L 2 U 106/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 29/00
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 106/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung wird zurückgewiesen. II. Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Feststellung und Entschädigung eines Ereignisses vom 29.06.1998 als Arbeitsunfall.

An diesem Tag rutschte der Kläger auf der Treppe eines Außengerüstes aus. Er hielt sich mit der rechten Hand über Kopf fest, in der linken Hand trug er eine Werkzeugtasche. Ausweislich der ärztlichen Unfallmeldung der Praktischen Ärztin Dipl.-Med. K1 ... vom 12.08.1998, die der Kläger nach 4 Tagen aufsuchte, verspürte der Kläger hierbei einen Stich im Rücken, der so stark war, dass ihm die Luft wegblieb. Gegen Abend hätten heftige Rückenschmerzen begonnen. Er habe zunächst weiter gearbeitet, nach vier Tagen seien dann die Beschwerden so stark geworden, dass er die Hausärztin aufgesucht habe. Die Ärztin fand eine erhebliche Bewegungseinschränkung im gesamten Lendenwirbelsäulenbereich mit ausgeprägter Radikulärsymptomatik und überwies den Kläger unter dem Verdacht eines Bandscheibenvorfalles zum Orthopäden.

Im Laufe der weiteren Behandlung befand sich der Kläger vom 10.09. bis 23.09.1998 unter der Diagnose eines radikulären vertebragenen lumbalen Schmerzsyndroms L 5/S 1 mit CT-gesichertem Bandscheibenvorfall L 5/S 1 medial und Bandscheibenvorwölbung L 4/L 5 links in stationärer Behandlung.

Ein Röntgenbefund vom 06.07.1998 wurde durch die Ärzte der Reha-Klinik R ... am 10.12.1998 dahin befundet, dass eine regelrechte Lordose ohne skoliotische Seitabweichungen vorliege, ferner eine Zwischenwirbelraumverschmälerung L 5/S 1, weniger auch L 4/L 5, eine subchondrale Sklerosierung der Grund- und Deckplatten ab L 3, eine diskrete Vorderkantenausziehung L 4/L 5 und röntgenologische Zeichen der Osteochondrose im lumbosakralen Bereich. Im Reha-Entlassungsbericht vom 17.11.1998 wird als Diagnose ein pseudoradikuläres lumbales vertebragenes Schmerzsyndrom aufgeführt. Am 10.12.1998 wurde ein Magnetresonanztomogramm (MRT) der Lendenwirbelsäule (LWS) gefertigt und dahin befundet, dass sich eine altersentsprechende Signalgebung der Wirbelkörper L 1 bis S 2 ohne Nachweis von Läsionen gezeigt habe. In den Bandscheibensegmenten L 4/L 5 und L 5/S 1 fänden sich degenerative Veränderungen. Ferner wurden ein größerer Bandscheibenprolaps L 5/S 1 und ein kleinerer Bandscheibenprolaps im Segment L 4/L 5 beschrieben.

Am 14.01.1999 wurden wegen einer klinischen Symptomatik, die sowohl die L 5- als auch die S 1-Wurzel betraf (Fußheber- und Fußsenkerschwäche), eine Nukleotomie und Sequestrotomie L 4/L 5 und L 5/S 1 durchgeführt. Der Kläger wurde mit einem positiven Lasègue links bei 70° entlassen. In einem pathologischen Befundbericht vom 18.01.1999 wird ausgeführt, dass das Bandscheibengewebe reichlich Anteile des Nucleus pulposus enthalten habe, mit wenigen Bereichen des Anulus fibrosus (hier kleinstherdige Vorschädigungen) bei subligamentären Bandscheibenvorfällen L 4/L 5 und L 5/S 1.

Der von der Beklagten beauftragte Gutachter Prof. Dr. E1 ... hat im Gutachten vom 07.05.1999 zunächst ausgeführt, dass der Kläger den Unfallhergang so geschildert habe, dass er bei der Beräumung der Baustellenetage 3. Stock zu 2. Stock auf der Verbindungstreppe des Außengerüstes zwischen den beiden Stockwerken ausgerutscht sei. Zur Abwendung des Sturzes habe er nur die rechte Hand frei gehabt, da er in der linken Hand Material getragen habe. Durch das instinktive Festhalten mit der rechten Hand habe er einen größeren Sturz abwenden können, jedoch einen starken Schmerz im Rücken verspürt. Die Röntgenaufnahmen vom 06.07.1998 befundete der Gutachter dahin, dass sich nur mäßige degenerative Veränderungen des Bewegungssegmentes L 4/L 5 und L 5/S 1 zeigten. Eine unfallbedingte Beschädigung sei nicht erkennbar, die Wirbelsäule weise keine Fehlhaltung auf. Bei dem Ereignis am 29.06.1998 sei es zweifellos zu einem Druck auf die Wirbelsäule gekommen, als der Kläger sich reflektorisch mit der rechten Hand über Kopf an einem festen Gegenstand festgehalten habe, um nicht zu stürzen. Dieses Manöver sei nicht ausreichend, um eine nicht sehr wesentlich vorgeschädigte Bandscheibe zu verletzen. Man könne sich allenfalls vorstellen, dass der Kläger eine Drehung, vielleicht auch eine Zugwirkung auf die Wirbelsäule erlitten habe, indem die Hand, mit der er sich festgehalten habe, den Oberkörper nach oben gezogen habe, während die Füße weggerutscht seien. Dass der Kläger zunächst weiter gearbeitet habe, bevor die Beschwerden so stark geworden seien, dass er den Hausarzt aufgesucht habe, spreche gegen das Vorliegen einer rein traumatischen Bandscheibenläsion, denn es werde übereinstimmend aus gutem Grunde gefordert, dass es bei einer solchen zu einem sofortigen vollständigen Schmerzsymptom komme, ohne langsame Schmerzzunahme, welche dafür spreche, dass es aus dem Rupturkanal nach und nach zu einem weiteren Herauspressen von Bandscheibengewebe komme. Dies lasse annehmen, dass der Rupturkanal vorgefertigt gewesen sei und es nur anläßlich des Unfallereignisses zu einem endgültigen Durchreißen gekommen sei. Beim Reißen einer gesunden Bandscheibe auf Grund einer sehr starken Gewalteinwirkung komme es typischerweise zum sofortigen Austreten des Bandscheibengewebes. Auch dass zwei Bewegungssegmente betroffen seien, spreche gegen einen im Wesentlichen traumatisch bedingten Bandscheibenvorfall. Es habe eine anlagebedingte Schwäche des Anulus fibrosus mit bereits vorbestehenden Rissbildungen vorgelegen, welche anläßlich des Gelegenheitsbagatelltraumas vom 29.06.1998 den endgültigen Vorfall hätten entstehen lassen.

Daraufhin wurde mit Bescheid vom 04.06.1999 das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Arbeitsunfalles am 29.06.1998 verneint. Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und gab im Widerspruchsverfahren insbesondere an, dass die Werkzeugkiste, die er in der linken Hand getragen habe, als es zu dem Unfall gekommen sei, ca. 20 kg gewogen habe. In der Werkzeugkiste habe sich Werkzeug und Arbeitsmaterial befunden, u.a. ein Pressgerät mit bedeutendem Wert.

Die Beklagte beauftragte daraufhin ihren Beratungsarzt Dr. S1 ... mit der Erstellung einer fachärztlichen Stellungnahme. Der Gutachter kam in der Stellungnahme vom 29.09.1999 zu dem Ergebnis, dass er sich der Beurteilung von Prof. Dr. E1 ... anschließe. Bei der Durchsicht der Röntgenbefunde falle auf, dass zum Entstehungszeitpunkt der Bandscheibenvorfälle degenerative Bandscheibenveränderungen in den Zwischenräumen gefunden worden seien, was bedeute, dass schon deutlich und länger vor dem geschuldeten Ereignis ein degenerativer Prozess in den beiden unteren Lendenwirbelbandscheibenräumen begonnen haben müsse. Inwieweit die ruckartige Belastung durch den Sturz zu einer zunehmenden Bandscheibensymptomatologie geführt habe, sei auf Grund der spärlichen objektiven Befunde nur schwer abgrenzbar. Er halte jedoch den geschilderten Unfallhergang nicht für geeignet, zu einem echten traumatischen Bandscheibenschaden zu führen. Zum einen sei die Krafteinwirkung dazu nicht geeignet gewesen, zum anderen liege auch kein typischer Unfallablauf vor, der zu einer primären Ruptur des fibrösen Ringes mit Austritt von Bandscheibengewebe hätte führen können.

Daraufhin wurde mit Bescheid vom 16.12.1999, zur Post am 21.12.1999 der Widerspruch zurückgewiesen. Am 19.01.2000 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Dresden (SG) erhoben.

Das SG hat im Rahmen seiner medizinischen Ermittlungen insbesondere Dr. P1 ... mit der Erstellung eines unfallchirurgischen Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 30.09.2000 hat der Gutachter zunächst ausgeführt, dass der Kläger angegeben habe, vor dem Unfall keinerlei Rückenbeschwerden gehabt zu haben. Die heftigen Schmerzen hätten von Anfang an bestanden, auch die Ausstrahlung besonders ins linke Bein. Die Taubheit vom Gesäß links bis in den Fuß habe sich allmählich entwickelt. Nach der Operation am 14.01.1999 sei es nach vorübergehender Besserung erneut zu einer Befundverschlechterung mit Lähmungserscheinungen im linken Bein gekommen. Deshalb sei der Kläger am 01.08.2000 erneut operiert worden (Versteifung der Segmente L 4 bis S 1).

Es unterliege keinem Zweifel, dass die in den mehrfach angefertigten MRT-Untersuchungen nachgewiesenen Bandscheibenvorfälle am 29.06.1998 bei dem Unfallereignis aufgetreten seien. Die Beschwerdefreiheit vor dem Unfall und die heftigen und typischen Symptome einschließlich des Auftretens neurologischer Ausfälle unmittelbar nach dem Unfall und deren Fortbestehen trotz konservativer Behandlungsmaßnahmen mit nachfolgender Operationsindikation spächen dafür, dass es bei dem Unfallereignis tatsächlich zu einem akuten Vorfall der beiden betroffenen Bandscheiben gekommen sei. Der Ansicht, dass es sich um einen Gelegenheitsbagatelltrauma gehandelt habe, könne er nicht folgen. Der Kläger sei bekanntlich auf einer Alu-Treppe, in der linken Hand eine schwere Werkzeugkiste tragend, abgerutscht, wobei er über zwei Stufen nach unten geglitten sei. Er habe sich instinktiv mit der rechten Hand über Kopf am Geländer festgehalten, wobei es sich nicht um eine willentliche, sondern um eine spontane Reaktion gehandelt habe. Somit sei es in dem Moment des Ereignisses zu einer überraschenden Zugbelastung der Wirbelsäule durch das Körpergewicht zuzüglich der Werkzeugkiste in der linken Hand gekommen. Diese Krafteinwirkung sei asymmetrisch wegen des einseitigen Festhaltens mit der rechten Hand erfolgt. Diese überraschende, seines Erachtens erhebliche Gewalteinwirkung könne zunächst nicht als alltäglich i.S. einer Gelegenheitsursache, etwa vergleichbar mit dem willkürlichen Anheben einer Last beim Verhebetrauma, gewertet werden. Es sei zu einer ruckartigen asymmetrischen Überdehnung von Strukturen an der Lendenwirbelsäule gekommen, die i.S. einer Hyperextention anzusehen seien, wobei eine eventuell zusätzliche Torsion nicht zu beweisen aber auch nicht auszuschließen sei. Wenn man die glaubhafte Erklärung des Klägers bezüglich seines betrieblichen Engagements anerkenne, sei es wenig überzeugend, nur aus der verzögerten Arbeitsniederlegung auf eine Bagatellverletzung schließen zu wollen. Die vor dem Unfall bestehende Beschwerdefreiheit stehe außer Zweifel. Eine Schadensanlage in Form einer vorbestehenden degenerativen Veränderung der Bandscheiben L 4/L 5 und L 5/S 1 liege vor. Es sei anzunehmen, dass diese Schadensanlage am Eintritt des Gesundheitsschadens mit beteiligt gewesen sei. Die röntgenologisch vorhandenen Befunde seien als verhältnismäßig gering zu bezeichnen, in einigen Befunden würden sie nicht einmal erwähnt. Bezüglich ihrer Relevanz sei jedoch festzustellen, dass die degenerativen Veränderungen regelmäßig weiter fortgeschritten seien, als es der Röntgenbefund vermuten lasse. Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des zu erwartenden Auftretens eines akuten Bandscheibenvorfalles in absehbarer Zeit unter einer alltäglichen Belastung sei kaum exakt zu beantworten. Gegen ein alsbaldiges derartiges Ereignis spreche der verhältnismäßig geringfügige Röntgenbefund. Für die wesentliche Bedeutung des Unfallereignisses spächen die Schwere und die Mechanik des Unfallereignisses, der klinische Erstbefund und auch der weitere Verlauf. Der intraoperativ erhobene Befund spreche für frische Bandscheibenvorfälle, da keine Vernarbungen o.ä. gefunden worden seien. Auch der histologische Befund habe im Faserring nur kleinstherdige Vorschädigungen nachgewiesen. Diese Befunde deuteten zumindest darauf hin, dass keine fortgeschrittenen degenerativen Veränderungen an den Bandscheiben vorgelegen hätten. Tatsächlich seien unfallbedingte Schädigungen von zwei benachbarten Bandscheiben sehr selten, sie seien aber auch nicht unmöglich. Insgesamt bestehe zwar die Möglichkeit, dass auch die beschriebenen verhältnismäßig geringen objektiv gesicherten degenerativen Bandscheibenveränderungen als Schadensanlage auch ohne den vorliegenden Unfall etwa zur gleichen Zeit zu den Bandscheibenvorfällen hätten führen können. Wahrscheinlich sei eine derartige Entwicklung aber nicht. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bestehe seit dem 01.07.1998 bis auf Weiteres. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit messbaren Grades bestehe über die 26. Woche hinaus, mit einer MdE von mindestens 20 v.H. auf Dauer sei zu rechnen.

In einer Stellungnahme vom 16.11.2000 zum Gutachten von Dr. P1 ... hat Prof. Dr. E1 ... nochmals bestätigt, dass seiner Ansicht nach das Unfallereignis als ungeeignet angesehen werden müsse, eine nicht wesentlich vorgeschädigte Bandscheibe zu verletzten. Zudem müsse der Ansicht von Dr. P1 ..., dass ein Dehnungsruck die Wirbelsäule belaste, nicht gefolgt werden.

Dr. P1 ... hat hierzu am 18.12.2000 insbesondere nochmals darauf hingewiesen, dass die im histologischen Befundbericht beschriebenen kleinstherdigen Vorschädigungen der Annahme von ganz erheblichen Vorschädigungen entgegenstünden. Der Kläger selbst hat ein Schreiben seines Arbeitgebers vom 12.03.2001 vorgelegt, in dem ausgeführt wird, dass der Kläger nach dem Sturz am 29.06.1998 nicht mehr vollständig einsetzbar gewesen sei, da er im Rückenbereich starke Schmerzen bei bestimmten Bewegungen gehabt habe.

Das SG hat mit Urteil vom 05.07.2001 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab dem 03.01.2000 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Bei dem Ereignis vom 29.06.1998 habe es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt. Von keinem der im Verfahren gehörten Sachverständigen sei bezweifelt worden, dass die heftigen Schmerzen, die der Kläger nach dem Abrutschen auf der Leiter verspürt habe, das Zeichen der sich im selben Augenblick ereignenden Bandscheibenvorfälle gewesen sei. Damit seien sowohl die Bandscheibenvorfälle im Zeitpunkt des Abrutschens als auch der ursächliche Zusammenhang der Bandscheibenvorfälle mit dem Abrutschen von der Leiter erwiesen. Des Weiteren habe die betriebsbezogene Tätigkeit den Unfall auch rechtlich wesentlich verursacht. Die versicherte Tätigkeit habe eine wesentliche Bedingung für den Unfall dargestellt, als weitere wesentliche Bedingung, komme ein Vorschaden in Betracht. Insoweit müsse jedoch beachtet werden, dass dann, wenn eine Körperschädigung durch ein ursächliches Zusammenwirken von Arbeitsunfall und Schadensanlage eintrete, dem Arbeitsunfall die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Bedingung nicht von vornherein pauschal mit der Begründung abgesprochen werden könne, die Schadensanlage habe sich bei Gelegenheit des Arbeitsunfalles manifestiert. Vielmehr sei darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark und so leicht ansprechbar sei, dass die Auslösung akuter Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher Einwirkungen bedürfe, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zur selben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Der Unfallhergang dürfe für die Frage, ob der Arbeitsunfall eine wesentliche Bedingung darstelle oder nicht, in die Abwägung mit einbezogen werden, wenn er generell nicht geeignet sei, den aufgetretenen Gesundheitsschaden zu verursachen. Der Unfallhergang könne, sofern er überhaupt im Einzelnen rekonstruierbar sei, als Indiz, aber nur als solches, für einen Vorschaden herangezogen werden, dürfe aber nicht dazu herangezogen werden, den Schluss zu ziehen, er sei medizinisch generell nicht geeignet, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken. Ein solcher Ausschluss ungewöhnlicher und unvorhergesehener Kausalitätsabläufe sei dem Sozialrecht fremd. Im zu entscheidenden Fall habe der Vollbeweis für das rechtserhebliche Ausmaß eines Vorschadens nicht geführt werden können. Auch der histologische Befund vom 18.01.1999 beweise keine erhebliche Vorschädigung. Auch sei es nicht erst vier Tage nach dem Unfallereignis zur Zunahme der Beschwerden gekommen. Diese Aussage von Prof. Dr. E1 ... widerspreche den Angaben des Klägers und sei durch nichts belegt. Insgesamt sei der behauptete Vorschaden nicht als die rechtlich allein wesentliche Ursache für die Bandscheibenvorfälle anzusehen. Der Unfall vom 29.06.1998 sei zumindest eine rechtlich wesentliche Teilursache gewesen.

Gegen das ihr am 23.07.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21.08.2001 Berufung eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Vorschaden von allen Ärzten bestätigt sei. Nur die Schwere des Vorschadens sei streitig bzw. nicht bewiesen. Zudem sei damit, dass der Kläger erst am 03.07.1998 die Arbeit eingestellt habe, bewiesen, dass zunächst allenfalls geringfügige Beschwerden bestanden hätten, da andernfalls nicht erklärlich sei, weshalb der Kläger noch 3 1/2 Tage habe arbeiten können.

Seitens des Gerichtes ist insbesondere eine weitere Stellungnahme von Dr. P1 ... vom 05.09.2003 eingeholt worden, in der der Gutachter als Folgen des Unfalles vom 28.06.1998 einen Zustand nach Spondylodese L 4/L 5 und L 5/S 1 mit Versteifung dieser beiden Segmente und insgesamt erheblich eingeschränkter Beweglichkeit der BWS/LWS beschreibt, ferner die Reste eines lumbalen Radikulärsyndroms L 5 links (leichte Fußheber-, erhebliche Großzehenstreckerschwäche), ein lokales, vertebragenes, lumbales, gering pseudoradikuläres Schmerzsyndrom und glaubhafte belastungsabhängige subjektive Beschwerden (Schmerzen, Belastungsinsuffizienz). Hinsichtlich der Schätzung der MdE sei zu berücksichtigen, dass außer einer erheblichen Funktionseinschränkung der Brust- und Lendenwirbelsäule zwei benachbarte Segmente versteift worden seien und ein radikulärer Restbefund vorliege. Er schlage vor, ab 01.07.2001 die unfallbedingte MdE mit 20 v.H. festzulegen. Für die Zeit vom 28.12.1999 bis 30.06.2001 lägen kaum aussagekräftige, objektive Befunde mit Messergebnissen vor. Somit sei nicht möglich, den Zeitpunkt eventuell aufgetretener Änderungen einigermaßen exakt zu bestimmen. Obwohl es naheliege, für den genannten Zeitraum eine höhere MdE, etwa 30 %, anzunehmen, sei eine objektive Einschätzung aus den genannten Gründen nicht möglich, so dass vorgeschlagen werde, die MdE ab der 28. Woche nach dem Unfall durchgehend mit 20 v.H. festzulegen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 05.07.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hat sich insbesondere auf sein Vorbringen erster Instanz und das Gutachten von Dr. P1 ... bezogen.

Die Beteiligten haben sich mit Schreiben vom 21.10.2002 und 08.11.2002 mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und das Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin entscheiden, da die hierfür gem. § 155 Abs. 4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Einverständniserklärungen vorliegen.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Kläger hat bei dem Unfallereignis vom 29.06.1998 einen Arbeitsunfall i.S. von § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) mit der Folge zweier Bandscheibenvorfälle erlitten.

Gem. § 8 Abs. 1 SGB VII ist für das Vorliegen eines Arbeitsunfalles erforderlich, dass der Unfall infolge einer versicherten Tätigkeit eingetreten ist. Gem. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod geführt haben.

Der Kläger hat in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit einen Unfall erlitten. Darüber hinaus ist auch der für die Anerkennung und Entschädigung des Unfalles als Arbeitsunfall erforderliche Kausalzusammenhang gegeben.

Grundvoraussetzung dafür, dass ein Gesundheitsschaden als unmittelbare Folge eines Arbeitsunfalles anerkannt werden kann, ist, dass das Unfallereignis nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der vorliegende Gesundheitsschaden entfiele (Kausalität in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinne; vgl. Erlenkemper, Sozialgerichtsbarkeit 1997, S. 356; Urteil des BSG vom 30.10.1991 = SozR 3200, § 548 Nr. 13). Dabei ist der Ursachenzusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Gesundheitsschaden nach ständiger Rechtsprechung bereits dann zu bejahen, wenn er hinreichend wahrscheinlich ist (BSGE 45, 285). Hinreichende Wahrscheinlichkeit ist zu bejahen, wenn bei vernüftiger Abwägung aller Umstände des Einzelfalles den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 32, 203, 209).

Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Unfallereignis nur dann infolge einer versicherten Tätigkeit eingetreten und somit als Arbeitsunfall zu entschädigen ist, wenn die beruflichen Umstände in rechtlich wesentlicher Weise bei der Entstehung des Körperschadens mitgewirkt haben. Die Wertung als rechtlich wesentliche Ursache erfordert nicht, dass der berufliche Faktor die alleinige oder überwiegende Bedingung ist. Haben mehrere Ursachen (in medizinisch-naturwissenschafticher Hinsicht) gemeinsam zum Entstehen des Gesundheitsschadens beigetragen, so sind sie nebeneinander (Mit-)Ursachen im Rechtssinne, wenn beide in ihrer Bedeutung und Tragweite beim Eintritt des Erfolges wesentlich mitgewirkt haben. Der Begriff "wesentlich" ist hierbei nicht identisch mit den Beschreibungen "überwiegend, gleichwertig oder annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern verhältnismäßig niedriger zu wertende Bedingung kann für den Erfolg wesentlich sein. Ein mitwirkender Faktor ist nur dann unwesentlich, wenn er von einer anderen Ursache ganz in den Hintergrund gedrängt wird. Daher ist es zulässig, eine rein naturwissenschaftlich betrachtet nicht gleichwertige Ursache rechtlich als wesentlich anzusehen, weil gerade und nur durch ihr Hinzutreten zu der anderen wesentlichen Ursache der Erfolg eintreten konnte. Letztere Ursache hat dann im Verhältnis zur ersteren keine überragende Bedeutung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Stand 8/2002, § 8 SGB VII, Rdnr. 8.2.3).

Zudem ist zu beachten, dass im Hinblick auf den Schutzzweck der gesetzlichen Unfallversicherung jeder Versicherte grundsätzlich in dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Aufnahme seiner Tätigkeit befindet, auch wenn dieser Zustand eine größere Gefährdung begründet. Insoweit eingebunden sind alle im Unfallzeitpunkt bestehenden Krankheiten, Anlagen, konstitutionell oder degenerativ bedingten Schwächen und Krankheitsdispositionen (vgl. zu alledem Schönberger/Mehrtens/Vallentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S. 233 ff.).

Dementsprechend darf, wie bereits das SG ausgeführt hat und nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 02.02.1999, Az. B 2 U 6/98 R), eine Schadensanlage als rechtlich allein wesentliche Bedingung nur dann gewertet werden, wenn sie so stark ausgeprägt und so leicht ansprechbar war, dass es zur Auslösung des akuten Krankheitsbildes an sich keiner besonderen, in ihrer Art unersetzlichen äußeren Einwirkung aus der versicherten Tätigkeit bedurft hat, sondern wenn der Gesundheitsschaden wahrscheinlich auch ohne diese Einwirkungen durch beliebig austauschbare Einwirkungen des unversicherten Alltagslebens zu annähernd gleicher Zeit und annähernd gleicher Schwere entstanden wäre (s. zusammenfassend Erlenkämper, Arbeitsunfall, Schadensanlage und Gelegenheitsursache, in: SGb 1997, S. 355, 358 m.w.N.).

Bezogen auf den vorliegenden Fall ergibt sich hiernach Folgendes:

Zunächst ist wegen des engen zeitlichen Zusammenhanges in Übereinstimmung mit allen befragten Gutachtern davon auszugehen, dass der streitgegenständliche Arbeitsunfall ursächlich (in mathematisch-naturwissenschaftlichem Sinne) für die Entstehung des Krankheitsbildes war. Die Gesundheitsstörungen - in Form der Bandscheibenvorfälle im Bereich L 4/L 5 und L 5/S 1 - sind zeitnah zu dem Unfallereignis vom 29.06.1998 eingetreten. Daraus, dass der Kläger erst 4 Tage nach dem Unfallereignis ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hat, kann insbesondere angesichts der Bestätigung des Arbeitgebers, wonach der Kläger nach dem Sturz am 29.06.1998 wegen heftiger Schmerzen im Rückenbereich beruflich nur eingeschränkt einsetzbar war, nicht geschlossen werden, dass heftige Schmerzen erst nach mehreren Tagen eingetreten seien. Zudem sind Schmerzen oder Beschwerden im Lendenwirbelsäulenbereich für die Zeit vor dem Unfallereignis nicht dokumentiert und waren nach Auskunft des Klägers auch nicht gegeben, so dass auch keine Hinweise auf einen Beschwerdebeginns vor dem Unfallereignis vorhanden sind.

Des Weiteren kann - ebenfalls in Übereinstimmung mit allen befragten Gutachtern - davon ausgegangen werden, dass ursächlich für den eingetretenen Gesundheitsschaden auch die im Bereich der Lendenwirbelsäule vorhandenen degenerativen Veränderungen waren. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass es sich bei dem Ablauf des Unfallereignisses nicht um einen Unfall gehandelt hat, der typischerweise zu einer Verletzung der Bandscheibe führt. Einen weiteren Hinweis auf zur Zeit des Unfallereignisses vorhandene (leichtere) degenerative gibt der pathologische Befundbericht vom 18.01.1999, wonach "kleinstherdige Vorschädigungen" im Anulus fibrosus vorhanden waren.

Entgegen der Ansicht der Beklagten kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Vorschaden rechtlich allein wesentlich für die Entstehung der Bandscheibenvorfälle gewesen wäre. Angesichts der röntgenologisch nur wenig ausgeprägten degenerativen Veränderungen und dem Befund des Histologen im Befundbericht vom 18.01.1999 ist nach Ansicht des erkennenden Gerichtes im Sinne des Vollbeweises bewiesen, dass im Bereich L 5 bis S 1 keine ausgeprägten Vorschädigungen vorlagen. Da somit bei dem zum Unfallzeitpunkt knapp 37-jährigen Kläger im Lendenwirbelsäulenbereich nur geringe degenerative Veränderungen vorlagen und zudem vor dem Unfallereignis Beschwerdefreiheit bestand, hat das Gericht auch unter Berücksichtigung dessen, dass das Unfallereignis wohl nicht geeignet gewesen wäre, eine völlig gesunde Bandscheibe zu zerreißen, keine Bedenken, der Einschätzung von Dr. P1 ... dahin, dass mit einem ähnlichen Befund (Bandscheibenvorfälle im unteren Lendenwirbelsäulenbereich) in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war, zu folgen.

Auch hinsichtlich der Höhe der MdE - die weder vom Kläger von der Beklagten angegriffen wurde - hat das Gericht keine Bedenken, der Einschätzung von Dr. P1 ... mit einer MdE von 20 v. H. jedenfalls seit Januar 2000 zu folgen. Beim Kläger besteht infolge der bei dem Arbeitsunfall eingetretenen Bandscheibenvorfälle nunmehr ein Zustand nach Versteifung der beiden unteren Segmente der Lendenwirbelsäule mit insgesamt erheblich eingeschränkter Beweglichkeit und ausgeprägteren radikulären Störungen vor der Operation im August 2000 bzw. leichteren radikulären Störungen nach der Operation bei nach wie vor bestehenden Beschwerden. Diese Gesundheitsstörungen rechtfertigen auch nach Ansicht des Berufungsgerichts die Schätzung einer MdE von 20 v. H.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG). -
Rechtskraft
Aus
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