L 19 RJ 436/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 RJ 423/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 436/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 05.06.2002 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1952 geborene Klägerin hat den von 1966 bis 1969 erlernten Beruf einer Frisörin bis 1976 ausgeübt und war anschließend als Packerin, Näherin und Küchenhilfe versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 27.04.2001 ist sie arbeitslos.

Am 14.11.2000 beantragte die Klägerin wegen Beschwerden auf dem orthopädischen Gebiet, psychovegetativer und körperlicher Erschöpfungszustände und Infektanfälligkeit mit rezidivierender Bronchitis die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte ließ die Klägerin durch den Arzt für Innere Medizin und Lungen- und Bronchialheilkunde Dr.M. untersuchen (Gutachten vom 22.01.2001), der leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes weiterhin für vollschichtig möglich hielt. Die Tätigkeiten sollten im Wechselrhythmus erfolgen ohne Nachtschicht, ohne häufiges Bücken und häufige Überkopfarbeiten sowie ohne Bronchialreizstoffexposition. Im Hinblick auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26.01.2001 und Widerspruchsbescheid vom 19.04.2001 den Rentenantrag der Klägerin ab.

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Nürnberg (SG) nach Beinahme der Unterlagen und Befundberichte des Orthopäden Dr.R. und des Allgemeinmediziners Dr.W. zwei ärztliche Sachverständigengutachten eingeholt. Der Orthopäde Dr.S. (Gutachten vom 19.12.001) hat ebenso wie der Nervenarzt Dr.H. (Gutachten vom 06.03.2002) leichte Arbeiten in Vollschicht für zumutbar gehalten. Zu vermeiden seien Tätigkeiten mit Heben und Bewegen mittelschwerer und schwerer Lasten, mit wiederholtem Heben schwerer Lasten aus dem Kreuz und aus den Knien heraus, mit Überkopfarbeiten, mit anhaltenden stärkeren stereotypen Belastungen beider Arme, mit wiederholten Rumpf- oder Kniebeugen, mit Nässe und Kälte, mit häufigem Steigen auf Leitern oder Gerüsten, mit Arbeiten unter erheblichem Zeitdruck sowie in engen Räumen und in Nachtschicht.

Dieser Leistungsbeurteilung von Dr.S. und Dr.H. hat sich das SG angeschlossen und die Klage mit Urteil vom 05.06.2002 abgewiesen. Das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin ergebe sich aus den Gutachten der ärztlichen Sachverständigen; die Klägerin sei danach nicht erwerbsunfähig. Da sie sich von ihrem erlernten Beruf einer Frisörin gelöst habe, sei sie auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar verweisbar. Daher sei es auch unerheblich, ob sie ihre zuletzt verrichtete Tätigkeit wieder aufnehmen könne.

Mit ihrer dagegen eingelegten Berufung macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, ihre erheblichen Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und neurologischem Gebiet, insbesondere im Bereich der Wirbelsäule, der Arme und der Beine machten es ihr unmöglich, selbst leichteste Tätigkeiten vollschichtig zu verrichten. Dies gelte im besonderen für die Tätigkeit der Frisörin. Die vom SG eingeholten Gutachten hätten diese Gesundheitsstörungen nicht hinreichend bewertet.

Der Senat hat zunächst Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr.S. und des Orthopäden Dr.F. zum Verfahren beigezogen. Der Orthopäde Dr.M. erstattete das Gutachten vom 14.08.2003. Danach könne die Klägerin noch vollschichtig leichte körperliche Arbeiten im Wechselrhythmus ohne häufiges Bücken, Hocken und Knien, ohne schweres Heben und Tragen schwerer Lasten und ohne Arbeiten mit den Händen in kaltem und feuchtem Milieu sowie unter nicht stresshaften Bedingungen verrichten. Diese Leistungsbeurteilung bestätigte Dr.M. in der ergänzenden Stellungnahme vom 01.10.2003.

Die Klägerin beantragt: 1. Das Urteil des SG Nürnberg vom 05.06.2002 wird aufgehoben. 2. Der Bescheid der Beklagten vom 26.01.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.04.2001 wird aufgehoben.

3. Die Berufungsbeklagte wird verurteilt, der Berufungsklägerin zum frühestmöglichen Zeitpunkt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren. 4. Der Berufungsbeklagten werden die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens auferlegt. Hilfsweise wird beantragt, sowohl den Allgemeinarzt Dr.W. wie auch den Orthopäden Dr.F. zu hören als sachverständige Zeugen zu der Frage, ob und wie weit die Klägerin noch über ein Restleistungsvermögen verfügt und in welchem Rahmen sich dieses bewegt.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakte des SG Nürnberg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.

Das SG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin weder berufsunfähig i.S. des § 43 Abs.2 Sechstes Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) noch erwerbsunfähig i.S. des § 44 Abs.2 SGB VI, jeweils in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung, ist.

Der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) oder Erwerbsunfähigkeit (EU) bei einer Antragstellung vor dem 31.03.2001 (hier am 14.11.2000) ist nach den Vorschriften des SGB VI in der bis zum 31.12.2000 geltenden Fassung (aF) zu beurteilen, soweit ein Anspruch aus der Zeit vor dem 01.01.2001 geltend gemacht wird (vgl. § 300 Abs.2 SGB VI). Für den Anspruch sind aber auch die Vorschriften des SGB VI in der ab 01.01.2001 geltenden Fassung (nF) maßgeblich, soweit (hilfsweise) Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit nach dem 31.12.2000 begehrt wird.

Rechtsgrundlage für den von der Klägerin am 14.11.2000 geltend gemachten Anspruch ist § 44 SGB VI aF. Danach erhalten Rente wegen EU Versicherte, die erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.

Die Klägerin, die im Berufungsverfahren in erster Linie Beschwerden auf dem orthopädischen Gebiet geltend gemacht hat, wurde im Auftrag des Senats von dem Orthopäden Dr.M. untersucht. Nach dessen Befunderhebungen leidet die Klägerin im Wesentlichen an beginnenden Verschleißveränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule, an wiederkehrenden Muskelursprungsbeschwerden an den Ellbogengelenken und an einer diskret beginnenden Degeneration der Langfingergelenke (Polyarthrose); an den Kniegelenken liegt eine beginnende Arthrose vor. Diese Gesundheitsstörungen führen aber noch nicht - auch nicht in der Gesamtwürdigung aller bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen - zur Annahme einer gravierenden Leistungsminderung im Sinne von BU oder EU.

So liegen an der Hals- und Lendenwirbelsäule eher beginnende Verschleißveränderungen vor. Computertomografisch zeigten sich an beiden Wirbelsäulenabschnitten keine Nervenkompressionen. Sowohl die Halswirbelsäule als auch die Lendenwirbelsäule waren am Untersuchungstag bei Dr.M. frei beweglich, neurologische Störungen waren nicht festzustellen. Insoweit hat auch der behandelnde Neurologe keine neurogenen Störungen mitgeteilt. An den Ellbogengelenken fand sich rechts ein Druckschmerz über der Supinatorloge. Die Funktion der Ellbogengelenke war nicht beeinträchtigt. Eventuell auftretende wiederkehrende Beschwerden diesbezüglich wären aber ggf. mit Hilfsmitteln oder orthopädischen Therapiemaßnahmen erfolgreich zu behandeln. An den Fingergelenken liegt eine beginnende Polyarthrose vor, die aber noch nicht zu einer Funktionsbeeinträchtigung geführt hat. Weichteilschwellungen waren nicht erkennbar. Die bisherigen Laboruntersuchungen haben keine Veränderungen gezeigt. Am rechten Kniegelenk liegt eine initiale Retropatellararthrose sowie ein Innenmeniskusschaden vor. Ähnliche Veränderungen sind auch am linken Kniegelenk möglich. Sie sind aber nicht ausgeprägt, da bisher keine wesentlichen degenerativen Veränderungen feststellbar sind. Bei entsprechendem Leidensdruck wäre eine arthroskopische Innenmeniskussanierung rechts durchaus möglich. Allerdings waren am Untersuchungstag die Meniskuszeichen negativ und beide Kniegelenke reizfrei.

Insgesamt konnte der vom Senat gehörte Orthopäde Dr.M. eine Verschlimmerung im Gesundheitszustand der Klägerin im Vergleich zu den Feststellungen des vom SG gehörten Orthopäden Dr.S. nicht feststellen. Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an. Der Klägerin sind zumindest leichte körperliche Arbeiten im Wechselrhythmus ohne häufiges Bücken, Hocken und Knien sowie ohne schweres Heben und Tragen schwerer Lasten sowie ohne Arbeiten mit den Händen in kaltem und feuchten Milieu vollschichtig zumutbar. Vollschichtige Tätigkeiten sind der Klägerin auch unter Berücksichtigung einer depressiven Reaktion, die nach dem Gutachten des Nervenarztes Dr.H. bei der Klägerin vorliegt, zumutbar. Diese Gesundheitsstörung führt letzten Endes zu der Einschränkung, dass ihr Arbeiten unter stresshaften Bedingungen nicht mehr zumutbar sind. Aus sozialmedizinischer Sicht begründen diese Gesundheitsstörungen insgesamt keine zeitliche Leistungsminderung im Erwerbsleben. Zusätzliche (betriebsunübliche) Pausen werden nicht benötigt. Das Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte unterliegt keinen streckenmäßigen oder zeitlichen Beschränkungen.

Für den Senat sind diese unter sozialmedizinischen Grundsätzen erstellten Aussagen des ärztlichen Sachverständigen Dr.M. zur beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin überzeugend und für die Entscheidungsfindung heranzuziehen. Im Hinblick auf die genannten Leistungseinschränkungen liegt auch weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor.

Da die Klägerin unter Einbeziehung aller bei ihr festgestellten Gesundheitsstörungen somit nicht an der Ausübung einer regelmäßigen Ganztagsbeschäftigung gehindert ist, braucht vorliegend eine zustandsangemessene Tätigkeit weder nachgewiesen noch benannt zu werden. Denn solange eine Versicherte in der Lage ist, unter betriebsüblichen Bedingungen noch vollschichtig und regelmäßig Erwerbsarbeit zu leisten, besteht keine Pflicht der Verwaltung und der Gerichte, konkrete Arbeitsplätze und Verweisungstätigkeiten mit im Einzelnen nachprüfbaren Belastungselementen zu benennen. Vielmehr ist in solchen Fällen von einer ausreichenden Zahl vorhandener Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen (BSG SozR 2000 § 1246 Nr.90). Die Klägerin ist somit nicht erwerbsunfähig i.S. des § 44 Abs.2 SGB VI aF.

Leistungen wegen BU stehen der Klägerin nicht zu. Denn die Klägerin genießt keinen Berufsschutz. In Übereinstimmung mit dem SG im angefochtenen Urteil ist davon auszugehen, dass die Klägerin sich schon frühzeitig von ihrem erlernten Frisörberuf gelöst hat. Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Lösung aus rentenrechtlich erheblichen Gründen erfolgt ist. Im Anschluss an die Lösung von ihrem erlernten Beruf hat die Klägerin ungelernte bzw. kurzfristig angelernte Tätigkeiten ausgeübt, so dass sie nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschema auf ungelernte Tätigkeiten zumutbar verweisbar ist.

Bei weiterhin bestehender vollschichtiger Leistungsfähigkeit für leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ist die Klägerin nicht berufsunfähig i.S. des § 43 Abs.2 SGB VI aF und nicht erwerbsunfähig i.S. des § 44 Abs.2 SGB VI aF. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder auch nur teilweiser Erwerbsminderung nach der seit 01.01.2001 geltenden Neuregelung.

Für die Durchführung weiterer Ermittlungen i.S. der Einholung zusätzlicher Gutachten oder auch, wie von der Klägerin hilfsweise beantragt, der Anhörung der behandelnden Ärzte Dr.W. und Dr.F. als sachverständige Zeugen hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Denn die von Dr.W. und Dr.F. anlässlich der Behandlung der Klägerin erhobenen Befunde und Untersuchungsergebnisse lagen dem Senat und auch dem ärztlichen Sachverständigen Dr.M. vor. Die Frage nach dem Leistungsvermögen der Klägerin ist von dem dazu bestellten ärztlichen Sachverständigen eindeutig beantwortet worden. Die Anhörung der behandelnden Ärzte Dr.W. und Dr.F. im Rahmen der Amtsermittlung war darüber hinaus nicht geboten.

Da die Berufung der Klägerin zurückzuweisen war, haben die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten (§ 193 SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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