L 17 U 210/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 404/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 210/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 20.03.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 17.05.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.11.1999 wird die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 01.02.1996 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente streitig. Der 1955 geborene Kläger, der von Beruf freiberuflicher Soundtechniker war, erlitt am 13.02.1994 einen Arbeitsunfall infolge Knalltrauma. Bei einem Soundcheck (Überprüfen und Einstellen der Musikanlage) kam es bei der Überprüfung der Funktion der Monitorbox des Schlagzeugers zu einem lauten Rückkopplungspfeifen. Dabei erlitt der Kläger ein Knalltrauma. Arbeitsunfähig krank war er deswegen bis 31.01.1996. Nach ablehnenden Bescheiden wurde die Beklagte durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Würzburg vom 23.10.1996 verpflichtet, das Knalltrauma vom 13.02.1994 als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Grunde nach zu entschädigen. Die Beklagte zog einen Befundbericht des HNO-Arztes Dr.O. vom 22.08.1997, eine Krankheitenauskunft der Barmer Ersatzkasse W. vom 18.03.1997, die ärztlichen Unterlagen des Arbeitsamtes W. sowie des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern und ein für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstelltes Gutachten des HNO-Arztes Dr.N. vom 24.01.1995 zum Verfahren bei. Sodann erstellte Dr.O. am 23.04.1998 ein HNO-ärztliches Gutachten. Er ging von einer unfallbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 vH wegen Tinnitus aus. Aufgrund einer beratungsärztlichen Stellungnahme des HNO-Arztes Dr.J. vom 27.07.1998 holte die Beklagte ein psychiatrisches Gutachten von Prof.Dr.B. vom 08.04.1999 ein. Dieser fand als Folge des Unfalls keine psychiatrische Störung oder Erkrankung und somit auch keine MdE auf psychiatrischem Gebiet. Mit Bescheid vom 17.05.1999 erkannte die Beklagte als Folgen des Arbeitsunfalles an: Geringgradige, basocochleäre Hochtonschwerhörigkeit beidseits mit geringgradigem Tinnitus aurium rechts nach Knalltrauma.

Einen Rentenanspruch lehnte sie ab, da die Erwerbsfähigkeit nicht in rentenberechtigendem Grade über den 01.02.1996 hinaus gemindert sei (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 18.11.1999). Gegen diese Bescheide hat der Kläger Berufung eingelegt und beantragt, ihm Verletztenrente unter Einschluss einer beruflichen Betroffenheit nach einer MdE von mindestens 20 vH ab 01.02.1996 zu gewähren. Er hat vorgetragen, dass die Behauptung eines geringgradigen Tinnitus unrichtig sei. Dies gelte auch für die Bewertungen in dem psychiatrischen Gutachten. Das Gericht hat anschließend ein Gutachten bei dem HNO-Arzt Dr.D. am 22.04.2001 veranlasst, der die MdE mit 10 vH für einen hochtonigen Tinnitus rechts und einer Hochtonsenke rechts bewertete. Mit Urteil vom 20.03.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt, dass in Übereinstimmung mit den Gutachten von Dr.D. , Dr.O. und Prof. Dr.B. der durch Knalltrauma verursachte Hörschaden einschließlich Tinnitus rechts mit einer MdE von höchstens 10 vH zu bewerten sei. Eine Verletztenrente könne daher nicht gewährt werden. Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim Bayer. Landessozialgericht eingelegt und vorgetragen, dass er in ständiger psychiatrischer Behandlung sei. Er habe den schweren Einbruch in seinem Leben nicht verwunden und verkraftet. Die Beurteilung durch Prof.Dr.B. stelle nur eine oberflächliche Betrachtung dar. Hierzu hat er eine ärztliche Bescheinigung des Nervenarztes Dr.S. vom 19.06.2002 vorgelegt. Die Beklagte hat Befundberichte des Arztes P. vom 09.08.2002, des Zentrums für Gestalttherapie vom 24.08.2002 sowie die ärztlichen Unterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eingeholt. Sodann haben Prof.Dr.S. am 06.05.2003 ein HNO-ärztliches Gutachten und Dr.S. am 02.06.2003 ein nervenärztliches Gutachten erstellt. Prof. Dr.S. hat unfallbedingt eine Innenohrhochtonschwerhörigkeit ohne Einschränkung des Sprachverstehens in Ruhe sowie einen Tinnitus rechts als Unfallfolgen festgestellt und mit einer MdE von 10 vH bewertet. Dr.S. ist zu der Feststellung gekommen, dass der bei dem Kläger vorliegende Vorschaden (rezidivierend depressive Störung) durch den anerkannten Arbeitsunfall verschlimmert worden sei. Bei dem bestehenden postraumatischen chronischen Tinnitus seien psychische Anteile zu berücksichtigen, die zu einer MdE von 20 vH ab 01.02.1996 führen. Die Ausprägung der psychischen Anteile sei so gravierend, dass sie mit einer Erhöhung der MdE einhergehe. Die Beklagte hat dem mit Stellungnahme vom 11.07.2003 widersprochen und ausgeführt, dass entsprechend dem Gutachten von Dr.S. die vorübergehende Verschlimmerung der Unfallfolgen 1996 nicht mehr relevant sei. Zudem sei nicht ausreichend begründet, dass bei dem Kläger ein chronischer Tinnitus Grad IV vorliege.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Würzburg vom 20.03.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 17.05.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.11.1999 zu verurteilen, Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 01.02.1996 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 20.03.2002 zurückzuweisen.

In der mündlichen Verhandlung am 03.12.2003 haben sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt, dass der Berichterstatter in der Sache als Einzelrichter entscheidet. Den Antrag auf Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit hat der Kläger nicht aufrecht erhalten.

Wegen weiterer Einzelheiten wird ergänzend auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 01.02.1996, da die Voraussetzungen erfüllt sind. Ein Anspruch auf Verletztenrente setzt nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII voraus, dass die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist. Die Entscheidung der Frage, in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268; BSG vom 23.04.1987 - 2 RU 42/86). Die Bemessung des Grades der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, betrifft in erster Linie das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet. Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden. Ärztliche Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Einschätzung des Grades der MdE, vor allem soweit sich dieser darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG in SozR 2200 § 581 Nrn 23, 27).

Der Unfall vom 13.02.1994 (Knalltrauma) ist durch Urteil vom 23.10.1996 als Arbeitsunfall anerkannt worden. Folglich ist allein über die Gewährung einer Verletztenrente zu entscheiden.

Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Prof.Dr.S. , Dr.D. und Dr.O. , dessen für die Beklagte erstattetes Gutachten vom 23.04.1998 im vorliegenden Rechtsstreit verwendet werden kann (BSG SozR Nr 66 zu § 128 SGG), sowie Dr.S. steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass bei dem Versicherten aufgrund des Arbeitsunfalles vom 13.02.1994 eine Innenohrhochtonschwerhörigkeit rechts bei Normalhörigkeit links ohne Einschränkung des Sprachverstehens in Ruhe, jedoch mit Einschränkung im Störgeräusch, sowie ein Tinnitus rechts verblieben ist. Die Innenohrhochtonschwerhörigkeit und der Tinnitus befinden sich rechts, also auf der Seite, welche nach den Angaben des Klägers der Schallquelle (Lautsprecher) zugewandt war. Die Innenohrhochtonschwerhörigkeit ohne Einschränkung des Sprachverstehens in Ruhe (prozentualer Hörverlust 0 %) ist deshalb als Folge des Lärmtraumas anzusehen. Da der Tinnitus im charakteristischen Zwischenfrequenzbereich liegt, er wegen einer durch das akute Lärmtrauma erforderlichen Infusionsbehandlung aufgetreten ist und bei erneuter Lärmbelastung des Ohres lauter geworden ist, ist er ebenfalls als Unfallfolge anzuerkennen.

Nach dem überzeugenden Gutachten des Nervenarztes Dr.S. ist der Tinnitus mit dem Grad IV zu bewerten. Dies weist auf zusätzliche depressive Verstimmung, Einschränkung der akustischen Wahrnehmung und der persönlichen Gestaltungsmöglichkeit hin. Der chronifizierte Tinnitus trägt nämlich dazu bei, dass insbesondere die private Lebensgestaltung und berufliche Weiterentwicklung, aber auch die akustische Wahrnehmung deutlich beeinträchtigt wird. Dies gilt unabhängig davon, dass daneben noch eine depressive Verstimmung im Rahmen einer unfallunabhängigen nervenärztlichen Erkrankung vorliegt. Dieser Vorschaden ist durch den aufgrund des Arbeitsunfalles entstandenen Tinnitus - vorübergehend - verschlimmert worden. Das Knalltrauma mit den daraus resultierenden chronischen Tinnitus rechts stellt jedenfalls einen ausgeprägten Belastungsfaktor dar. Zusammenfassend ist daher wesentlich, dass aufgrund der Ausprägung der intrapersonellen und beruflichen Beeinträchtigungen, insbesondere bei der privaten Lebensgestaltung und berufliche Weiterentwicklung, deutliche Minderungen der persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten vorliegen. Die MdE für die Innenohrhochtonschwerhörigkeit rechts ohne Einschränkung des Sprachverstehens sowie den Tinnitus rechts hat Prof.Dr.S. mit 10 vH eingeschätzt. Sie hat dabei unberücksichtigt gelassen, dass - wie Dr.S. überzeugend ausführt - durch den bestehenden posttraumatischen chronischen Tinnitus rechts die MdE mit 20 vH zu bewerten ist. Die Erhöhung ergibt sich aufgrund der psychischen Anteile im Rahmen dieser Störung. Die Ausprägung der psychischen Anteile, insbesonders bei den persönlichen und beruflichen Gestaltungsmöglichkeiten wird von Dr.S. als so gravierend angesehen, dass sie in Ergänzung der Feststellungen von Prof.Dr.S. mit einer Erhöhung der MdE einhergeht. Dies steht in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, Seite 442, wonach bei zusätzlichen psychischen Befindungsstörungen eine nervenärztliche Zusatzbegutachtung angezeigt ist, wodurch sich im Einzelfall höhere MdE-Werte ergeben. Nicht folgen kann das Gericht den Ausführungen des Nervenarztes Prof.Dr.B. in seinem Gutachten vom 08.04.1999. Bei ihm fehlt insbesondere eine Testpsychologie. Auch sind die von ihm erhobene biographische Anamnese und der Lebenslauf zu eng und einseitig, da sie sich zu intensiv auf den Arbeitsunfall fokussieren. Die Problematik einer rezidivierenden depressiven Störung - als Vorerkrankung - behandelt er nicht. Das Urteil des SG Würzburg ist daher aufzuheben und die Bescheide der Beklagten sind abzuändern. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH ab 01.02.1996 (Ende der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit). Der Berichterstatter konnte im Einverständnis mit den Beteiligten anstelle des Senats entscheiden (§ 155 Abs 3, 4 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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