L 11 AL 278/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AL 683/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AL 278/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.06.2002 sowie die Bescheide vom 27.03.2001 und 05.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.07.2001 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufhebung einer Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) sowie Erstattung der vom 01.01.2001 bis 26.03.2001 bezogenen Leistungen in Höhe von 6.913,90 DM wegen unterlassener Berücksichtigung von Nebeneinkommen aus selbstständiger Tätigkeit.

Die 1959 geborene Klägerin war vom 01.10.1995 bis 31.12.2000 als Geschäftsführerin bei der V. gGmbH i.G. (M.) versicherungspflichtig mit einem monatlichen beitragspflichtigen Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von ca. 7.000,00 DM beschäftigt. Nach Freistellung von der Arbeit ab 01.08.2000 (außergerichtlicher Vergleich vom 25.07.2000) übte sie nach ihren Angaben seit 15.09.2000 eine selbstständige Tätigkeit bei der Stadtmission N. (freiberufliche Organisationsberatung) von wöchentlich 10 Stunden aus. Daraus erzielte sie entsprechend ihren Angaben vom 11.12.2000 ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 4.000,00 DM. Ab 01.05.2001 überstieg diese Tätigkeit die 15-Stunden-Grenze (Veränderungsanzeige vom 26.04.2001).

Am 11.12.2000 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten mit Wirkung zum 01.01.2001 arbeitslos und beantragte Alg. Mit Bescheid vom 28.02.2001 bewilligte die Beklagte ab 01.01.2001 Alg nach einem wöchtentlichen Bemessungsentgelt in Höhe von 1.580,00 DM (Leistungssatz 569,38 DM, Leistungsgruppe A, Kindermerkmal 1) ohne Anrechnung des Nebeneinkommens aus selbstständiger Tätigkeit. In einem Schreiben vom 22.02.2001 forderte die Beklagte die Klägerin unter Hinweis auf das laufend erzielte Nebeneinkommen auf, eine Gewinn- und Verlustrechnung für die Zeit vom 01.01.2001 bis 28.02.2001 zu übersenden (Fristsetzung 19.03.2001). Ab 27.03.2001 stellte die Beklagte die Zahlungen ein. Nach den am 30.03.2001 bei der Beklagten eingegangenen Einnahmen-Überschuss-Rechnungen für Januar 2001/Februar 2001 ergaben sich Gewinne von 4.584,82 DM/ 4.840,42 DM.

Mit Schreiben vom 03.04.2001 gab die Beklagte der Klägerin Gelegenheit, sich zur beabsichtigten Rückforderung des in der Zeit vom 01.01.2001 bis 28.02.2001 ohne Berücksichtigung des Nebeneinkommens gewährten Algs in Höhe von 4.799,06 DM zu äußern. Hiervon machte die Klägerin am 10.04.2001 Gebrauch - Art und Höhe der Einkünfte habe sie bereits bei Antragstellung angegeben; weshalb sie die Leistungen zu Unrecht bezogen haben solle, erschließe sich ihr nicht - und legte gleichzeitig gegen die Zahlungseinstellung vom 27.03.2001 Widerspruch ein. Die gesetzte Frist (19.03.2001) habe sie nicht einhalten können, da die Beklagte das Schreiben vom 22.02.2001 nicht an sie, sondern an eine andere Leistungsempfängerin gesandt habe und sie auf Grund der mündlichen Belehrung anlässlich ihrer Antragstellung mit einer quartalsweise vorzulegenden Einnahme-Überschussrechnung gerechnet habe. Die Berechnung für März 2001 legte sie bei (Gewinn 4.940,92 DM).

Mit Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 05.07.2001 hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 01.01.2001 bis 26.03.2001 gemäß § 45 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X) auf und forderte Erstattung eines Betrages von 6.913,90 DM. Das erzielte Nebeneinkommen habe angerechnet werden müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.07.2001 wies die Beklagte den Widerspruch gegen die Zahlungseinstellung vom 27.03.2001 und gegen den Bescheid vom 05.07.2001 - diesen bezeichnete sie als zum Gegenstand des Verfahrens geworden - zurück. Es hätte sich der Klägerin aufdrängen müssen, dass sie angesichts der Höhe des Nebeneinkommens keinen Leistungsanspruch habe.

Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 05.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.07.2001 aufzuheben. Für die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit gebe es keine Rechtsgrundlage, auch nicht für die Rückforderung des überzahlten Betrages.

Mit Urteil vom 11.06.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Klägerin sei infolge grober Fahrlässigkeit nicht bewusst geworden, dass ihr Anspruch auf Alg wegen Anrechnung der erzielten Einkünfte entfallen sei. Die fehlende Berechtigung zum Leistungsbezug hätte ihr unmittelbar einleuchten müssen, denn Einkünfte, die nahezu den doppelten Satz der Anspruchshöhe erreichten, führten zur Versagung der Leistungen. Die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X seien gegeben.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt. Die Beklagte habe die Zahlungseinstellung vom 27.03.2001 nicht begründet, so dass bereits insoweit Rechtswidrigkeit vorliege. Ferner seien der Beklagten bei Erlass des Bewilligungsbescheides alle Tatsachen bekannt gewesen. Sie - die Klägerin - habe wahrheitsgemäße Angaben gemacht. Ein grob fahrlässiges Handeln sei nicht erkennbar. Intime Kenntnisse des Arbeitsförderungsrecht habe sie nicht und könnten von ihr auch nicht verlangt werden.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.06.2002 sowie die Bescheide vom 27.03.2001 und 05.07.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.07.2001 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und begründet. Zu Unrecht hat das SG die Klage abgewiesen, denn die Beklagte durfte die Leistungsbewilligung nicht zurücknehmen und das ab 01.01.2001 gezahlte Alg von der Klägerin zurückfordern.

Grundlage der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit ist § 45 Abs 2 und 4 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X). Der Bewilligungsbescheid vom 28.02.2001 war rechtswidrig, weil der Klägerin infolge des hohen Nebeneinkommens aus selbstständiger Tätigkeit Alg nicht in der bewilligten Höhe zustand. Nach § 141 Abs 1 Sozialgesetzbuch Arbeitsförderung (SGB III) ist nämlich Arbeitseinkommen aus einer selbstständigen Tätigkeit grundsätzlich anzurechnen.

§ 45 Abs 4 Satz 1 SGB X eröffnet die Rücknahme von begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von den dort genannten Tatbeständen kommt lediglich die Nr 3 in Betracht. Danach kann der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht vertrauen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes wenigstens infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 2.HS SGB X nur gegeben, wenn die Klägerin als Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.

Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSG SozR 4100 § 71 Nr 2). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten, sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (BSG SozR 5870 § 13 Nr 2). Bezugspunkt für das grob fahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grob fahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45).

Dem Bewilligungsbescheid vom 28.02.2001 selbst ist nicht zu entnehmen ob und ggf. in welcher Höhe die Beklagte das Nebeneinkommen angerechnet hat. Das im Bescheid angegebene wöchentliche Bemessungsentgelt (1.580,00 DM) entspricht dem zuletzt erzielten Einkommen aus abhängiger Beschäftigung (ca. 7.000,00 DM/Monat), ebenso treffen die übrigen Berechnungsgrundlagen zu. Nach der Rechtsprechung des BSG (aaO) ist ein Leistungsempfänger, der wahrheitsgemäße Angaben gemacht hat, nicht gehalten, zu Gunsten der Beklagten den Bewilligungsbescheid des näheren auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Es ist nämlich grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Fachbehörde die wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45; BVerwGE 92, 81, 84; BSG SozR 4100 § 145 Nr 4). Dies gilt auch, soweit der Antragsteller durch das Merkblatt für Arbeitslose über die Anrechnung von Nebeneinkommen aufgeklärt wurde (vgl. hierzu Merkblatt Stand 4/00 Seite 40), denn dem Begünstigten darf durch das Merkblatt nicht das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen durch eine Fachbehörde aufgebürdet werden.

Im vorliegenden Fall waren die Angaben der Klägerin vom 11.02.2000 über ihr Entgelt aus selbstständiger Tätigkeit ("DM 4.000,00 brutto") unzutreffend. Tatsächlich hatte sie im Jahr 2000 - wie sich später herausstellte - etwas mehr verdient. Diese unzutreffenden Angaben - evtl. war die Klägerin am 11.12.2000 zu genaueren Angaben noch nicht in der Lage - waren aber für die fehlerhafte Entscheidung der Beklagten nicht kausal (BSG SozR 4100 § 152 Nr 6). Die Beklagte hat nämlich Nebeneinkommen überhaupt nicht angerechnet, obwohl eine Anrechnung anhand der vorhandenen Angaben grundsätzlich möglich gewesen wäre. Deshalb scheidet § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X als Rechtsgrundlage aus.

Vorliegend ist zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit der Klägerin neben dem Bewilligungsbescheid vom 28.02.2001 zusätzlich das Schreiben der Beklagten vom 22.02.2001, das die Klägerin bereits vor dem Eingang des Bewilligungsbescheides - mindestens jedoch zeitgleich mit diesem - erhalten haben dürfte, heranzuziehen. Ob dieses Schreiben den Zweck hatte, den Bewilligungsbescheid zu erläutern und darauf hinzuweisen, dass die Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit lediglich vorläufig nicht berücksichtigt würden, kann dahinstehen, denn das Schreiben bringt einen derartigen Inhalt nicht zum Ausdruck.

Der Klägerin kann grobe Fahrlässigkeit aber nur vorgeworfen werden, wenn ihr der Fehler bei ihren subjektiven Erkenntnismöglichkeiten oder aus anderen Gründen geradezu "in die Augen sprang" (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Davon kann auszugehen sein, wenn das Alg offensichtlich außer Verhältnis zu dem zugrunde liegenden Arbeitsentgelt stand. Dies war jedoch nicht der Fall.

Da mithin weder aus dem Bewilligungsbescheid selbst noch aus dem Begleitschreiben vom 22.02.2001 der Fehler ersichtlich war, konnte ihn die Klägerin auch nicht erkennen. Es kann ihr daher insoweit nicht wenigstens grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bewilligungsbescheides vom 28.02.2001 sowie der Zahlungseinstellung (Bescheid vom 27.03.2001) lagen somit nicht vor.

Das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 11.06.2002 sowie die angefochtenen Bescheide waren daher aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Berufung gemäß § 160 SGG Abs 2 Nrn 1 und 2 zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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