L 5 U 66/03

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Kiel (SHS)
Aktenzeichen
S 2 U 162/99
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 U 66/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 26. Februar 2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist im Berufungsverfahren, ob der Klägerin wegen der Folgen ihres Wegeunfalls über den 31. Dezember 1992 hinaus Verletztenrente zusteht.

Die am 1950 geborene Klägerin war Verwaltungsangestellte der Universitätsklinik in K. Am 4. März 1992 erlitt sie auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall, als ein Fahrzeug von hinten auf ihren stehenden Pkw auffuhr. Der Internist Dr. S beschrieb in seinem Bericht vom Unfalltage ein Halswirbelsäulen(HWS)-Schleudertrauma, eine Thoraxprellung sowie ein Schock-Syndrom. Der Chirurg Dr. L diagnostizierte ein HWS-Schleudertrauma Grad II sowie eine Schädelprellung mit vegetativer Begleitsymptomatik (Durchgangsarztbericht vom 5. März 1992). In seinem Bericht vom 27. Oktober 1992 führte Dr. L ergänzend aus, dass die Behandlung zu Lasten der Beklagten mit dem 30. Juni 1992 abgeschlossen gewesen sei. Ein HWS-Schleudertrauma heile nach allgemeiner ärztlicher Erfahrung binnen 12 Wochen folgenlos aus. Ein Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Maße sei nicht verblieben.

Seit dem 29. Mai 1992 befand die Klägerin sich in ambulanter Behandlung der Klinik für Neurologie der Universität K. Sie klagte über Kopf- und Nackenschmerzen sowie Schwindel. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G (Klinik für Neurologie) berichtete am 14. August 1992 von einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit der pericranialen Muskulatur bei ansonsten regelrechtem neurologischen Befund in allen Einzelheiten.

Dr. S beschrieb in seinem Bericht an die HUK-Coburg Allgemeine vom 5. Oktober 1992 eine plötzlich auftretende Gangunsicherheit mit Koordinationsstörungen sowie Fallneigung, die schon zu erheblichen Verletzungen geführt habe.

1994 und 1996 erfolgten wegen fortbestehender Beschwerden der Klägerin weitere neurologische Untersuchungen. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T beschrieb in seinem Bericht vom 15. November 1996 eine Gefügestörung LWK 4/5 und nahm einen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen an.

Zuvor hatte der Arzt für Orthopädie Dr. H in seinem Gutachten vom 8. Februar 1996 als Unfallfolgen u.a. ein Cervicalsyndrom, ein neurologisches Defizit mit unklarer Gangunsicherheit und Schwindel sowie ein reaktives psychophysisches Syndrom erwähnt.

Bei einer stationären Untersuchung der Klägerin in der Neurologischen Klinik der Universität K wurde bei der Klägerin eine Enzephalomyelitis disseminata (multiple Sklerose [MS]) diagnostiziert (Bericht vom 3. März 1997). Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ga führte hierzu in seinem von der Beklagten veranlassten Gutachten vom 28. April 1997 aus, dass es sich bei der MS nicht um eine Unfallfolge, sondern um eine offensichtlich primär chronisch verlaufende entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems handele. Auch sonst lägen bei der Klägerin auf neurologischem wie auch auf psychiatrischem Fachgebiet keine rentenberechtigenden Unfallfolgen vor. Der Arzt für Orthopädie Dr. B führte in seinem ergänzenden Gutachten vom 3. Juni 1997 aus, dass auch auf orthopädischem Fachgebiet keine fortbestehenden Unfallfolgen zu benennen seien.

Die Klägerin legte ergänzende medizinische Unterlagen aus den bei dem Sozialgericht Kiel geführten Verfahren S 3 An 96/97 und S 7 P 78/97 vor, insbesondere das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 7. November 1997 mit Ergänzung vom 17. Dezember 1997 und das Gutachten des Arztes für Rechtsmedizin und öffentliches Gesundheitswesen (Sozialmedizin) Dr. Dr. P vom 31. Juli 1998. Ausführungen zur Ursächlichkeit des Unfalls für die MS fanden sich in diesen Gutachten nicht.

Mit Bescheid vom 25. Mai 1999 lehnte die Beklagte die Anerkennung der MS sowie einer Lenden- und Halswirbelsäulenerkrankung als Folge des Arbeits-/Wegeunfalls vom 4. März 1992 und die Gewährung von Leistungen über den 30. Juni 1992 hinaus, insbesondere auch die Gewährung von Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, ab. Zur Begründung führte sie unter Hinweis auf die Gutachten des Dr. Ga und des Dr. B aus, dass der Unfall nicht zumindest im Sinne einer wesentlich mitwirkenden Ursache mit Wahrscheinlichkeit den Körperschaden herbeigeführt habe. Das HWS-Schleudertrauma II. Grades sei am 30. Juni 1992 folgenlos ausgeheilt gewesen; die MS sei unabhängig von dem Unfall als eigenständiges Krankheitsgeschehen anzusehen.

Ihren Widerspruch hiergegen begründete die Klägerin damit, dass sie vor dem Unfall als "kerngesunde Frau" im Berufsleben gestanden habe. Nach dem Unfall habe sich ihr Gesundheitszustand dergestalt verändert, dass sie zwischenzeitlich Rente beziehe. Die Auffassung der Beklagten, dass die MS nicht durch den Unfall verursacht worden sei, sei falsch. Es sei in der Fachliteratur unbestritten, dass eine MS durch einen Unfall, wie sie ihn erlitten habe, ausgelöst werden könne. Dies habe ihr auch Prof. D von der Universität K bestätigt. Ergänzend reichte die Klägerin eine Bescheinigung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. T vom 13. Juli 1999 zur Akte, in der es sinngemäß heißt, dass sich bei der Klägerin vor dem Unfall keine Zeichen einer neurologischen Erkrankung gezeigt hätten. Nach dem Unfall sei es zu neurologischen Ausfallerscheinungen - insbesondere zu einer zunehmenden Gangunsicherheit - gekommen, die Anlass zu der stationären Untersuchung vom Februar 1997 gegeben hätten, bei der die MS festgestellt worden sei. Weiterhin legte die Klägerin den Arztbrief des Prof. Dr. D (Klinikum der Christian-Albrechts-Universität K , Klinik für Neurologie [Schmerzambulanz]) vom 3. März 1997 mit der Diagnose der MS vor. Angaben zur Ursächlichkeit fanden sich darin nicht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 1999 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Dabei wiederholte und vertiefte sie den Inhalt des Bescheides vom 25. Mai 1999 und führte aus, dass Prof. Dr. D entgegen der Auffassung der Klägerin keine Angaben zur Ursächlichkeit des Unfalls für die MS gemacht habe.

Die Klägerin hat am 22. November 1999 bei dem Sozialgericht Kiel Klage erhoben, zu deren Begründung sie ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ausführlich weitervertieft hat.

Die Klägerin hat beantragt,

den Bescheid vom 25. Mai 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1999 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 4. März 1992 unter Anerkennung der multiplen Sklerose als Unfallfolge eine Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Sozialgericht hat u. a. Röntgenbilder der Klägerin beigezogen. Am 23. Februar 2001 hat es den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. H als medizinischen Sachverständigen gehört. Dieser ist zu dem Ergebnis gekommen, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Gesundheitsstörungen bei der Klägerin vorlägen oder vorgelegen hätten, die mit Wahrscheinlichkeit durch das angegebene Unfallereignis wesentlich verursacht oder verschlimmert worden seien. Sodann hat das Sozialgericht die Stellungnahme des Prof. Dr. D und des Dr. La vom 5. April 2001 eingeholt, in der es heißt, dass es sich bei der MS um ein immunologisch vermitteltes Krankheitsbild handele, dessen Entstehung nicht in einem Zusammenhang mit einer möglichen mechanischen Verletzung des zentralen Nervensystems im Rahmen eines Unfallgeschehens zu bringen sei. Allenfalls könne evtl. für den Zeitpunkt der akuten Krankheitsmanifestation eine ganz unspezifische Triggerung des Entzündungsprozesses durch das mit dem Unfallablauf verbundene seelische Schockerlebnis diskutiert werden.

Weiterhin hat das Sozialgericht den Arzt für Chirurgie Dr. Sa das Gutachten vom 3. April 2001 mit Ergänzung vom 21. Juni 2001 erstellen lassen. Darin heißt es zusammenfassend, der Unfall habe eine leichtgradige HWS-Beschleunigungsverletzung zur Folge gehabt, die zwischenzeitlich folgenlos ausgeheilt sei. Bis zum 4. September 1992 habe unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit bestanden. Bis zum 5. Dezember 1992 sei die Erwerbsfähigkeit der Klägerin unfallbedingt um 20 v. H. und anschließend bis 3. März 1993 um 10 v. H. gemindert gewesen.

Daraufhin hat das Sozialgericht eine ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. H vom 15. April 2002 zu den nach Erstellung seines Gutachtens zur Akte gelangten Befunden eingeholt. Darin heißt es, dass sich an der gutachterlichen Einschätzung nichts ändere. Soweit in dem Bericht der Schmerzambulanz vom 5. April 2001 ausgeführt worden sei, es könne allenfalls für den Zeitpunkt der akuten Krankheitsmanifestation eine ganz unspezifische Triggerung des Entzündungsprozesses durch das mit dem Unfallablauf verbundene seelische Schockerlebnis diskutiert werden, so handele es sich lediglich um eine Vermutung, die nicht den Tatbestand einer wesentlichen Mitursache erfülle.

Abschließend hat das Sozialgericht den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K das Gutachten vom 11. November 2002 erstatten lassen, das in der mündlichen Verhandlung am 12. Februar 2003 ergänzend erläutert worden ist. Dr. K gelangt zusammenfassend zu der Einschätzung, dass der Unfall am 4. März 1992 nur zu zeitlich begrenzten lokalen Schmerzerscheinungen und Funktionseinschränkungen geführt habe, während das später sich entwickelnde und nunmehr sekundär progrediente Krankheitsgeschehen einer unfallunabhängigen neurologischen Erkrankung, nämlich einer MS, zuzuordnen sei. Unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit habe nur bis zum 4. März 1993 bestanden. Die unfallbedingte MdE werde bis Ende Dezember 1992 auf 20 v. H. und bis 4. März 1993 auf 10 v. H. eingeschätzt.

Nach weiterer mündlicher Verhandlung am 26. Februar 2003 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide mit Urteil vom selben Tage geändert und die Beklagte unter Klagabweisung im Übrigen verurteilt, der Klägerin für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 4. März 1992 eine Verletztenrente vom 5. September bis 31. Dezember 1992 nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren.

Zur Begründung des im Berufungsverfahren allein streitigen klagabweisenden Teils seiner Entscheidung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt: Die von der Klägerin geltend gemachten Gangstörungen und Schwindelerscheinungen sowie die letztlich im Dezember 1996 diagnostizierte MS seien zur Überzeugung der Kammer nicht unfallbedingt. Die Kammer folge dabei insbesondere der einvernehmlichen Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. H und Dr. K , die sie für überzeugend halte. Die Sachverständigen, deren Ausführungen mit der Einschätzung des Vorgutachters Dr. Ga übereinstimmten, hätten sich überzeugend auf die herrschende Lehrmeinung in der einschlägigen Gutachtenliteratur bezogen, wonach die unfallbedingte Auslösung einer MS überwiegend verneint werde. Dies gelte insbesondere, wenn - wie hier - eine Traumatisierung des Rückenmarks nicht eingetreten sei. Die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen der Koordinations- und Gangstörungen seien der sich entwickelnden und sekundär progredienten Krankheitsgeschehen einer unfall-unabhängigen neurologischen Erkrankung - der MS - zuzuordnen.

Gegen das ihr am 17. April 2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 14. Mai 2003 bei dem Sozialgericht Kiel eingegangene Berufung der Klägerin. Zur Begründung macht sie geltend, dass ihre Erwerbsfähigkeit über den 31. Dezember 1992 hinaus um mindestens 20 v. H. gemindert sei. Die Gangstörung und weitere Schwindelerscheinungen sowie Gesundheitsstörungen (insbesondere die MS), unter denen sie seither leide, seien ausschließlich im Zusammenhang mit dem erlittenen Unfallereignis zu erklären und demgemäß als Unfallfolge anzuerkennen. Bereits 1994 und 1996 hätten Drehschwindelattacken und Nackenkopfschmerz vorgelegen; auch Schwindel- und Gangstörungen im Mai 1992 seien ausschließlich unfallbedingt gewesen. Zwar habe der Sachverständige Dr. K ausgeführt, dass nach herrschender Lehrmeinung eine unfallbedingte Auslösung der MS überwiegend verneint werde. Dies gelte insbesondere dann, wenn eine Traumatisierung des Rückenmarks nicht eingetreten sei. Andererseits habe Dr. K jedoch nicht überzeugend verstanden, die Schwindelerscheinungen und Gangstörungen der Klägerin zu erklären. Insbesondere könne das Gutachten des Dr. K auch unter Berücksichtigung schon 1992 festgestellter Gangunsicherheiten nicht überzeugen. Soweit Dr. K insoweit angenommen habe, dass noch keine neurologische Störung objektiviert gewesen sei, gehe diese Einschätzung fehl. Da das Urteil des Sozialgerichts sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr. K stütze, könne es keinen Bestand haben. Zumindest müsse die Klägerin als sog. "Kann-Fall" betrachtet werden.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 26. Februar 2003 zu ändern, den Bescheid vom 25. Mai 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Oktober 1999 aufzuheben und
2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung der Multiplen Sklerose als Folge des Arbeitsunfalls über den 31. Dezember 1992 hinaus Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie stützt das angefochtene Urteil.

Der Senat hat die die Klägerin betreffenden Akten des Landesamtes für soziale Dienste Schleswig-Holstein beigezogen. Daraus ergibt sich, dass die Klägerin mit Bescheid vom 1. August 2001 als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 unter Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und "aG" anerkannt ist. Damit sind die Funktionsbeeinträchtigungen

organisches Nervenleiden
seelische bzw. psychische Störungen
Störungen nach Brusttumor
Wirbelsäulen-Funktionsminderung

berücksichtigt worden.

In der Berufungsverhandlung hat der Senat den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ta als medizinischen Sachverständigen gehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Anlage zur Verhandlungsniederschrift Bezug genommen.

Die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten und die Gerichtsakten haben dem Senat vorgelegen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten wird hierauf Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Sozialgericht hat zu Recht und aus im Wesentlichen zutreffenden Gründen entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Anerkennung der MS als Folge des Arbeitsunfalls vom 4. März 1992 hat und dass deswegen kein Anspruch auf Verletztenrente über den 31. Dezember 1992 hinaus besteht. Allerdings richtet sich der geltend gemachte Rentenanspruch nicht - wie vom Sozialgericht angenommen - nach § 56 des Siebenten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII), sondern nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO). Denn der geltend gemachte Versicherungsfall ist am 4. März 1992 und damit vor In-Kraft-Treten des SGB VII eingetreten (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII). Inhaltlich ergeben sich aus den Bestimmungen der RVO hier jedoch keine Änderungen gegenüber den vom Sozialgericht herangezogenen Bestimmungen des SGB VII.

Verletztenrente wird gemäß § 580 Abs. 1, § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO gewährt, wenn die zu entschädigende MdE über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert und die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.

Zwar hat die Klägerin am 4. März 1992 einen Arbeitsunfall im Sinne von § 548 Abs. 1 S. 1 RVO erlitten; die MS ist indessen nicht als Unfallfolge zu entschädigen. Denn diese Erkrankung ist zur Überzeugung des Senats nicht zumindest mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen. Dies haben sämtliche im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Gutachter auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet übereinstimmend bestätigt.

Der Senat schließt sich dieser Einschätzung an.

Bereits im Verwaltungsverfahren hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. Ga die MS als offensichtlich primär chronisch verlaufende entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems beschrieben und ausgeführt, dass eine Unfallfolge nicht vorliege.

Prof. Dr. H hat sich in seinem Gutachten vom 23. Februar 2001 dieser Auffassung angeschlossen und ausgeführt, dass ein prinzipiell möglicher Zusammenhang einer MS und eines Traumas nach allgemeiner Lehrmeinung nicht bestehe. Erwogen würden allenfalls schwere körperliche Belastungen, wie sie zum Bespiel beim Wehrdienst bzw. in Kriegszeiten auftreten könnten, aber auch dann nur im Sinne einer Verschlimmerung einer schon bestehenden MS. Dass diese aber schon 1992 bestanden haben solle, sei reine Spekulation.

An dieser Einschätzung hat Prof. Dr. H auch in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. April 2002, die im Hinblick auf die nach Erstellung des Gutachtens vom 23. Februar 2001 zur Gerichtsakte gelangten weiteren Befunde abgegeben wurde, festgehalten.

Auch der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K hat in seinem Gutachten vom 11. November 2002 einen Zusammenhang mit dem Unfall ausgeschlossen und ausgeführt, in der einschlägigen Gutachtenliteratur werde die Frage, ob eine MS durch einen Unfall ausgelöst werden könne, überwiegend verneint. Dies gelte umso mehr, wenn das in Frage stehende Trauma - wie im Fall der Klägerin - erkennbar nicht zu einer Traumatisierung des Rückenmarks geführt habe. Der später nachgewiesene Krankheitsprozess im Rahmen der MS betreffe insbesondere auch die Strukturen am Gehirn und am Kleinhirn, also anatomische Strukturen, die weit entfernt von der durch das Distorsionstrauma gegebenen Entwicklung lokalisiert seien. Die im Rahmen der medizinischen Befundberichte über die Klägerin dargestellte Vorstellung, dass ein Trauma über eine Art "Triggermechanismus" eine veränderte Resistenzlage oder eine Schwächung des Immunsystems herbeiführen könne, wodurch dann das bestehende neurologische Krankheitsbild zurückzuführen sei, sei rein hypothetischer Natur. Sowohl auf Grund der Analyse des hier vorliegenden Traumas als auch auf Grund der Kenntnisse über die Pathogenese der MS müsse hier zusammenfassend festgestellt werden, dass der Unfall vom 4. März 1992 nur zu zeitlich begrenzten lokalen Schmerzerscheinungen und Funktionseinschränkungen geführt habe, während das später sich entwickelnde und nunmehr sekundär progrediente Krankheitsgeschehen einer unfallunabhängigen neurologischen Erkrankung, nämlich einer MS, zuzuordnen sei.

An dieser Einschätzung hat Dr. K bei der Erläuterung seines Gutachtens am 12. Februar 2003 auch unter Berücksichtigung des Befundes des Internisten Dr. S vom 5. Oktober 1992 festgehalten. Dr. K hat hierzu ausgeführt, dass er die von der Klägerin angegebenen Gangunsicherheiten mit Koordinierungsstörungen und Fallneigung zu diesem Zeitpunkt nicht als neurologische Störung für objektiviert halte. Maßgeblich für ihn sei die Untersuchung in der neurologischen Klinik vom 14. August 1992, wo sich ein neurologisch unauffälliger Befund gezeigt habe.

Der vom Senat in der Berufungsverhandlung ergänzend gehörte Sachverständige Dr. Ta hat die Einschätzungen der Vorgutachter bestätigt und erneut darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Krankheitsbild der MS um eine immunologisch vermittelte Störung handele. Nach der gültigen Lehrmeinung könne ein Zusammenhang mit einer physikalischen Traumatisierung nicht hergestellt werden. Ergänzend hat Dr. Ta ausgeführt, er könne gutachterlich letztlich nicht ausschließen, dass bei der Klägerin bereits 1992 eine MS vorgelegen haben könnte. Entsprechende Befunde eines definierbaren Krankheitsbeginns zum damaligen Zeitpunkt hätten jedoch nicht mit genügender Sicherheit vorgelegen. Hierzu verweise er besonders auf die Befunde der Universitäts-Nervenklinik vom 14. August 1992, wo von einer "vollständigen Remission der Beschwerden" gesprochen worden sei. Die damals angegebenen Unsicherheiten, verbunden mit Schwindel und Kopfschmerzen, ordne auch er in Übereinstimmung mit dem Vorgutachter Prof. H im Sinne einer typischen Beschwerdekonstellation nach einem HWS-Distorsionstrauma ein. Hinweise auf eine mögliche Hirn- oder Rückenmarksschädigung hätten sich in den Befundunterlagen aus dem Jahr 1992 nicht gefunden. Im Bericht der Universitäts-Nervenklinik vom 5. April 2001 sei die Möglichkeit einer unspezifischen Triggerung des Entzündungsprozesses durch das mit dem Unfallgeschehen verbundene seelische Schockerlebnis diskutiert worden. Aus seiner Sicht sei allerdings zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Unfallereignis nicht um ein überwältigendes traumatisches Erlebnis mit einer ernsthaften Bedrohung der Klägerin gehandelt habe. Eine Verursachung der MS durch Stress sei nach der gültigen Lehrmeinung nicht belegt, auch nicht im Sinne einer vorübergehenden richtungsgebenden Verschlimmerung. Nach allem sei die bei der Klägerin diagnostizierte MS nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 4. März 1992 zurückzuführen.

Insbesondere das von Dr. Ta erstattete Gutachten überzeugt den Senat. Der Sachverständige, dessen fachliche Kompetenz für den Senat auf Grund langjähriger Zusammenarbeit mit einer Vielzahl überzeugend erstatteter Gutachten außer Frage steht, hat den gesamten Akteninhalt einschließlich aller darin befindlicher medizinischer Befundunterlagen sorgfältig ausgewertet, sich mit dem Inhalt der Vorgutachten und abweichender Stellungnahmen auseinandergesetzt und für die abschließendende Beurteilung die aktuell gültige Lehrmeinung herangezogen. Auf die in der Berufungsverhandlung überreichte Kopie eines Berichts der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft nimmt der Senat in diesem Zusammenhang ausdrücklich Bezug. In dem Bericht wird ausgeführt, es werde von Fachleuten einhellig bezweifelt, ob "Stress" alleine ausreiche, auch den Beginn einer MS zu bewirken. Die Zielrichtung von Entzündungs- und Abwehrreaktionen gegen körpereigene Myelinbestandteile bedürfe sicherlich mehrerer Grundlagen und verschiedener auslösender Ereignisse, bevor eine MS entstehe. Bemerkenswert sei auch, dass im Tierexperiment akuter Stress eher vor Ausbruch einer EAE-Erkrankung, dem Gegenstück einer MS bei Labortieren, schütze.

Nach allem schließt der Senat sich der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen Dr. Ta , die in Übereinstimmung mit den Vorgutachten steht, ausdrücklich an.

Allein Dr. T hat die Auffassung vertreten, dass ein Zusammenhang zwischen der MS und dem bei dem Unfall erlittenen Schleudertrauma bestehe (vgl. Ärztliche Bescheinigung vom 28. September 2000). Soweit Dr. T sich hierzu auf den Bericht der Neurologischen Klinik vom 3. März 1997 stützt, ist jedoch festzustellen, dass hierin gerade keine Aussage über den kausalen Zusammenhang getroffen worden ist. Hierauf hat bereits Prof. H in seinem Gutachten vom 23. Februar 2001 hingewiesen. Vor diesem Hintergrund und insbesondere im Hinblick auf die Ergebnisse der vorliegenden Gutachten vermag die von Dr. T beschriebene Einschätzung nicht zu überzeugen. Die Verletztenrente als "Kann Leistung" zu gewähren, wie das der Klägerin in Anlehnung an das Recht der sozialen Entschädigung vorschwebt, ist in der Unfallversicherung nicht vorgesehen.

Nach allem hat die Berufung keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Senat sieht keinen Anlass, gemäß § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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