L 2 B 19/03 KN

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 7 KN 39/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 B 19/03 KN
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Münster vom 29.09.2003 geändert. Der Antragsgegnerin wird gegen Androhung eines Ordnungsgeldes von 1.000 Euro aufgegeben, dem Antragsteller binnen 4 Wochen einen Bescheid über die Bewilligung von Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit zu erteilen. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Gründe:

I. Gegenstand des vorausgegangenen Klageverfahrens (SG Münster S 7 KN 39/01; LSG NRW L 2 KN 188/01) war ein mit Antrag vom Mai 2000 geltend gemachter Anspruch des Antragstellers auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Versichertenrente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit). Die Antragsgegnerin (Bescheid vom 28.08.2000; Widerspruchsbescheid vom 08.01.2001)) und das Sozialgericht (SG) Münster (Urteil vom 06.11.2001) haben einen solchen Anspruch verneint. Das SG hat sich zur Begründung auf eine Sachverständigengutachten des Nervenarztes Dr. W bezogen. Der Sachverständige hat beim Kläger eine Persönlichkeitsstörung festgestellt und den Verdacht geäußert, dass dafür eine hirnorganische Grundlage bestehe. Die Reintegration ins Erwerbsleben sei wegen der persönlichkeitsbezogenen, der willentlichen Steuerung nur bedingt unterliegenden Verhaltensauffälligkeiten problematisch. Er halte es für ratsam, eine berufliche Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen. Ein Rehabilitationsversuch erscheine nicht aussichtslos (Gutachten vom 26.04.2001). Im Berufungsverfahren hat der Vertreter der Antragsgegnerin im Verhandlungstermin vor dem Senat am 21.11.2002 erklärt, die Beklagte verpflichte sich, "dem Kläger eine solche Reha-Maßnahme zu gewähren, wie sie Dr. W angeregt hat, und dem Kläger Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ab Antragstellung zu gewähren". Der Antragsteller hat sich mit dem Angebot einverstanden und den Rechtsstreit für erledigt erklärt.

Im Folgenden hat der Antragsteller gegenüber dem SG auf dieser Grundlage Zahlung von Rente "unabhängig von Reha" begehrt. Das SG hat - als Vollstreckungsgericht - entschieden, der "Beklagten" werde zur Ausführung des Vergleichs vom 21.11.2002 eine Frist bis zum 25.11.2003 gesetzt. Innerhalb dieser Frist sei nachzuweisen, dass dem Kläger eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation - unter Hinweis auf seine Mitwirkungspflicht - angeboten worden ist. In den Gründen heißt es ua: "Kommt die Maßnahme zustande, wird die Beklagte in Ausführung des Vergleichs vom 21.11.2002 zu prüfen haben, ob dem Kläger Leistungen ab Antragstellung 04.05.2000 zustehen" (Beschluss vom 29.09.2003).

Mit seiner Beschwerde erstrebt der Antragsteller weiter Zahlung von Rente aufgrund der Erklärung der Antragsgegnerin im Termin am 21.11.2002. Die Antragsgegnerin hat dies abgelehnt und gemeint, sie habe sich mit ihrer Erklärung dazu nicht verpflichtet.

II.

Die (einfache) Beschwerde gegen die Entscheidung des Sozialgerichts (SG) als Vollstreckungsgericht ist statthaft, § 198 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), weil sie das zutreffende Rechtsmittel in den Fällen ist, in denen nach dem Achten Buch der Zivilprozessordnung (ZPO) die sofortige Beschwerde vorgesehen ist (vgl § 793 ZPO).

Der Antragsteller ist durch die angefochtene Entscheidung beschwert. Zwar wird darin nicht ausdrücklich sein Vollstreckungsbegehren aus dem Vergleich vom 22. November 2002 auf Bewilligung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit behandelt, indes ergibt eine Auslegung des angefochtenen Beschlusses unter Heranziehung der Gründe, dass das SG über das gesamte Vollstreckungsbegehren entschieden hat.

Der Kläger hat im Beschwerdeverfahren ausdrücklich die Vollstreckung eines Anspruchs auf "Rente wegen Erwerbsunfähigkeit" begehrt. An der Vollstreckung der gleichfalls von der Antragsgegnerin übernommenen Verpflichtung, eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation zu gewähren, war er dagegen offenbar nicht (mehr) interessiert. Das SG hat sich ausdrücklich zwar nur zu diesem Begehren verhalten, weil es offenbar irrtümlich davon ausgegangen ist, dass es auch nach dem geschlossenen Vergleich Vorrang vor einer Rentenleistung habe (vgl § 9 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch 6. Buch (SGB VI)). Dies ist hier - wie zu zeigen sein wird - indes nicht der Fall. Unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung hat das SG aber damit konkludent das Vollstreckungsbegehren auch insoweit zurückgewiesen, als der Antragsteller auf der Grundlage der Erklärung vom 22.11.2002 auch die Erteilung eines Leistungsbescheids begehrt.

Das Vollstreckungsbegehren, mit dem der Antragsteller sinngemäß begehrt, der Antragsgegnerin gegen Androhung eines Zwangsgeldes aufzugeben, ihre im Vergleich vom 22.11.2002 übernommene Verpflichtung, einen Bescheid über die Gewährung von Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit zu erteilen, zu erfüllen, ist zulässig (insbesondere statthaft)und begründet.

Die Zwangsvollstreckung findet aus gerichtlichen Vergleichen (§ 199 Abs 1 Nr 3 SGG) auch gegen Verwaltungsträger statt (Meyer-Ladewig. SGG mit Erläuterungen. 7. Auflage 2002, § 198 Rdnrn 1a, 3; LSG Hamburg Breithaupt 2003, 871f). Bei der Übereinkunft im Termin vom 22.11.2002 handelt es sich um einen solchen gerichtlichen Vergleich. Sie richtet sich, wenn sie - wie hier - auf die Erwirkung einer unvertretbaren Handlung in Form der Erteilung eines Bescheides zielt, nach § 201 SGG, der als Sondervorschrift zu §§ 198 Abs 1 SGG, 888 ZPO Anwendung findet (Bley in: Gesamtkommentar. Band 9. SGG Teil 2. § 201 1b). § 201 SGG findet auf die Vollstreckung aus gerichtlichen Vergleichen entsprechende Anwendung; das Sozialgericht ist das zuständige Vollstreckungsgericht (LSG Hamburg aaO; Meyer-Ladewig. aaO § 201 Randnrn 2, 4).

In der Sache ist die Vollstreckung entsprechend dem Begehren des Antragstellers dahingehend vorzunehmen, dass die Antragsgegnerin gegen Androhung eines Zwangsgeldes in Höhe von 1.000 (§ 201 Abs 1 Satz 1 SGG) anzuhalten ist, binnen Monatsfrist die unvertretbare Handlung vorzunehmen, dem Kläger einen Bescheid über die Gewährung von Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 44 Abs 1 SGB VI in der alten, bis zum 31.12.2000 maßgeblichen Fassung, § 300 Abs 2 SGB VI) zu erteilen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Vergleich vom 22.11.2002 als vollstreckbarem Titel. Die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen sind erfüllt. Der Antragsgegnerin ist eine mit einer Vollstreckungsklausel versehene vollstreckbare Ausfertigung des Titels zugestellt worden.

Der Titel hat auch einen vollstreckungsfähigen Inhalt. In dem Vergleich hat die Antragsgegnerin sich verpflichtet, "dem Kläger eine solche Reha-Maßnahme zu gewähren, wie sie Dr. W angeregt hat, und dem Kläger Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ab Antragstellung zu gewähren". Sie hat damit kumulativ zwei voneinander unabhängige Verpflichtungen übernommen, wegen deren zweiter der Antragsteller die Vollstreckung eingeleitet hat. Diese ist, auch wenn sie keine konkrete Leistung bezeichnet, wie ein Grundurteil vollstreckungsfähig (LSG Hamburg aaO; zum Grundurteil siehe BSG SozR 3-1500 § 199 SGG Nr 1; LSG Baden-Würtemberg Breithaupt 1995, 806, 807 = E-LSG B-041 mwN ; LSG Rheinland-Pfalz Beschluss vom 15.03.1999 Akten- zeichen L 4 B 6/99). Nach der Auskunft des Arbeitsamts C (Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 19.04.2004) steht auch fest, dass der Anspruch des Antragstellers nicht in vollem Umfang durch Zahlung von Arbeitslosenhilfe erfüllt worden ist (§ 107 Abs 1 SGB X).

Die Vollstreckung ist in der Sache nach dem Begehren des Antragstellers darauf gerichtet, ihm laufende Zahlungsleistungen wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Die eingegangene Verpflichtung bedeutet in Ansehung des Wortlauts ("und" signalisiert hier eine kumulative Leistungspflicht) und des Zusammenhangs, in dem sie eingegangen wurde, insbesondere dem vorangehenden Hinweis des Senats auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21.02.1989 (BSG SozR 2200 § 1247 Nr 57)und die darin referierte Rechtsprechung des Großen Senats des BSG, dass die Antragsgegnerin sich als Beklagte verpflichtet hat, unabhängig von einer daneben zu bewilligenden Leistung der medizinischen Rehabilitation (wie sie der Sachverständige Dr. W angeregt hatte) als gesetzlich bei Erwerbsunfähigkeit vorgesehene Leistung Versichertenrente (oder Übergangsgeld, vgl die zum 01.01.2001 aufgehobene Vorschrift des § 116 Abs 1 SGB VI) zu gewähren. Denn die zitierte BSG-Entscheidung verhält sich in ihren tragenden Gründen ausschließlich zum Rechtsbegriff der Erwerbsunfähigkeit in Fällen, in denen diese - wie beim Antragsteller - auch bei eingebrachten Leiden wesentlich darauf beruht, dass die Integration in den Arbeitsmarkt nicht mehr möglich ist, dieser also praktisch verschlossen ist. Dass daneben ein letzter Versuch zur Beeinflussung der auf nervenärztlichem Gebiet bestehenden Gesundheitsstörungen durch eine medizinische Reha-Maßnahme unternommen werden sollte, ist ohne Belang. Denn im Rahmen eines Vergleichs konnte die Antragsgegnerin eine solche Verpflichtung übernehmen, wenn - wofür hier nach den Ausführungen des Dr. W Einiges spricht - die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 Abs 1 SGB VI nicht nachgewiesen sind.

Die Anordnung einer Vollstreckungsmaßnahme ist iS von § 201 Abs 1 Satz 1 SGG auch geboten, weil die Antragsgegnerin der von ihr übernommenen Verpflichtung trotz Aufforderung nicht nachkommt.

Soweit die Antragsgegnerin sich zur Abwendung der Vollstreckung einwendend auf ihren versagenden Bescheid vom 09.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.03.2004 bezieht, kann offen bleiben, ob sie dieses Begehren im Wege der Vollstreckungsgegenklage geltend machen muss (vgl dazu LSG Rheinland-Pfalz aaO). Denn der Bescheid bezieht sich nach seinem Wortlaut nur auf die fehlende Mitwirkung am Reha-Verfahren und versagt demnach auch nur insoweit zustehenden Leistungen. Auf die im Vergleich vom 22.11.2002 außerdem zugesagten Leistungen bezieht er sich ausdrücklich nicht. Diese Leistungen sind von der Mitwirkung des Antragstellers unabhängig.

Der Senat hält in Anbetracht des bisherigen Verfahrens die Androhung des Zwangsgeldes in erfolgter Höhe für geboten. Die Antragsgegnerin ist wiederholt auf ihre Verpflichtung hingewiesen worden und hat beharrlich behauptet, eine solche gar nicht eingegangen zu sein (zuletzt mit Schreiben vom 26.03.2004). Bei dieser Sachlage ist es angebracht, sofort den im Gesetz vorgesehenen Höchstbetrag anzudrohen (und erforderlichenfalls festzusetzen).

Sollte die Antragsgegnerin ihrer Verpflichtung nicht fristgerecht nachkommen, kann das Zwangsgeld (wiederholt, § 201 Abs 1 Satz 2 SGG) festgesetzt werden, § 201 Abs 1 Satz 1 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 SGG (vgl Meyer-Ladewig. aaO § 198 Randnr 5c).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar, §§ 198 Abs 3, 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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