L 9 B 127/99 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 73 KR 475/99 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 127/99 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 1999 wird zurückgewiesen. Die Antragstellerin hat den Antragsgegnern die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Antragsgegner stellten mit Bescheid vom 25. März 1999 mit Wirkung vom 1. Juni 1999 für Inkontinenzhilfen Festbeträge für Berlin fest und veröffentlichten diese im Bundesanzeiger vom 27. Mai 1999. Hiergegen hat die Antragstellerin, die Inkontinenzhilfen herstellt und ver-treibt, am 21. Juni 1999 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie die Feststellung der Nichtigkeit des Bescheides vom 25. März 1999, hilfsweise seine Aufhebung begehrt; über diese Klage hat das Sozialgericht noch nicht entschieden.

Ihren Antrag, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage festzustellen, hilfsweise anzuordnen, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 29. September 1999 abgelehnt. Die dagegen erhobene Beschwerde der Antragstellerin ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG- zulässig, aber unbegründet.

1. Das Sozialgericht hat die Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 25. März 1999 in entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- zu Recht abgelehnt. Denn der Klage gegen die Festbetragsfestsetzung kommt keine aufschiebende Wirkung zu. Zwar hat eine Klage gemäß § 97 Abs. 1 Nr. 3 Sozial-gerichtsgesetz -SGG- aufschiebende Wirkung, wenn damit die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes begehrt wird. Es ist jedoch schon zweifelhaft, ob diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht durch §§ 36 Abs. 3, 35 Abs. 7 Satz 2 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch -SGB V- verdrängt ist. Danach haben Klagen gegen die Festsetzung der Festbeträge keine aufschiebende Wirkung. Der Wortlaut dieser spezialgesetzlichen Regelungen beschränkt den Ausschluss des Suspensiveffektes einer Klage nicht auf bestimmte Klagearten. Der Regelungs-zweck dieser Normen, die aufschiebende Wirkung von Klagen gegen Festbetragsfestsetzungen auszuschließen, weil der Anwendung von Festbeträgen als wesentliches Kernelement der Strukturreform im Gesundheitswesen im besonderen Maße die Bedeutung zukommt, durch kostengünstige Versorgungsmöglichkeiten zur finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung -GKV- und damit zur Erhaltung ihrer Funktionsfähigkeit beizutragen (Ausschussbericht GRG S. 54 zu § 35 Abs. 8) spricht im Gegenteil für einen Ausschluss des Sus-pensiveffektes auch im Falle von Nichtigkeitsfeststellungsklagen.

Die abschließende Klärung dieser Rechtsfrage kann aber offen bleiben. Selbst wenn § 97 Abs. 1 Nr. 3 SGG im vorliegenden Fall anwendbar bliebe, entfaltete die Klage der Antragstellerin keine aufschiebende Wirkung. Denn sie ist lediglich formal als Nichtigkeitsfeststellungsklage erhoben worden, um den ansonsten durch das SGB V ausgeschlossenen Suspensiveffekt der Klage herbeizuführen, wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat (vgl. hierzu den Beschluss des BSG vom 11. Mai 1993 - 12 RK 82/92 NZS 1994, 335 ff). Die Antragstellerin hat mit ihrer Klage nicht einmal ansatzweise Nichtigkeitsgründe im Sinne des § 40 Abs. 1 und Abs. 2 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch -SGB X- geltend gemacht; sie hat sich zu ihrer Begründung pauschal darauf berufen, dass die Festbetragsfestsetzung gegen Artikel 85 EGV sowie - durch Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts zur Festsetzung von Festbeträgen für Arzneimittel (BSG NZS 1995, 502 ff) - gegen Artikel 12, 20 und 80 Grundgesetz -GG- verstoße. Dies reicht zur Geltendmachung der Nichtigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes nicht aus; denn die behauptete Verfassungs- und Europarechtswidrigkeit der der Festbetragsfestsetzung zugrunde liegenden Ermächtigungsnorm könnte lediglich deren Nichtigkeit begründen. Ein auf dieser Rechtsgrundlage beruhender Verwaltungsakt wäre gleichwohl lediglich rechtswidrig und anfechtbar, soweit er nicht an einem besonders schwerwiegenden und offensichtlichen Fehler litte. Einen solchen hat die Antragstellerin aber nicht einmal ansatzweise behauptet.

2. Das Sozialgericht hat auch die von der Antragstellerin hilfsweise begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage rechtsfehlerfrei abgelehnt. Hierfür kann offen bleiben, ob dem Sozialgericht darin zu folgen ist, dass der Antragstellerin bereits die Antragsbefugnis fehlt, obwohl sie als Herstellerin von Inkontinenzhilfen von der Festbetragsfestsetzung zumindest wirtschaftlich betroffen ist. Denn der Antrag ist insoweit jedenfalls unbegründet.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kommt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage in entsprechender Anwendung von § 80 Abs. 5 VwGO nur dann in Betracht, wenn das Interesse des von einem - kraft Gesetzes oder aufgrund behördlicher Anordnung - sofort vollziehbaren Verwaltungsakts Betroffenen an dem Aufschub der Maßnahme das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung übersteigt. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn sich der Verwaltungsakt bei summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist; denn an der sofortigen Vollziehung rechtswidriger Maßnahmen besteht kein öffentliches Interesse.

Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall schon deswegen gegeben sind, weil das Bundessozialgericht die den Spitzenverbänden der Krankenkassen durch § 35 SGB V eingeräumte Befugnis, für Arzneimittel Festbeträge festzusetzen, für verfassungswidrig gehalten und diese Frage gemäß Artikel 100 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt hat, bedarf hier keiner Klärung. Selbst wenn gegen die Möglichkeit zur Festsetzung von Festbeträgen in §§ 35 und 36 SGB V (ernstliche) verfassungsrechtliche und im Hinblick auf Artikel 5 Abs. 2 in Verbindung mit 3 g, 85, 86 und 90 EGV europarechtliche Zweifel bestehen sollten, käme allein im Hinblick auf die von der Antragstellerin geltend gemachten und vom Bundessozialgericht geteilten europa- und verfassungsrechtlichen Bedenken an der Rechtsgrundlage der Festbetragsfestsetzung eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht in Betracht.

Vielmehr ist in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Prüfung der aufgeworfenen europa- und verfassungsrechtlichen Fragen außerordentlich kompliziert und ihr Ergebnis und damit der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist, in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, sich die zugrunde liegenden Normen aber als verfassungswidrig erweisen sollten, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl die Normen verfassungsgemäß wären (vgl. hierzu Um-bach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 Rdnr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Nur auf diese Weise kann vermieden werden, dass eine im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommene Norm durch die Entscheidung eines Fachgerichtes im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes außer Kraft gesetzt und damit ein beim Bundesverfassungsgericht anhängiges konkretes Normenkontrollverfahren in der Hauptsache vorweggenommen wird, obwohl der Ausgang dieses Verfahrens ungewiss ist, wie im vorliegenden Fall schon die mehrjährige Anhängigkeit des Vorlagebeschlusses des BSG zeigt.

3. Unter Beachtung dieser Maßstäbe muss auch der Hilfsantrag erfolglos bleiben.

Es ist schon zweifelhaft, ob die Antragstellerin durch die Festsetzung der Festbeträge in Berlin bei ihren in Berlin abgesetzten Produkten tatsächlich eine Gewinn- und Umsatzeinbuße von mehr als 30 % zu erwarten hätte, wie sie behauptet hat. Denn sie hat dieses Vorbringen weder näher erläutert noch im Hinblick auf ihre Produktpalette nachvollziehbar belegt. Dies wäre hier aber deswegen erforderlich gewesen, weil die Antragsgegner darauf hingewiesen haben, dass ein Vergleich der Festbeträge für Inkontinenzhilfen gegenüber den Vertragspreisen ergäbe, dass bei zehn Hilfsmitteln der Produktgruppen 15.25.01.0 bis 15.25.03.2 lediglich bei sechs Produkten Preisabsenkungen bis zu 11,77 %, bei drei Produkten jedoch eine Preiserhöhung bis zu 12,50 % und bei einem Produkt keine Preisunterschiede aufträten. Zumindest bliebe im Hinblick auf dieses Vorbringen ungewiss, ob und in welchem Umfang die behaupteten Umsatz- und Gewinneinbußen der Antragstellerin auf die Festsetzung der Festbeträge zurückzuführen wären, zumal sie nicht einmal behauptet hat, alle in Berlin abgesetzten Produkte über zugelassene Leistungserbringer an Versicherte der Antragsgegner abgegeben zu haben.

Selbst wenn aber durch die Festbetragsfestsetzung der behauptete Umsatz- und Gewinnrückgang für die in Berlin abgesetzten Produkte der Antragstellerin verursacht worden wäre, ist nicht zu erkennen, dass diese Folge der Strukturreform des Gesundheitswesens die Antragstellerin schwerwiegend beeinträchtigen oder gar in ihrer Existenz bedrohen würde. Denn ihrem Vortrag ist auch nicht zu entnehmen, welchen Umsatz und Gewinn sie durch den Absatz ihrer Produkte außerhalb Berlins erwirtschaftet und zu welchen Gewinneinbußen die Festbetragsfestsetzung bezogen auf den gesamten Umsatz der Antragstellerin führt. Hierauf und nicht auf den Vergleich des Umsatzes in Berlin mit bzw. ohne Festbetragsfestsetzung kommt es jedoch für die vorliegende Interessenabwägung an. Es bleibt deshalb im Ergebnis völlig unklar, ob die begehrte Anordnung überhaupt zu einer ins Gewicht fallenden Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Antragstellerin beitragen würde.

Demgegenüber würde der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung die Antragsgegner erheblich treffen, weil ein Kernelement der Einsparpotentiale der gesetzlichen Krankenversicherung (vorläufig) beseitigt würde und damit ihre ohnehin schwache finanzielle Stabilität zusätzlich gefährdet wäre. Die Gewährleistung der finanziellen Stabilität der GKV stellt jedoch eine besondere Gemeinwohlaufgabe dar, welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte (BVerfGE 68, 193, 218 sowie Urteil des LSG Berlin, 15. Senat, vom 11. Januar 1995 - L 15 Kr 25/94 - mit weiteren Nachweisen).

Dies muss bei der vorliegenden Abwägung dazu führen, dass die ungewissen Vorteile des Erlasses der begehrten Anordnung für die Antragstellerin gegenüber den damit zwangsläufig einhergehenden Nachteilen für die Antragsgegner nicht entscheidend ins Gewicht fallen können. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes musste deshalb erfolglos bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 Satz 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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