L 16 B 2/04 KR ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 5 KR 232/03 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 B 2/04 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den ihm einstweiligen Rechtsschutz versagenden Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 29.12.2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Antragsteller (Ast.) beantragte bei der Antragsgegnerin (Ag.) am 11.12.2003 die weitere Befreiung von Zuzahlungen. Er verwies zur Begründung auf den Bezug von Sozialhilfe bei Vorliegen lebensgefährlicher Erkrankungen.

Zuvor hatte die Antragsgegnerin regelmäßig einen jeweils bis zum 30.06. des Folgejahres reichender Befreiungsbescheid erteilt.

Mit Bescheid vom 12.12.2003 lehnte die Ag. den Antrag ab, da ab dem 1.1.2004 eine vollständige Befreiung von Zuzahlung nicht mehr möglich sei. Mangels Vorliegen der dazu erforderlichen Richtlinien könne auch noch nicht festgestellt werden, ob bei dem Ast. die verminderte Belastungsgrenze von einem Prozent der (Familien-) Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt anwendbar sei, die für "chronisch Kranke, die sich wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung befinden" gelte. Es könne daher eine Befreiung von Zuzahlungen für den Rest des Jahres erst erfolgen, wenn der Ag. die zweiprozentige Belastungsgrenze erreicht habe. Sofern später festgestellt werde, dass die medizinischen Voraussetzungen für die verminderte Belastungsgrenze vorliegen, würden zuviel bezahlte Zuzahlungen erstattet.

Der Ast., der unter diversen, dauerhaft behandlungsbedürftigen Erkrankungen leidet, begehrt auch im Beschwerdeverfahren offenbar im Wege der einstweiligen Anordnung eine vollständige Befreiung von Zuzahlungen mit Wirkung vom 01.01.2004. Er sieht einen Verstoß gegen § 23 Bundessozialhilfegesetz, wenn er von dem ihm gewährten Sozialhilfe-Regelsatz Zuzahlungen für Medikamente, häusliche Krankenpflege sowie Fahrtkosten etc. bestreiten solle.

Seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung noch vor Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetz vom 14.11.2003 (GMG) hat das SG mit Beschluss vom 29.12.2003 abgelehnt, da der Ast. derzeit von Zuzahlungen befreit sei. Es sei nicht erkennbar, ob der Ast. von der Ag. habe klären lassen, ob bei ihm eine chronische Erkrankung vorliege. Außerdem sei nicht geklärt, in welchem Umfang der Ast. Zuzahlungen leisten müsse (ein oder zwei Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen). Ein Anordnungsanspruch liege nicht vor, da der Sachleistungsanspruch nicht eingeschränkt werde. Eine abstrakte Normenkontrolle könne nicht Gegenstand eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens sein.

Gegen den ihm am 31.12.2003 zugestellten Beschluss vom 29.12.2003 hat der Ast. am 05.01.2004 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat (Entscheidung vom 05.01.2004). Aufgabe des Staates sei, lebensgefährlich Erkrankte vor dem Tod zu schützen. Diabetiker wie er müssten bereits spezielle Nahrung aus dem Regelsatz bestreiten.

a) Voraussetzung für den Antrag nach § 86 b Abs. 2 SGG ist u.a. das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses (Düring in Jansen, Berliner Kommentare, SGG, 1. Auflage, 2003, § 86 b Rdnr. 9), denn jedes Rechtsschutzgesuch ist nur dann zulässig, wenn der Kläger/Ast. a) behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein und b) nach seinem Vortrag die Beeinträchtigung einer ihm zustehenden Rechtsposition und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts zumindest möglicherweise in Betracht kommt. Popularklagen sollen ausgeschlossen werden. Ausgehend hiervon wäre ein Rechtsschutzbedürfnis des Ast. zu bejahen. Er ist durch den Bescheid vom 12.12.2003, mit dem offensichtlich eine weitere (vollständige) Befreiung von Zuzahlungen abgelehnt wird, beschwert. Die Möglichkeit einer Rechtsverletzung besteht damit.

Ob der Antrag des Beschwerdeführers als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verstehen ist, mag dahinstehen. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86 b Abs. 2 SGG wäre jedoch unzulässig, da ein Fall des § 86 b Abs. 1 SGG vorliegt (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG).

Der Bescheid vom 12.12.2003 ist seinem Regelungsgehalt dahingehend auszulegen, dass die Ag. den bisher erteilten Befreiungsbescheid aufheben wollte. Dies, obgleich sie, wie vielfach in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden und vermittelt worden ist (vgl. Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Caspers-Merk vom 14.10.2003 auf eine schriftliche Anfrage BT Drs 15/1772), grundsätzlich offenbar davon ausgeht, dass Befreiungsbescheide aus dem Jahr 2003 mit dem Inkrafttreten der Neuregelung ihre Gültigkeit verlieren. Ob dem auch bei Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung so ist, kann dahinstehen (nach der Rechtsprechung des BSG gibt es einen Selbstvollzug des Gesetzes im Sozialverwaltungsrecht grundsätzlich nicht [näher dazu BSG SozR 3-5405 Art 59 Nr. 1].

Der Antrag ist unter diesen Gesichtspunkten dahingehend auszulegen, dass der Ast. gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 12.12.2003 begehrt. Denn der den Befreiungsbescheid aufhebende Bescheid ist als Verwaltungsakt zu qualifizieren, der eine laufende Leistung herabsetzt oder entzieht (§ 86 a Abs. 2 Nr. 3 SGG; vgl. BSG, SozR 3-2500 § 61 SGB V). Die gesetzlich in § 86 a Abs. 1 SGG grundsätzlich angeordnete aufschiebende Wirkung von (Anfechtungs-)Widerspruch und Anfechtungsklage entfällt in diesem Fall. Ein Antrag gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG setzt aber einen Widerspruch voraus. Es bestehen insoweit bereits erhebliche Zweifel, ob der an das SG gerichtete Antrag auf Durchführung eines Eilverfahrens zugleich als Widerspruch auszulegen sein könnte. Der Senat lässt auch offen, ob der Antrag gemäß § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht einen erfolglosen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung durch die den Verwaltungsakt erlassende Stelle voraussetzt (§ 86 a Abs. 3 Satz 1 SGG).

b) Der Antrag des Ast. ist nämlich unbegründet. Das Interesse des Ast. an der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs überwiegt nicht das öffentliche Vollzugsinteresse. Im Rahmen seiner nach Ermessen und aufgrund einer Interessenabwägung zu treffenden Entscheidung (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 86 b Rdnr. 12) sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels zu berücksichtigen. Je geringer die Erfolgsaussichten, umso höher sind die Anforderungen an das Interesse an der aufschiebenden Wirkung.

Nach den ab 01.01.2004 geltenden Vorschriften ist eine grundsätzliche Befreiung von Zuzahlungen nicht mehr vorgesehen. Eine andere Auslegung ist angesichts des Wortlauts der Regelungen der §§ 61, 62 SGB V nicht möglich.

Diese Normen sind bei der gebotenen summarischen Prüfung auch nicht rechtswidrig bzw. verfassungswidrig. Ein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG ist bei summarischer Prüfung nicht ersichtlich. Dem Gesetzgeber ist grundsätzlich ein weites Ermessen zur Gestaltung der Sozialsysteme eingeräumt. § 62 Abs. 1 SGB V sieht eine geringere Belastung für chronisch Kranke vor. § 62 Abs. 2 SGB V berücksichtigt u.a. die wirtschaftlichen Verhältnisse von Beziehern von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG. Ein etwaige Versäumung der Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X ist wegen der Nachholbarkeit bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz (§§ 41 Abs. 1 Nr. 3, 41 Abs. 2 SGB X) hier unbeachtlich.

Hinsichtlich des Interesses des Ast. an der aufschiebenden Wirkung verkennt der Senat nicht, dass mit den Regelungen des Gesetzes spürbare wirtschaftliche Einschnitte verbunden sein können. Der Zugang zu medizinisch notwendigen Behandlungsmaßnahmen wird hingegen nicht verwehrt. Auch ist nicht ersichtlich, dass dem Ast. eine Leistung der Zuzahlung keinesfalls möglich ist. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob dem Mehrbedarf für medizinische Behandlungen nicht möglicherweise durch den Sozialhilfeträger Rechnung zu tragen ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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