L 3 B 3/04 RJ

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 34 RJ 211/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 B 3/04 RJ
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 06.01.2004 abgeändert. Dem Kläger wird hinsichtlich der Wahrung der Klagefrist für die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 19.02.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.05.2003 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Gründe:

I.

Der im Tenor genannte Widerspruchsbescheid ging in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 09.05.2003 nach eigenem Vorbringen ein. Klage wurde mit Schriftsatz vom 18.07.2003, dem Sozialgericht per Fax vom 21.07.2003 übermittelt, erhoben. Gleichfalls mit Schreiben vom 18.07.2003, dem Sozialgericht per Fax am 21.07.2003 übermittelt, hat die Klägerbevollmächtigte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Klagefrist beantragt und dies damit begründet, die Klagefrist sei aufgrund des Büroversehens einer nach mehrjähriger Beschäftigung als zuverlässig bekannten ausgebildeten Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten versäumt worden. Diese habe die Wiedervorlagefrist für die Bearbeitung der Klage versehentlich auf den 09.06.2003, Pfingstmontag, notiert. Bei Kontrolle und Wiedervorlage sei diese Aufzeichnung übersehen worden, da die Kalenderblätter der Pfingsttage überblättert worden seien. Aufgefallen sei dies am Donnerstag, dem 17.07.2003 im Zusammenhang mit der Vorlage anderer Akten des Klägers. Die Fristenkontrolle sei so organisiert, dass der Tag des Fristablaufs notiert werde und zusätzlich jeweils zwei Vorfristen in den Vorwochen. An den Tagen der Vorfristen sei eine Erinnerung an den baldigen Fristablauf durch die Mitarbeiterin erfolgt; im Hinblick darauf, dass am 05.07.2003 (05.06.2003) zwei weitere Fristen ablaufen würden, sei der Prozessbevollmächtigten die Zeit bis zum Fristablauf als noch ausreichend erschienen. Am Tage des Fristablaufs selbst werde ansonsten immer durch die Mitarbeiterin auf den am gleichen Tag eintretenden Fristablauf hingewiesen und so lange erinnert, bis die Frist abgehakt worden sei. Dies sei im vorliegenden Fall nicht geschehen. Am Tag des Fristablaufs, dem 10.06.2003 sei keine Erinnerung mehr erfolgt, da die Frist an diesem Tag nicht notiert gewesen sei. Zur Glaubhaftmachung hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers Kalenderauszüge aus dem Fristenkalender ihrer Kanzlei für den 04. Juni 2003, 06. Juni 2003 und 17. Juli 2003 vorgelegt und eine eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten T N vom 18.02.2003 beigebracht, die den Vortrag bestätigt.

Mit Beschluss vom 06.01.2004 hat das Sozialgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist abgelehnt und dies damit begründet, der Kläger bzw. seine Prozessbevollmächtigte sei nicht ohne Verschulden verhindert gewesen, die gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Es sei dem Kläger nach § 63 Abs. 3 S. 2 SGG zuzurechnen, dass seine Prozessbevollmächtigte trotz des drohenden Fristablaufs vom 10.06.2003 nicht sichergestellt habe, dass die Klageschrift das zuständige Gericht rechtzeitig erreiche. Schöpfe ein Beteiligter die Frist zur Klageerhebung in vollem Umfange aus, so treffe ihn eine erhöhte Sorgfaltspflicht, der hier nicht entsprochen worden sei. Gegen den am 12.01.2004 zugestellten Beschluss richtet sich die am 12.02.2004 eingelegte Beschwerde, mit der die Annahme einer gesteigerten Sorgfaltspflicht im Hinblick auf den geringen Umfang der bei Fristablauf anstehenden Klagebegründung in Abrede gestellt wird. Ein Verschulden bei der Vorfristkontrolle liege nicht vor. Eine mehrmalige Vorkontrolle des Fristablaufes, die das Sozialgericht offensichtlich fordere, sei nach einhelliger Rechtsprechung nicht nötig. Im Tatsächlichen wird mit der Beschwerde darauf hingewiesen, dass im Jahre 2003 und insbesondere in dem Zeitraum, in dem das Fristversäumnis aufgetreten war, in der Kanzlei eine extreme Überlastungssituation bestanden habe, auf Grund derer Fristen regelmäßig erst ganz kurz vor Fristablauf, sehr häufig erst am letzten Tage des Fristablaufes gewahrt werden konnten. Dies habe darauf beruht, dass der jüngere Sohn der Prozessbevollmächtigten und ihres Sozius zum Tode erkrankt gewesen und dann am 27.07.2003 im Alter von acht Jahren auch verstorben sei. Zur Glaubhaftmachung wird eine Kopie der Sterbeurkunde beigefügt.

II.

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 24.03.2004, 75 PA) ist begründet. Dem Kläger steht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Frist für die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 19.02.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2003 nach § 67 SGG - Sozialgerichtsgesetz - zu. Die formellen Voraussetzungen sind gewahrt, denn die Nachholung der versäumten Handlung (Klageerhebung) wie auch der Wiedereinsetzungsantrag selbst liegen innerhalb der in § 67 Abs. 2 bestimmten Frist von einem Monat nach Wegfall des Hindernisses. Wegfall des Hindernisses ist dabei die bei Gelegenheit der Wiedervorlage der Akte des Klägers am 17.07.2003 gewonnene Erkenntnis, dass die Klageerhebung gegen die anzufechtenden Bescheide bislang versäumt worden war. Klage und Wiedereinsetzungsantrag gingen vier Tage nach dieser Erkenntnis (21.07.2003) und daher fristgerecht ein. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 67 Abs. 1 SGG zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten.

Der Kläger war durch das Kanzleiversehen seiner Prozessbevollmächtigten gehindert, die einen Monat nach Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2003 am 09.05.2003 mit dem 10.06.2003 ablaufende Klagefrist (§§ 87, 64 SGG) zu wahren. Hieran trifft ihn keine Verschulden. Für ein Eigenverschulden des Klägers bietet der Sachverhalt keinerlei Anhaltspunkte. Ein Fremdverschulden der mit Vollmachtsurkunde vom 18.07.2003 mandatierten Prozessbevollmächtigten, das ihm nach §§ 72, 202 SGG, 81 Abs. 2 ZPO zuzurechnen wäre, ist auch nicht feststellbar. Ein gegebenenfalls aufgetretenes Verschulden der Kanzleiangestellten Frau N, auf deren Verhalten das Sozialgericht abgestellt hat, kann ungeprüft bleiben. Eine Zurechnung des Verschuldens von Hilfspersonen, also insbesondere von Büropersonal des Anwalts ist nach geltendem Recht nicht möglich, da es im Prozessrecht an einer dem § 278 BGB entsprechenden Regelung fehlt (Meyer-Ladewig, a.a.0., Rdnr. 8b m.w.N.; Müller, Die Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, NJW 2000, S. 322 f., 327 mit Nachweisen der Rechtsprechung des BGH). Ein Eigenverschulden der Prozessbevollmächtigten der Klägerin ist nach den in sich widerspruchsfreien und mangels gegenteiliger Hinweise als glaubhaft anzusehenden Vortrag nicht feststellbar. Ein Verschulden liegt in keiner der von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Untergruppen des Auswahl-, Organisations-, Überwachungsverschuldens und auch nicht in der Form einer schuldhaften Einzelanweisung, einen Vorgang kurz vor Fristablauf vorlegen zu lassen, vor. Für ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten, die nach unwidersprochenem Vortrag und insbesondere ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 18.07.2003 erfahrene und zuverlässige Rechtsanwalts- und Notarfachangestellte N auszuwählen und mit der Warnehmung der Aufgaben auch im Falle des Klägers zu betrauen, bietet der Sachverhalt keinen Anhalte. Ebensowenig deutet sich ein Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten an, denn sie hat Frau N die Führung des Fristenkalenders sowie die Wiedervorlage der Vorgänge bei Fristablauf, als typische und der Qualität der übertragenden Arbeiten nach sicherlich delegationsfähige (zu diesem Kriterium: Meyer-Ladewig, a.a.0., Rdnr. 8b m.w.N. Tätigkeiten einer Rechtsanwalts- und Notariatsfachangestellten übertragen. Das in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten verwendete System der Fristenkontrolle mit Aufzeichnung der Fristen in der Akte selbst wie auch in einem papiergebundenen Fristenkalender bei Notierung des Fristablaufes zweimal Mittwochs in den beiden Vorwochen des Fristablaufes ist nach keinem bekannten Maßstab der Rechtsprechung zu beanstanden (Meyer-Ladewig, a.a.0., § 67 Rdnr. 8b, 8g - 8i m.j.w.N.; Müller, a.a.0., S. 327 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH). Ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten kann auch nicht darin gesehen werden, die Klage selbst bei Ablauf der Vorfristen jeweils nicht auf den Weg zu bringen und statt dessen die gesetzliche Frist in voller Länge auszuschöpfen. Die fristwahrende Erhebung einer Klage zum Sozialgericht ist nicht aufwendig, was keiner Darlegung bedarf. An einer Ausschöpfung einer gesetzlichen Frist ist niemand gehindert. Auf die üblichen Postlaufzeiten darf man sich schon dann verlassen, wenn andere Beförderungsalternativen (Eilbote, Telegramm, Telefax) zur Verfügung stehen (BSG, Urteil vom 30.09.1996, - 10 RAr 1/96 - unter Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Kammerbeschlüsse vom 29. Dezember 1994 - 2 BvR 106/93 -, NJW 1995, 1210 sowie vom 28. März 1994 - 2 BvR 814/93 -, NJW 1994, 1854). Selbst die Wiedervorlage zur Bearbeitung am Tage des Fristablaufs selber begegnet unter dem Gesichtspunkt keinen Bedenken, als die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten des Klägers wie auch sämtliche Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Nordrhein-Westfalen auf die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax eingerichtet sind. Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung uneingeschränkt zulässig (Kammerbeschluss der 2. Kammer des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 01.08.1996 - 1 BvR 989/95 - m.w.N.). Zur Überzeugung des Senats sind zudem die Darlegungen der Prozessbevollmächtigten auch nicht unzureichend im Hinblick auf die erhöhte Sorgfaltspflicht bei voller Ausschöpfung der Frist zur Klageerhebung. Denn die Anforderung an die Darlegungslasten nach den für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgeblichen Vorschriften dürfen nicht überspannt werden. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit eines Antrages verdient im Zweifel diejenige Gesetzesinterpretation den Vorzug, die dem Bürger den Zugang zu den Gerichten eröffnet (Bundesverfassungsgericht, 05.02.1963 - 2 BvR 21/60 -, BVerfGE 15, 275, 281 f.; stattgebender Kammerbeschluss vom 02. September 2002 der 3. Kammer des 1. Senates, - 1 BvR 476/01 -).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 67 Abs. 4 S. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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