S 2 KA 37/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 37/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Voltaren Emulgel.

Der Kläger ist als Arzt in L1 niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In den Quartalen 1/2014 bis 4/2014 verordnete er für zahlreiche Patientinnen und Patienten, die bei der Beigeladenen zu 1) versichert waren, das Präparat Voltaren Emulgel. Dieses enthält den Wirkstoff Diclofenac.

Unter Hinweis darauf, dass äußerlich anwendbare Schmerzgele seit dem 01.04.2009 von der Verordnung ausgeschlossen seien, stellte die Beigeladene zu 1) am 30.06.2015 einen Prüfantrag. Von der ihm eingeräumten Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen, machte der Kläger keinen Gebrauch.

Mit Bescheid vom 11.11.2015 setzte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen Nordrhein einen Regress in Höhe von 596,67 EUR netto wegen unzulässiger Verordnung von Voltaren Emulgel in den Quartalen 1/2014 bis 4/2014 fest: Gemäß Fachinformation sei das Präparat Voltaren Emulgel mit dem Wirkstoff Diclofenac angezeigt zur äußerlichen symptomatischen Behandlung von Schmerzen bei verschiedenen Indikationen (wird ausgeführt). Es handele sich somit bei Voltaren Emulgel um ein Rheumamittel (nichtsteroidales Antiphlogistikum/Antirheumatikum) zur externen Anwendung. Rheumamittel (Analgetika/Antiphlogistika/Antirheumatika) zur externen Anwendung seien gemäß Anlage III Nr. 40 der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) von der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Hierbei spiele es keine Rolle, ob das Gel im Rahmen einer Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis oder einer der übrigen zugelassenen Indikationen eingesetzt werde. Der Verordnungsausschluss umfasse ausdrücklich sowohl Antirheumatika als auch Antiphlogistika wie auch Analgetika - der Wirkstoff Diclofenac sei unzweifelhaft hierunter zu subsumieren.

Hiergegen hat der Kläger unter dem 14.11.2015 bei der Beklagten Widerspruch eingelegt: Er sei als Allgemeinmediziner mit dem Zusatz Chirurgie tätig. Da er in seiner Praxis auch orthopädisch konservativ behandele, weil die Patienten teilweise bis zu 4-6 Monate auf einen Termin warten müssten, habe er bei den von der Beklagten aufgeführten Patienten das Voltaren Emulgel unter bestimmten medizinischen Indikationen mit orthopädischen Beschwerden aufgeschrieben. Er habe dieses Medikament in jeweils verschiedenen Quartalen aufgeschrieben; bei einer Fallzahl von 1.100-1.200 Patienten pro Quartal sei festzustellen, dass es nur in Ausnahmefällen verschrieben worden sei. Er bitte, von dem Regress abzusehen.

Die Kammer hat diesen Widerspruch nach entsprechendem Hinweis an den Kläger und nach Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses als Klage gewertet.

Einen ausdrücklichen Klageantrag hat der Kläger nicht gestellt. Er beantragt nach seinem Vorbringen sinngemäß,

den Regressbescheid der Beklagten vom 11.11.2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt ihren Bescheid.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung am 10.05.2017 hat das Gericht den Kläger gebeten, Karteikartenauszüge betreffend die Patienten L2, I1; N1, S; X, I2-N2 und D, N3 zu übersenden, aus denen sich die Eintragungen des Klägers zu den jeweiligen Daten der Verordnung von Voltaren Emulgel ergeben. Es handelt sich dabei jeweils um die ersten Patienten eines jeden betroffenen Quartals. Der Kläger hat entsprechende Karteikartenauszüge zu den Akten gereicht.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Beklagten. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl für den Kläger und die Beigeladenen zur mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist, konnte die Kammer verhandeln und entscheiden, denn die Beteiligten sind - mit Hinweis auf diese Möglichkeit - ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung am 10.05.2017 geladen worden (§ 110 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)).

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG, da dieser nicht rechtswidrig ist.

Nach § 16 Abs. 1 Buchst. c) der maßgeblichen Prüfvereinbarung ab 01.01.2008 (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 62 ff.) hat die Prüfungsstelle auf Antrag der Krankenkassen u.a. zu prüfen, ob der Vertragsarzt bei Verordnungen in ungerechtfertigter Weise ( ) Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen unbeachtet gelassen bzw. unwirtschaftliche Arzneimittelanwendungen veranlasst hat. Diese Regelung beruht auf der Ermächtigung in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungen vereinbaren. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind die Prüfgremien befugt, bei Verordnungen, die die Grenzen der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht eingehalten haben, Einzelfallprüfungen vorzunehmen und einen Regress festzusetzen (BSG, Urteil vom 13.08.2014 - B 6 KA 38/13 R -). Der durch einen Verordnungsregress auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist (BSG; Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 5/09 R -). Der von der Beklagten ausgesprochene Regress ist materiell-rechtlich begründet. In den Quartalen 1/2014 bis 4/2014 verordnete der Kläger, dem im ambulanten Bereich die Therapieverantwortung obliegt, das Arzneimittel Voltaren Emulgel, obwohl hierfür keine Leistungspflicht im Rahmen der GKV bestand, so dass der Beigeladenen zu 1) ein Schaden in entsprechender Höhe entstanden ist.

Die Verordnung von Voltaren Emulgel können Versicherte (grundsätzlich) nicht beanspruchen. Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht ( ) durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind. Einen solchen Ausschluss enthält Anlage III AM-RL. Dort werden unter Nr. 40 Rheumamittel (Analgetika/ Antiphlogistika/ Antirheumatika) zur externen Anwendung aufgeführt. Nach der Fachinformation des Herstellers Novartis zu Voltaren Emulgel (Ziffer 5.1 Pharmakodynamische Eigenschaften) handelt es sich um ein nichtsteroidales Antiphlogistikum/Analgetikum mit dem ATC-Code M02AA15 (Topische Mittel gegen Gelenk- und Muskelschmerzen, nichtsteroidale Antiphlogistika zur topischen Anwendung, Diclofenac). Dieses unterfällt dem Verordnungsausschluss nach Nr. 40.

Über die Neufassung der AM-RL insbesondere im Hinblick auf Verordnungseinschränkungen und Ausschlüsse wurden alle Vertragsärzte im Bereich der Beigeladenen zu 2) durch deren Informationsorgan KVNO aktuell 4/2009, Seite 10, in der Rubrik "Arznei-, Heil- und Hilfsmittel" unterrichtet.

Allerdings kann der Vertragsarzt nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V Arzneimittel, die aufgrund der AM-RL von der Versorgung ausgeschlossen sind, ausnahmsweise "in medizinisch begründeten Einzelfällen mit Begründung" verordnen. § 16 Abs. 5 AM-RL wiederholt diese Vorgabe, ohne dies zunächst weiter präzisiert zu haben. Eine Präzisierung ist mit dem Beschluss des G-BA über eine Änderung der AM-RL vom 24.11.2016 erfolgt. Der in § 10 Abs. 1 angefügte Satz 3 bestimmt: Soweit ( ) der behandelnde Arzt ein Arzneimittel nach § 16 Abs. 5 ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnet, ist die Begründung für diese Therapieentscheidung in der Patientenakte zu dokumentieren. Gemäß § 16 Abs. 5 Satz 2 erfolgt die Begründung der Verordnung in der Patientenakte entsprechend § 10 Abs. 1 Satz 3.

Nach den "Tragenden Gründen" für den Änderungsbeschluss vom 24.11.2016 wird mit der Anfügung des Satz 3 an § 10 Abs. 1 im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG klarstellend geregelt, dass, soweit ( ) der behandelnde Arzt ein Arzneimittel nach § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V ausnahmsweise in medizinisch begründeten Einzelfällen verordnet, die Begründung für diese Therapieentscheidung in der Patientenakte zu dokumentieren ist. Aus dem Begründungserfordernis des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V resultiert für ( ) den behandelnden Arzt eine Dokumentationsobliegenheit. Zu dokumentieren sind die Umstände, aus denen der Schluss gezogen wird, dass die für den Verordnungsausschluss auf Grund der Arzneimittel-Richtlinie tragenden Erwägungen im konkreten Einzelfall nicht eingreifen. Wann eine Verordnung ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann, hängt in den Fällen des § 31 Abs. 1 Satz 4 SGB V von den Gründen des jeweiligen Ausschlusses von der Leistungspflicht ab. Zu dokumentieren sind deshalb die Umstände, die im Einzelfall eine relevante Abweichung von der dem Ausschlusstatbestand zu Grunde liegenden typischen Konstellation belegen und erkennen lassen, dass die für den Ausschluss aus der Leistungspflicht maßgebenden Gründe im Einzelfall nicht eingreifen. Die Begründung muss sich insbesondere auf die Auswahl des grundsätzlich ausgeschlossenen Arzneimittels unter den in Betracht kommenden Behandlungsalternativen erstrecken.

Unbeschadet dieser Klarstellung enthielt im streitbefangenen Zeitraum des Jahres 2014 die AM-RL hinreichende Vorgaben für die Begründung einer Verordnung grundsätzlich ausgeschlossener Arzneimitttel in "medizinisch begründeten Einzelfällen". Nach § 10 Abs. 2 Satz 2 AM-RL genügt zur Begründung im Regelfall die Angabe der Indikation und ggf. die Benennung der Ausschlusskriterien für die Anwendung wirtschaftlicher Therapiealternativen. Auch wenn § 10 AM-RL allein die "Dokumentation" der Leistung betrifft, kann für die "Argumentation" (die Begründung des Ausnahmefalls) nichts anderes gelten als für die "Dokumentation": Ein "medizinisch begründeter Einzelfall" muss nicht nur objektiv gegeben sein, sondern er muss auch dokumentiert sein. Dies verdeutlicht § 10 Abs. 1 Satz 2 AM-RL. Dort heißt es: "Soweit die Verordnung von Arzneimitteln aufgrund der jeweils genannten Ausnahmetatbestände zulässig ist, ist die Therapieentscheidung nach den Vorgaben der Übersicht nach § 16 Abs. 3 zu dokumentieren". Dem schließt sich Abs. 2 an, der Vorgaben zur Dokumentation enthält. § 10 AM-RL betrifft mithin nicht allgemeine Dokumentationspflichten des Vertragsarztes, sondern regelt speziell die Dokumentation in den hier in Rede stehenden Ausnahmefällen (BSG, Urteile vom 02.07.2014 - B 6 KA 25/13 R (Rn. 24) - und - B 6 KA 26/13 R (Rn. 25) -).

Diesen Anforderungen an die Dokumentation genügen die Angaben in den von dem Kläger übersandten Karteikartenauszügen nicht.

Im Behandlungsfall L2, I1 (VO vom 02.01.2014) findet sich - soweit maßgeblich - die Eintragung Rp. "Voltaren 100" BWS synd. Abgesehen davon, dass es sich bei "Voltaren 100" um Retard-Tabletten und nicht um das Emulgel handeln dürfte, gibt es keinerlei nähere Begründung dafür, dass es sich hier um einen Ausnahmefall gehandelt haben sollte, der die Verordnung anderer zu Lasten der GKV verordnungsfähiger Arzneimittel und damit wirtschaftliche Therapiealternativen nicht zugelassen haben sollte.

Im Behandlungsfall N1, S (Verordnung vom 02.04.2014) findet sich lediglich die Eintragung einer Diagnose (wohl: BWS-Syndrom), aber noch nicht einmal die Verordnung (Rp.) von Voltaren Emulgel.

Im Behandlungsfall X, I2-N2 (Verordnung vom 03.07.2014) verzeichnet die Karteikarte zwischen dem 05.06.2014 und dem 01.09.2014 überhaupt keine Eintragung.

Im Behandlungsfall D, N3 (Verordnung vom 29.10.2014) enthält die Karteikarte zu diesem Datum die Diagnose "Akute Lumbalgie", aber keinen Hinweis auf die Verordnung von Voltaren Emulgel.

Derartige Karteikarteneintragungen sind für die Dokumentation einer "besonderen Begründung in medizinisch begründeten Einzelfällen" gänzlich unzureichend. Es wäre vor allem zu dokumentieren gewesen, aus welchen Gründen zulässige Behandlungsalternativen im Rahmen der GKV nicht in Betracht zu ziehen gewesen sein sollten, sondern allein die Arzneimittelversorgung mit Voltaren Emulgel jeweils den gewünschten therapeutischen Effekt hätte bewirken sollen.

Auch wenn die Kammer lediglich die Karteikartenauszüge für vier Patienten und nicht für alle 58 betroffenen Fälle ausgewertet hat, durfte sie davon ausgehen, dass die aufgedeckten unzulänglichen Dokumentationen in sämtlichen streitbefangenen Fällen und Quartalen vorhanden waren, weil der Kläger ein grundsätzliches Verständnis von den Aufzeichnungen deutlich machte und alle Fälle gleichgelagert waren (vgl. LSG NRW, Urteil vom 28.09.2016 - L 11 KA 55/15 - m.w.N.).

Die streitigen Verordnungen wären daher als Privatrezept auszustellen gewesen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass aus den Grundrechten regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen folgt und die gesetzlichen Krankenkassen nicht von Verfassungs wegen gehalten sind, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (z.B. BVerfG, Beschlüsse vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 - und vom 30.06.2008 - 1 BvR 1665/07 -).

Die Regressfestsetzung erweist sich daher als rechtmäßig. Dies gilt auch hinsichtlich ihrer Höhe, die nur die Netto-Kosten erfasst.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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