12.09.2003. Der Kläger hat nach gerichtlichem Hinweis die Klage hinsichtlich der zunächst begehrten Erstattung für in der Vergangenheit verordneten und erworbenen Medikamente zurück genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 23.06.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.10.2000 ist rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Xenical nach jeweiliger ärztlicher Verordnung.

Gem. § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst der Anspruch auf Krankenbehandlung u.a. auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Dieser Anspruch wird durch § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V weiter spezifiziert: Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 ausgeschlossen sind.

Das erhebliche Übergewicht des Klägers stellt eine Krankheit im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V dar. Von einer Krankheit ist bei einem regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand auszugehen, der die Notwendigkeit einer Heilbehandlung zur Folge hat. Regelwidrig ist ein Zustand dann, wenn er vom Leibbild des gesunden Menschen abweicht (BSG, Urteil vom 10.02.93 SozR 3 - 2200 § 182 Nr. 14). Allein auf Grund der mit starkem Übergewicht einhergehenden Folgeerkrankungen wie Stoffwechselerkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen, Einschränkungen des Bewegungsapparates ergibt sich die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduzierung (BSG vom 19.02.2003, Az.: B 1 KR 1/02 R ). Bei einem BMI von mehr als 30 ist bereits von starkem Übergewicht auszugehen ( Adipositas I ), welches als behandlungsbedürftig anzusehen ist. Der Kläger hat einen BMI-Wert von derzeit 34. Weiterhin leidet er unter massiven Gelenk- und Arthroseproblemen. Aus diesem Grunde wurde in der Vergangenheit eine Schulteroperation erforderlich, ein künstliches Hüftgelenk ist eingesetzt worden und es droht unmittelbar der Einsatz eines künstlichen Kniegelenkes. Es liegt auf der Hand, dass die Gelenke durch Übergewicht stärker zusätzlich belastet werden und der Verschleiss weiter voranschreitet. Unabhängig von der Frage, ob Adipositas eine Krankheit darstellt, bestehen Erkrankungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Übergewicht stehen und für deren Behandlung/Linderung/Besserung eine Gewichtsreduzierung dringend erforderlich ist. Somit ist eine Gewichtsreduzierung allein auf Grund von Folgeerkrankungen indiziert.

Auch ist das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 Satz 1 SGB V nicht verletzt. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

Die erforderliche Gewichtsreduktion kann nicht durch möglicherweise wirtschaftlichere bzw. kostengünstigere Behandlungsalternativen erfolgen. Auf Grund des Gelenkverschleisses und der Arthroseproblematik kann der Kläger keinen Sport mehr ausüben und durch körperliche Bewegung eine Verringerung des Gewichts herbeiführen. Diätische Therapien scheiden ebenfalls aus. So hat der Kläger glaubhaft dargelegt und es wurde ihm vom Hausarzt bescheinigt, dass es zahlreiche Diätversuche in der Vergangenheit gegeben hat, die allesamt erfolglos geblieben sind. Der Kläger gibt an, mindestens zehn bis zwanzig verschiedene Diätmethoden probiert zu haben. Es ist offensichtlich, dass eine dauerhafte Gewichtsreduzierung auch bei einem weiteren Versuch scheitern wird. Im Übrigen sind Diäten nach neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis völlig untauglich und sogar kontraproduktiv für das Ziel, dauerhaft das Gewicht zu reduzieren. Sofern die Nahrungsmenge im Rahmen einer Diät reduziert wird geht der Organismus von einer nicht gewollten Nahrungsverknappung aus. Um für weitere zukünftige Verknappungen gewappnet zu sein wird die Nahrung, die zugeführt wird, besser verwertet und es werden schneller Fettreserven angelegt. Somit ergibt sich genau der gegenteilige Effekt. Der Körper speichert auch bei geringerer Nahrungs- und Fettzufuhr mehr Fett als vorher ab, um Energiereserven für weitere bevorstehende Nahrungsverknappungen zu speichern. Wird die Diät beendet, werden bei gleicher Nahrungsmenge mehr Fettreserven gebildet als vor Beginn der Diät. Dieser Effekt steigert sich bei weiteren Diäten. Jede Diät kann somit einen schwerwiegenden Eingriff mit möglicherweise negativen Folgen für den Körper darstellen. Auch verwerten Menschen Nahrung unterschiedlich, weshalb Übergewichtige nicht unbedingt wie landläufig angenommen, große Mengen fettreicher Nahrung einnehmen. Insofern ist der Vorwurf mangelnder Disziplin häufig unbegründet, und ernährungswissenschaftlich nicht haltbar. Es ist durchaus möglich und glaubhaft, dass der Kläger seiner Einschätzung nach nicht mehr, sondern eher weniger isst als andere.

Dies wurde ihm nach einer Kur bescheinigt und gerade auch die zahlreichen, erfolglosen Diäten, die er in der Vergangenheit gemacht hat, sprechen hierfür. Die einzig erfolgversprechende Möglichkeit das Gewicht zu reduzieren, wäre mehr Bewegung, Aktivität und Sport. Dies ist dem Kläger aus den genannten Gründen nicht möglich. Durch das Medikament Xenical reduziert sich die Fettaufnahme bei normaler oder leicht fettreduzierter Kost um bis zu 30 %. Durch die Blockierung der Fettaufnahme aus dem Magen- Darm Trakt wird ein kalorisches Defizit erreicht, dass die Gewichtsreduzierung erleichtert. Die Absorption von lebensnotwendigen Mineralstoffen und fettlöslichen Vitaminen wird hingegen nicht beeinflusst. Es handelt sich um ein nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassenes Medikament, sodass die pharmazeutische Wirksamkeit außer Frage steht und als nachgewiesen gilt. Ohne entsprechende Studien, die die Wirksamkeit des Präparats belegen, wäre eine Zulassung nicht erfolgt.

Dem Anspruch des Klägers auf Verordnung des Arzneimittels Xenical stehen auch nicht sonstige gesetzliche Vorschriften entgegen. Gem. § 34 SGB V zählt Xenical nicht zu den in Abs. 1 genannten Bagatellarzneimitteln. Eine Verordnung gem. § 2 ist bislang nicht ergangen. Schließlich scheitert der Sachleistungsanspruch auch nicht an der Regelung der Ziffer 17.1 (1 J) der Arzneimittelrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Danach dürfen Abmagerungsmittel und Appetitzügler nicht zu Lasten der Krankenkassen verordnet werden. Allerdings vermag die Regelung der AMRL den Anspruch des Klägers nicht zu beschränken, da sie nicht durch die Ermächtigungsgrundlage des § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V gedeckt ist. Das Bundessozialgericht hat ausgeführt, dass es nicht Aufgabe des Bundesausschusses sei, zulassungspflichtige Arzneimittel für den Einsatz in der vertragsärztlichen Versorgung einer nochmaligen, gesonderten Begutachtung zu unterziehen und die arzneimittelrechtliche Zulassung durch eine für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geltende Empfehlung zu ergänzen oder zu ersetzen. (Urteil vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00 R in SozR 3 - 2500 § 31 Nr. 8). Für die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V verbleiben nur Bestimmungen, welche die Art und Weise der Leistungserbringung betreffen (BSG, Urteil vom 16.11.99, Az.: B 1 KR 9/97 R in: SozR 3 - 2500 § 27 Nr. 12). Die Regelung des § 135 SGB V bezüglich neuer Behandlungsmethoden ist auf Fertigarzneimittel nicht anwendbar (BSG vom 19.03.2002 a.a.O.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Zwar hat der Kläger die Klage bezüglich der Kostenerstattung für die Vergangenheit zurückgenommen, jedoch wurde bei Klageerhebung nur ein Betrag von 198 DM geltend gemacht und dies stellt ein vergleichsweise geringfügiges Unterliegen im Hinblick auf die begehrte und zugesprochene Verordnung für die Zukunft dar.
Rechtskraft
Aus
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