L 19 RJ 277/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 12 RJ 401/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 RJ 277/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 RJ 46/04 B
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 16.03.2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die 1952 geborene Klägerin ist im April 1970 aus der Türkei nach Deutschland zugezogen. Sie hat keine Berufsausbildung durchlaufen. Nach ihren Angaben hat sie von 1970 bis 1984 mit Unterbrechungen als Montiererin, Kontrolleurin und in verschiedenen Aushilfstätigkeiten gearbeitet. Seit 07.09.1998 bestand Arbeitsunfähigkeit, abwechselnd mit Arbeitslosigkeit.

Am 10.09.1998 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit (EU). Die Beklagte ließ sie durch den Chirurgen Dr.v.G. untersuchen, der im Gutachten vom 08.10.1998 zu dem Ergebnis kam, die Klägerin könne leichte und mittelschwere Arbeiten im Wechselrhythmus in Vollschicht verrichten. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 21.10.1998 ab, da die Klägerin nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Vom 25.11. bis 16.12.1998 unterzog sie sich einer stationären Heilmaßnahme in Bad S ... Die Entlassung aus der Maßnahme erfolgte als vollschichtig leistungsfähig, auch für den Beruf der Montiererin. Nach Beinahme eines Berichtes des Bezirkskrankenhauses A. vom 03.03.1999 (stationärer Aufenthalt der Klägerin vom 14.01. bis 26.02.1999) erstattete der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.D. das Gutachten vom 29.03.1999. Er nannte folgende Diagnosen: Depressiv gefärbte neurotische Entwicklung mit Somatisierungsneigung, statisch myalgische Beschwerden im HWS-Bereich, Neigung zu Cervicocephalgien mit zusätzlicher Spannungskopfschmerzkomponente, rezidivierende Orthostasebeschwerden bei Hypotonieneigung. Der Sachverständige erachtete die Klägerin für fähig, zumindest leichte Arbeiten in Vollschicht zu verrichten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29.04.1999 zurück.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 12.05.1999 Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und die Auffassung vertreten, dass sie wegen ihrer Gesundheitsstörungen ein vollschichtiges Leistungsvermögen keinesfalls erbringen könne. Das SG hat einen weiteren Bericht des Bezirkskrankenhauses A. vom 22.06.1999 über den stationären Aufenthalt der Klägerin vom 18.05. bis 10.06.1999 zum Verfahren beigenommen; des Weiteren die Prozessakte des SG Nürnberg S 14 SB 184/99 betreffend Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz. Auf Veranlassung des SG hat die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr.O. das Gutachten vom 17.01.2000 erstattet. Die ärztliche Sachverständige stellte die Diagnose einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit erheblicher Somatisierungstendenz. Es sei von wiederkehrenden depressiven Dekompensationen auszugehen, allerdings nicht von einer so tiefgreifenden psychiatrischen Störung, dass diese nicht bei zumutbarer Willensanstrengung überwunden werden könnte. Frau Dr.O. vertrat die Auffassung, dass bei der Klägerin weiterhin ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten gegeben sei. Mit Urteil vom 16.03.2000 hat das SG die Klage wegen Gewährung von Rente wegen EU abgewiesen. Es hat die Klägerin für weiterhin vollschichtig leistungsfähig für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten erachtet und hat sich der Auffassung von Dr.O. angeschlossen, dass bei der Klägerin u.a. eine bewusstseinsnahe Ausgestaltung der Beschwerden mit zweckfinalen Tendenzen vorliege. Die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Klägerin könne einer Vielzahl von Beschäftigungen im industriellen oder gewerblichen Bereich nachgehen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 28.04.2000 beim SG Nürnberg eingegangene Berufung der Klägerin. Diese verlangt weiterhin die Gewährung von Rente wegen EU. Sie leide insbesondere unter Gesundheitsstörungen des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets, darüber hinaus seien auch orthopädische und internistische Beschwerden zu beachten. Der Senat hat Befundberichte des Nervenarztes Dr.K. (mit Bericht des Bezirkskrankenhauses A. vom 17.08.2000), des Allgemeinarztes Dr.B. und des Orthopäden Dr.R. zum Verfahren beigenommen. Des Weiteren wurde aus dem Schwerbehinderten-Verfahren ein Gutachten der Sozialmedizinerin Dr.H. vom 11.07.2001 beigezogen. Auf Veranlssung des Senats hat der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.W. das Gutachten vom 14.11.2001 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet. Er hat als Diagnosen genannt: Depressiv-hysterische Persönlichkeitsentwicklung, psychogene Anpassungsstörung mit Somatisierungen, rentenneurotische Entwicklung. Die Klägerin könne trotz dieser Gesundheitsstörungen weiterhin leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten, und zwar in Vollschicht. Dem ärztlichen Sachverständigen hat auch der Bericht des Klinikums N. , Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 12.11.2001 vorgelegen. Auf Antrag der Klägerin erstattete der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.G. das weitere Gutachten vom 11.11.2002. Bei der Klägerin liege eine depressiv-ängstliche Somatisierungsstörung mit Anpassungsstörung bei neurotisch fixierter Fehlverarbeitung seit September 1997 vor; es bestehe eine psychosoziale Resistenzlage mit Fähigkeitsstörungen im Verhalten von erheblichem Schweregrad. Die Klägerin könne nur leichte Arbeiten verrichten im Umfang von zwei Stunden bis unterhalbschichtig. Das psychische Krankheitsbild habe sich im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Die beschriebene Leistungsminderung und der Krankheitszustand bestünden seit Rentenantragstellung. Die Beklagte hat zu diesem Gutachten durch ihren ärztlichen Dienst (Dr.D. / Dr.S.) am 17.01.2003 Stellung genommen und die Klägerin weiterhin für vollschichtig leistungsfähig erachtet. Der ärztliche Sachverständige Dr.W. hat auf Nachfrage des Gerichts die Klägerin am 29.07.2003 nochmals untersucht und ergänzend zu seinem Gutachten Stellung genommen. Er teile die Meinung und Leistungseinschätzung von Dr.G. nicht. Nach seiner Auffassung sei die Klägerin im Sinne einer persönlich eingenommenen Fehlhaltung mit aller Kraft darauf fixiert, dass ihre sicherlich enttäuschende Bilanz (in Familie und Berufsleben) durch Rentengewährung kompensiert werde. Hierfür biete die Klägerin erhebliche Energie auf. Er sehe keine Veranlassung, von der von ihm vorgenommenen Leistungseinschätzung abzuweichen. Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Nürnberg vom 16.03.2000 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 21.10.1998 idF des Widerspruchsbescheides vom 29.04.1999 zu verurteilen, auf den Antrag vom 10.09.1998 Rente wegen EU in gesetzlicher Höhe zu gewähren; hilfsweise beantragt sie die Einholung eines weiteren nervenärztlichen Gutachtens. Die Beklagte beantragt weiterhin, die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Nürnberg sowie die weiteren Prozessakten des SG Nürnberg (Az: S 14 SB 184/99 und S 13 SB 869/2000) vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel der Klägerin erweist sich als nicht begründet. Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung nicht zusteht. Die Klägerin ist nicht erwerbsunfähig i.S. des § 44 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung. Auch eine volle oder teilweise Erwerbsminderung i.S. der seit 01.01.2001 geltenden Neuregelung des § 43 SGB VI liegt bei ihr nicht vor. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin - im Wesentlichen eine depressiv-hysterische Persönlichkeitsentwicklung mit psychogener Anpassungsstörung und rentenneurotischer Entwicklung - und deren Verlauf sind seit 1998 durch mehrere Gutachten, den Entlassungsbericht nach dem Heilverfahren im Jahre 1998 und durch Befund- und Behandlungsberichte von Ärzten und Kliniken ausführlich beschrieben und dokumentiert. Sowohl der Nervenarzt Dr.D. wie auch die Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr.O. und Dr.W. haben in den Gutachten vom 17.01.2000 und vom 14.11.2001 noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin für leichte bis mittelschwere Arbeiten allgemeiner Art angenommen. Im Vordergrund der Beschwerden steht bei der Klägerin die depressiv-hysterische Persönlichkeitsstörung mit Somatisierungen. Die Klägerin kann aber trotz der genannten Befunde weiterhin leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten, und zwar in Vollschicht. Die Arbeiten sollten vorzugsweise im Wechselrhythmus stattfinden, ohne Zwangshaltungen mit besonderer Belastung des Rückens und der Knie. Die psychische Belastbarkeit der Klägerin ist reduziert durch einen neurotisch verkürzten Spannungsbogen mit Neigung zu hysterischen konversiven Versagenszuständen bzw. Erregungszuständen, welche sie in der Vergangenheit aber überwiegend bewusstseinsnah zur Durchsetzung ihrer Entlastung einsetzte. Insbesondere Dr.W. hat in ausführlicher und wohlbegründeter Weise dargelegt, dass die Klägerin nicht gehindert ist, auch weiterhin vollschichtig unter den üblichen Bedignungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Die Klägerin ist in ihrer Wegefähigkeit (für das Erreichen eines Arbeitsplatzes) nicht eingeschränkt. Sie bedarf auch keiner zusätzlichen Arbeitspausen über betriebsübliche Regelungen hinaus. Der Senat hat keine Bedenken, sich der Leistungseinschätzung durch Dr.W. anzuschließen, da dieser sämtliche Gesundheitsstörungen der Klägerin beschrieben und leistungsmäßig überzeugend bewertet hat und im Ergebnis mit den vorher angehörten Sachverständigen Dr.D. und Dr.O. übereinstimmt. Die Klägerin kann danach noch in Vollschicht körperlich leichte bis mittelschwere Berufstätigkeiten verrichten. Den Ausführungen von Dr.G. konnte sich der Senat im Hinblick auf die Leistungsbeurteilung nicht anschließen. Bei nahezu gleicher Befundbeschreibung wie bei den vorausgegangenen Begutachtungen kam dieser zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nur noch Arbeiten im Umfang von zwei Stunden bis unterhalbschichtig verrichten könne; das psychische Krankheitsbild der Klägerin habe sich im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Er hat jedoch lediglich seine eigene Meinung gegen die der Vorgutachter gesetzt und ansonsten die angenommene Leistungsminderung nicht näher begründet, sich diesbezüglich nicht vertieft mit den vorher erstatteten Gutachten auseinandergesetzt und auch keine differenzierte Betrachtung zum Zeitpunkt der eingetreten Leistungsminderung angestellt. Einerseits hat er eine deutliche Zunahme des psychischen Beschwerdebildes im letzten Jahr angenommen, andererseits ist er mit der vorgeschlagenen Leistungsminderung auf die Rentenantragstellung (im Jahre 1998) zurückgegangen. Das Gutachten von Dr.G. konnte deshalb nicht als Grundlage für die gerichtliche Entscheidung dienen. Überzeugender waren für den Senat die Darstellungen von Dr.W. , nach denen die Klägerin sich mit aller Kraft auf eine Entpflichtung fixiert hat; darin ist eine überwiegend bewusstseinsnahe Energieleistung zu sehen, die die Klägerin vor dem Hintergrund ihrer Ansprüche aufbringt und die eben nicht ihrem Willen entzogen ist (und die deshalb auch nicht als Nichtkönnen i.S. einer Fähigkeitsstörung bewertet werden darf). Auch die mehrmaligen stationären Aufenthalte der Klägerin seit 1999 (dreimal im Bezirkskrankenhaus A. , einmal im Klinikum N.) sprechen nicht gegen diese Annahme; sie sind immer aus mehr oder weniger demonstrativen Überreaktionen entstanden, die teils in der privaten Sphäre der Klägerin angelegt waren, zum Teil auch aus dem Kampf um Leistungen aus der öffentlichen Fürsorge entstanden sind. In diese Richtung weist auch der Bericht des Klinikums N. vom 12.11.2001 über den letzten Aufenthalt der Klägerin vom 05.11. bis 12.11.2001, wenn dort ausgeführt wird: In der oberärztlichen Nachexploration zeigte sich ein deutliches Rentenbegehren mit dysphorischer Grundhaltung bei Versagen der durch die Patientin empfundenen Versorgungsansprüche.

Der Einholung eines weiteren nervenärztlichen Gutachtens bedurfte es unter diesen Umständen nicht. Die Klägerin ist gerade im Bereich des neurologisch-psychiatrischen Fachgebiets mehrfach untersucht und begutachtet worden. Anhand dieser Gutachten und der vorliegenden Behandlungsberichte hat sich für das Gericht ein zuverlässiges Bild von der Leistungsfähigkeit der Klägerin ergeben, das als Grundlage für die Entscheidung tauglich ist. Ernsthafte Zweifel, dass die gewonnene Leistungseinschätzung zutreffend ist, haben sich für den Senat nicht ergeben.

Mit dem festgestellten Leistungsvermögen ist die Klägerin nach ihrem Berufsweg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, ohne dass es der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf; auch insoweit ist den Ausführungen des SG zuzustimmen.

Die Berufung der Klägerin war deshalb zurückzuweisen. Daraus folgt, dass außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten sind.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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