L 7 P 7/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 33/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 7/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 07.02.2002 wird der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2001 vollständig aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Aufhebung der Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 01.01.2002 streitig.

Der 1985 geborene Kläger leidet an Mukoviszidose. Auf seinen Antrag vom 24.01.1995 hin wurde er am 20.04.1995 von einer Pflegefachkraft des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen in Bayern (MDK) untersucht. Diese stellte in ihrem Gutachten einen Pflegebedarf von täglich fünf Minuten, und zwar für die Kontrolle des Stuhlganges, fest. Weiterhin vertrat sie die Auffassung, aufgrund der Überwachung der Inhalationen und der Hilfe bei den Atemübungen bedürfe der Kläger täglich für 145 Minuten pflegerischer Hilfe, woraus sich Pflegestufe I ergebe. Mit Bescheid vom 09.05.1995 bewilligte die Beklagte daraufhin Pflegegeld nach Stufe I.

Am 20.03.2000 wurde der Kläger erneut von einer Pflegefachkraft des MDK untersucht. In dem Gutachten vom 27.03.2000 heißt es, es bestehe in der Grundpflege ein Bedarf von einer Minute (Stuhlgang), in der hauswirtschaftlichen Versorgung von 50 Minuten. Eine Pflegestufe liege nicht mehr vor, die Rückstufung ergebe sich dadurch, dass Zeiten der Behandlungspflege und hauswirtschaftliche Versorgung überwiegten, die Körperpflege aber selbstständig durchgeführt werde.

Nachdem für den Kläger auf das Anhörungsschreiben vom 29.03. 2000 hin vorgetragen worden war, er bedürfe der Hilfe bei den Inhalationen, beim Zubereiten der Mahlzeiten, beim 14-tägigen Besuch der Krankengymnastin und der Krankenhausambulanz (alle zehn Wochen), führte die Kinderärztin Dr. H. vom MDK in ihrer Stellungnahme 09.10.2000 aus, abgesehen von der täglichen Inspektion des Stuhlgangs bestehe kein körperbezogener Hilfebedarf. Die früheren Richtlinien hätten die Interpretation zugelassen, die therapeutischen Maßnahmen (Inhalationen, Körpergymnastik, autogene Drainage) seien den körperbezogenen Verrichtungen zuzuordnen. Nach heutiger gutachterlicher Praxis und Rechtsprechung sei die damalige Einstufung nicht mehr nachvollziehbar.

Mit Bescheid vom 07.11.2000 teilte die Beklagte daraufhin mit, dass ab 01.12.2000 keine Pflegeleistungen mehr gewährt würden. Den Widerspruch wies sie nach Einholung einer weiteren Stellungnahme der Dr. H. vom 14.12.2000 mit Widerspruchsbescheid vom 04.04.2001 als unbegründet zurück. Die früheren Richtlinien hätten die Interpretation zugelassen, dass die therapeutischen Maßnahmen (Inhalationen, Krankengymnastik, autogene Drainage) den körperbezogenen Verrichtungen zuzuordnen seien. "Nach heutiger gutachterlicher Praxis und Rechtsprechung ist die damalige Einstufung nicht mehr nachvollziehbar."

Zur Begründung der zum Sozialgericht Landshut (SG) erhobenen Klage ist für den Kläger vorgetragen worden, eine wesentliche Änderung im Sinne des § 48 Abs.1 SGB X sei nicht eingetreten. Die Mukoviszidose sei eine progredient verlaufende, unheilbare Krankheit. Das Gutachten von 1995 habe nur einen Hilfebedarf bei der Körperpflege von fünf Minuten täglich festgestellt, im Übrigen aber einen Hilfebedarf bei der Überwachung der Inhala- tion berechnet. Daran habe sich bis heute nichts geändert.

Mit Urteil vom 07.02.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, Leistungen nach Pflegestufe I bis einschließlich 31.12.2001 zu bewilligen, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Die Pflegebedürftigkeits- und Begutachtungs-Richtlinien hätten sich - wie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz - normähnlich entwickelt. Sie seien zum 22.08.2001 neu gefasst worden und kämen zum 01.01.2002 in der Neufassung zur Anwendung. Vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei die Berücksichtigung pflegeunterstützender Maßnahmen bei kranken oder behinderten Kindern (Abklopfen wegen Sekretelimination) ersatzlos gestrichen worden. Dies stelle eine Änderung der Rechtslage mit Wirkung zum 01.01.2002 dar. Demzufolge sei die Klage bis einschließlich 31.12.2001 begründet, im Übrigen jedoch abzuweisen gewesen.

Mit seiner Berufung begehrt der Kläger Leistungen über den 31.12.2001 hinaus. Der Rechtsauffassung des SG sei nicht zu folgen. In dem MDK-Gutachten von 1995 sei zu Unrecht empfohlen worden, Leistungen nach Pflegestufe I zu bewilligen. Nachdem in dem MDK-Gutachten vom 04.05.1995 ein Hilfebedarf nur bei einer einzigen Verrichtung (Darm- und Blasenentleerung) festgestellt worden und diesbezüglich auch kein Hilfebedarf von 45 Minuten erforderlich gewesen sei, sei die Empfehlung, Leistungen der Pflegestufe I zu zahlen, fehlerhaft gewesen. Eine Rücknahme wäre nur gemäß § 45 Abs.1 Satz 2 SGB X möglich gewesen. Hierfür habe die Beklagte die Handlungsfrist des § 45 Abs.3 Satz 1 SGB X nicht eingehalten.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 07.02.2002 abzuändern und den Bescheid der Beklagten vom 07.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2001 ganz aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Das BSG habe bestätigt, dass bei Mukoviszidosekranken die Frage nach den "verrichtungsbezogenen" Hilfeleistungen nicht nur vom Schweregrad der Erkrankung, sondern vor allem vom Lebensalter abhänge. Durch die altersentsprechende Entwicklung und die eingetretene Selbständigkeit habe sich der Hilfebedarf reduziert. Die Pflege- und Begutachtungsrichtlinien hätten analog zu den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz eine rechtsnormähnliche Qualität. Inzwischen seien Beschlüsse des BSG vom 27.06.2002 (B 3 P 15/02 B) und 02.07.2002 (B 3 P 16/02 B) ergangen, dass das Ausmaß der Schleimbildung in dem konkreten Erkrankungsfall nicht der Art gewesen sei, dass es zwingend mit dem Vorgang des Aufstehens unmittelbar verbunden werden müsse und Maßnahmen zur Sekretelimination in einem gewissen zeitigen Abstand zum Vorgang des Aufstehens denkbar seien. Der Nachweis des unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhangs mit dem Aufstehen und Zubettgehen sei beim Kläger nicht erbracht und auch vom MdK nicht bestätigt worden. Es liege hier ein anderer Fall als der vom BSG im Urteil vom 11.04. 2002, Az.: B 3 P 8/01 R, entschiedene vor.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als begründet. Der Bescheid der Beklagten ist auch insoweit nicht rechtmäßig, als er die Bewilligung von Pflegestufe I ab 01.01.2002 aufhebt.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 09.05.1995, mit dem Pflegegeld nach Stufe I bewilligt wurde, vorgelegen haben, keine wesentliche Änderung eingetreten, weshalb dieser Bescheid nicht gemäß § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden kann. Eine Änderung der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit (Begutachtuns-Richtlinien - BRi -) stellt keine Änderung der rechtlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs.1 Satz 1 SGB X dar, weshalb die Aufhebung des Bewilligungsbescheides nicht damit begründet werden kann, dass die BRi in der Fassung vom 22.08.2001 nicht mehr die Berücksichtigung pflegeunterstützender Maßnahmen wie das Abklopfen wegen Sekretelemination bei an Mukuviszidose Erkrankten vorsehen. Eine rechtliche Änderung in diesem Sinne kann nur durch die Änderung eines Gesetzes, einer Verordnung oder einer Satzung bewirkt werden. Die BRi haben jedoch nicht diese Rechtsqualität, auch wenn sie unter dem Genehmigungsvorbehalt des § 17 Abs.3 SGB XI stehen. Die Gerichte sind deshalb an den Inhalt dieser Richtlinien nicht gebunden und haben ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung sowie ihre sachliche Vertretbarkeit zu prüfen (vgl. Udsching, SGB XI, 2. Auflage, Rdnr.4 zu § 17). Nur soweit sie sich innerhalb des durch Gesetz und Verfassung vorgegebenen Rahmens halten, sind sie als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr.1 m.w.N.). Soweit sie allerdings gegen Normen im eigentlichen Sinne verstoßen, sind sie von Anfang an unbeachtlich, weshalb eine Änderung dieser Richtlinien, die sie mit dem höherrangigen Recht in Einklang bringt, keine Änderung der rechtlichen Verhältnisse darstellen kann.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der zum Teil vertretenen Auffassung, die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz hätten normähnlichen Charakter, weshalb ihre Änderung eine Anwendung des § 48 SGB X rechtfertige (vgl. von Wulffen, SGB X, 4. Auflage, Rdnr.6 zu § 48 m.w.N.). Denn auch insoweit ist unstreitig, dass auch diese Anhaltspunkte nur zu beachten sind, soweit sie mit den gesetzlichen Vorgaben in Einklang sind (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr.6). Nur soweit sie mit höherrangigem Recht in Einklang stehen, können sie als geschlossenes Beurteilungsgefüge angesehen werden, das verbindliche Maßstäbe für seinen Regelungsbereich liefern und innerhalb dieses Rahmens möglicherweise auch eine Änderung im Sinne des § 48 Abs.1 SGB X bewirken kann.

Im vorliegenden Fall standen die BRi aber, soweit sie generell Hilfen bei der Sekretelimination von an Mukoviszidose erkrankten Kindern als pflegerische Leistung im Sinne der §§ 14, 15 SGB XI angesehen haben, von Anfang an mit dem Gesetz nicht in Einklang. Denn diese Maßnahmen können grundsätzlich nicht den in § 14 Abs.4 SGB XI aufgezählten Verrichtungen zugeordnet werden. Etwas anderes gilt ausnahmsweise nur dann, wenn diese Maßnahmen wie das Abklopfen aus medizinisch-pflegerischen Gründen stets in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs.4 SGB XI durchgeführt werden müssen (vgl. BSG, Urteil vom 29.04.1999, B 3 P 12/98 R; BSG SozR 3-3300 § 14 Nr.11). Im vorliegenden Fall fehlt jedoch ein Anhaltspunkt dafür, dass beim Kläger die Maßnahmen zur Reinigung und Freihaltung der Atemwege nur in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Verrichtung im Sinne des § 14 Abs.4 SGB XI, etwa dem morgendlichen Aufstehen, zwingend durchgeführt werden mussten. Aus dem Gutachten der Pflegefachkraft des MDK vom 04.05.1995 nach der Untersuchung am 20.04.1995 ergibt sich, dass ein Hilfebedarf bei einer Verrichtung im Sinne des § 14 Abs.4 SGB X nur bei der Darm-/Blasenentleerung in Form der Kontrolle des Stuhlganges von täglich fünf Minuten bestand, weshalb die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Leistung nach Pflegestufe I gemäß § 15 Abs.1 Satz 1 Nr.1 i.V.m. Abs.3 Nr.1 nicht gegeben waren. Insbesondere bestand kein Hilfebedarf bei wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich. Die Überwachung der Inhalationen und die Hilfe bei den Atemübungen, deren zeitlicher Umfang mit 145 Minuten bewertet worden war, war jedenfalls von Anfang an keine pflegerische Leistung und wurde zu Unrecht als maßgebend für die Bewilligung von Pflegegeld nach Stufe I herangezogen.

In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bewilligungsbescheides vorgelegen haben, ist ebenfalls keine wesentliche Änderung eingetreten. Eine solche Änderung wäre nur dann wesentlich, wenn sie die nach §§ 14, 15 SGB X zu berücksichtigenden pflegerischen Hilfen beträfe und nunmehr insoweit eine Besserung in dem Sinne eingetreten wäre, dass kein Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten im Sinne des § 15 Abs.3 Nr.1 SGB XI mehr besteht. Davon kann aber hier nicht ausgegangen werden, weil ein solcher Grundpflegebedarf von Anfang an nicht gegeben war.

Es kann dahinstehen, ob eine Änderung insoweit eingetreten ist, als der Kläger nunmehr keiner Überwachung bei den Inhalationen und Hilfe bei den Atemübungen mehr bedarf. Denn eine Aufhebung nach § 48 SGB X ist nur im Falle einer nachträglichen Änderung in jenen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen zu berücksichtigen, auf denen die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht beruht (BSG, Urteil vom 11.04.2002, B 3 P 8/01 R). Dies ist hier aber der Fall. In einem solchen Fall bleibt nur die Möglichkeit der Rücknahmeentscheidung nach § 45 SGB X, nämlich der Rücknahme eines von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Ein solcher kann aber nach § 45 Abs.25.1 nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, da die Voraussetzungen des § 45 Abs.2 Satz 3 SGB X hier nicht vorliegen. Zudem kann ein auf § 48 SGB X gestützter Bescheid nicht in einen Rücknahmebescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden, da die Rücknahme nach § 45 SGB X die Ausübung von Ermessen voraussetzt und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (BSG a.a.O.).

Somit waren das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 07.02. 2002 abzuändern und der Bescheid der Beklagten vom 07.11.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.04.2001 aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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