L 8 RJ 109/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 5 RJ 21/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 RJ 109/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.07.2001 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 10.11.2003 wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob der Kläger zu Nachentrichtung von Beiträgen nach dem Zusatzabkommen zum Deutsch-Israelischen Sozialversicherungsabkommen (ZA-DISVA, BGBl. 1996, Teil II, S. 248) zuzulassen ist und Anspruch auf Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von in Polen zurückgelegten Fremdbeitragszeiten hat. Insbesondere ist streitig, ob der Kläger früher dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) zugehört hat.

Der am 00.00.1920 in Krakau/Polen geborene Kläger ist Jude. Er ist als Verfolgter i.S.d. § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Nach der Befreiung aus nationalsozialistischer Verfolgung hielt er sich von 1945 bis 1949 im DP-Lager Bergen-Belsen in Deutschland auf. 1949 wanderte er in Israel ein, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.

Der Kläger beantragte am 09.08.1995 die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach dem ZA-DISVA und die Gewährung von Altersrente aus der deutschen Rentenversicherung. Er gab an, von 1927 bis 1933 in Krakau die Volksschule besucht zu haben. Anschließend sei er bis 1934 als Arbeiter in einer Krakauer Sodafabrik C beschäftigt gewesen. Von 1934 bis 1936 habe er bei U in Krakau eine Ausbildung zum Nähmaschinenmechaniker absolviert und sei dort anschließend bei einer Fa. M I1 bis zum Beginn der Verfolgung 1939 versicherungspflichtig in diesem Beruf beschäftigt gewesen.

Er gab ferner an, dem dSK angehört zu haben. In einem Fragebogen vom 03.07.1996 führte er aus, in seiner Heimat die deutsche und die polnische Sprache in Wort und Schrift beherrscht zu haben. Ab 1933 habe er bis zum Verlassen des Herkunftsgebietes Deutsch/Polnisch gesprochen (zuvor Deutsch). In der Familie sei überwiegend Deutsch/Polnisch gesprochen worden. Auch im Berufsleben habe er überwiegend die deutsche und die polnische Sprache benutzt. Der Vater A Q sei in Bendzin geboren worden und habe Deutsch und Polnisch gesprochen, die Mutter D, deren Geburtsname unbekannt sei, sei in Krakau geboren worden und habe Deutsch und etwas Polnisch gesprochen.

Die Beklagte veranlasste eine Sprachprüfung vor dem Israelischen Finanzministerium vom 25.07.1996. Dem Prüfungsprotokoll vom 18.08.1996 ist zu entnehmen, der Kläger habe nach seinen Angaben umgangssprachlich im Elternhaus und im persönlichen Lebensbereich mit der Mutter Deutsch gesprochen. Der Vater habe Deutsch und Polnisch, die Mutter Deutsch und wenig Polnisch gesprochen. Der Kläger sei der jüngste von ursprünglich drei Brüdern, die untereinander Deutsch und Polnisch gesprochen hätten. Der Kläger spreche ungezwungen und fließend Deutsch, schreibe es nicht und lese es ziemlich fließend mit Verständnis. Die Prüferin beurteilte zusammenfassend, der Kläger habe nie Deutsch schreiben gelernt, spreche es nach 47 Jahren in fremdsprachiger Umgebung noch heute ungezwungen fließend als Muttersprache. Nach ihrer Auffassung habe er im Zeitpunkt der Verfolgung dem dSK angehört.

Die Beklagte zog eine Auskunft der Heimatauskunftsstelle beim Landesausgleichsamt Niedersachsen (HAST) über die Bevölkerungsstruktur in Krakau bei. Danach lebte in Krakau nur eine verschwindend kleine deutsche Minderheit, jedoch eine starke, volksbewusste jüdische Gruppe mit eigenen jüdischen Schulen und Vereinigungen. Bei der Volkszählung am 30.09.1921 hätten sich von 183.706 Einwohnern u.a. 154.873 zum polnischen, 27.056 zum jüdischen und 435 zum deutschen Volkstum bekannt. Bei der letzten polnischen Volkszählung am 09.12.1931 hätten von 219.286 Einwohnern u.a. 171.206 Polnisch, 45.828 Jiddisch bzw. Hebräisch und 740 Deutsch als Muttersprache angegeben. Krakau habe in einem Gebiet gelegen, in dem der überwiegende Teil der Israeliten Jiddisch, ein Teil auch Polnisch gesprochen habe. So hätten 1931 von den damals in Krakau gezählten 56.515 Bekenntnisjuden u.a. 45.803 Jiddisch bzw. Hebräisch, 10.517 Polnisch und 115 Deutsch als Muttersprache genannt. In diesen 115 Personen seien noch diejenigen enthalten, die nicht aus Polen gestammt hätten, sondern als Vertreter österreichischer und deutscher Firmen oder aus sonstigen Gründen vorübergehend ihren Wohnsitz in Krakau gehabt hätten.

Der Kläger gab auf weitere Nachfrage zum beruflichen Werdegang in einem Schriftsatz vom 04.07.1997 an, er habe von 1933 bis 1934 als Lehrling in der Sodawasserfabrik C in Krakau und von 1934 bis 1939 als Monteur für Nähmaschinen und Fahrräder bei der Fa. M & I1 gearbeitet.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte des Klägers bei und nahm daraus Kopien zu ihrer Akte.

Mit Bescheid vom 31.07.1997 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers auf Zulassung zur Nachentrichtung und auf Rente ab. Die Wartezeit sei nicht erfüllt. Fremdbeitragszeiten seien nicht anrechenbar, weil der Kläger die Voraussetzungen des § 17a Fremdrentengesetz (FRG) nicht erfülle. Seine Zugehörigkeit zum dSK sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Der Kläger habe nie Deutsch zu schreiben gelernt. Hieraus wie aus seinen Angaben müsse gefolgert werden, dass er dem Polnischen im persönlichen Lebensbereich eine größere Bedeutung beigemessen habe als der deutschen Sprache und Kultur. Dies decke sich mit den Angaben der HAST über das Volkszählungsergebnis im September 1931. Wegen widersprüchlicher Angaben im Entschädigungsverfahren einerseits und dem jetzigen Rentenverfahren andererseits seien die vom Kläger angegebenen Fremdbeitragszeiten ebenfalls nicht glaubhaft gemacht.

Der Kläger legte unter Hinweis auf das Ergebnis der Sprachprüfung Widerspruch ein mit der Begründung, das Nichtbeherrschen der deutschen Schriftsprache sei unbeachtlich. Die überwiegende Umgangssprache im Elternhaus sei Deutsch gewesen. Dort sei auch Deutsch gelesen worden. Die Angaben der HAST hätten für den Einzelfall keine Beweiskraft. Im Arbeitsleben habe er mit volksdeutschen Kollegen und der Arbeitsleitung Deutsch gesprochen.

Der Kläger legte zwei schriftliche Zeugenerklärungen vom 03.11.1997 vor.

Der Zeuge I (I) führt darin u.a. aus, er habe in Krakau in der Nachbarschaft des Klägers gelebt und sei mit ihm befreundet gewesen. Er sei oft in das Haus der Familie des Klägers gekommen und habe gewusst, dass dessen Vater gestorben sei, als der Kläger fünf Jahre alt gewesen sei. Der Kläger habe nach Abschluss der Volksschule von 1933 bis 1934 in der Sodafabrik C gearbeitet und 1934 bei U seine Ausbildung zum Nähmaschinentechniker begonnen. Er wisse, dass der Kläger 1936 als Nähmaschinentechniker bei der Firma M I1 zu arbeiten begonnen habe, bis der Krieg ausgebrochen sei.

Der Zeuge G führt u.a. aus, er sei 1934 nach Krakau übergesiedelt, habe sich mit dem Kläger angefreundet und wisse, dass dieser im selben Jahr eine Ausbildung zum Nähmaschinentechniker bei U begonnen habe. Nach zwei Jahren habe er 1936 bei der Firma M I1 als Techniker für Nähmaschinen und Fahrräder zu arbeiten begonnen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.12.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Widerspruchsverfahren sei die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Das Beherrschen des Deutschen wie eine Muttersprache umfasse nicht nur das Sprechen und Lesen, sondern auch das Schreiben.

Hiergegen hat der Kläger am 21.01.1998 Klage erhoben und vorgetragen, seine Zugehörigkeit zum dSK sei hinreichend glaubhaft gemacht. Die Beklagte habe sich bei seiner persönlichen Vorsprache im Jahre 1998 von seinem Sprachvermögen überzeugen können. Er legt ein Gutachten des Jiddistikers Prof. Dr. S vom 02.10.1998 aus einem anderen Verfahren vor, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird. Die Beherrschung der Schriftsprache sein kein objektives Mindestkriterium für die Zugehörigkeit zum dSK. Er habe eine polnische Schule besucht; einen Privatlehrer für Deutsch habe sich seine Mutter nach dem frühen Tod des Vaters im Jahre 1926 nicht leisten können.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.07.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18.12.1997 zu verurteilen, dem Kläger Altersrente zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat weiterhin weder die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK noch die von ihm behaupteten Beitragszeiten für glaubhaft gemacht gehalten.

Das Sozialgericht hat den Zeugen I (I) im Wege der Rechtshilfe durch das Amtsgericht Tel Aviv vernehmen lassen. Wegen des Ergebnisses wird auf das Vernehmungsprotokoll vom 01.05.2000 Bezug genommen. Der Zeuge G konnte in Israel nicht vernommen werden, weil sein Aufenthaltsort laut Auskunft des Gerichts nicht zu ermitteln gewesen ist.

Das Gericht hat eine Auskunft des Internationalen Suchdienstes Arolsen (ITS) vom 16.02.2000 eingeholt. Danach ist in der dort vorliegenden Originalunterlage des Konzentrationslagers vermerkt: "Sprache: poln.". Auf der Original-DP2-Karte sei vermerkt: "Languages Spoken in Order of Fluency: pol., zyd." (Zydowski = Jüdisch). Der Kläger hat hierzu weiter vorgetragen, Angaben zum Sprachgebrauch nach dem Kriege seien durch die Erlebnisse der Verfolgung geprägt gewesen, so dass die deutsche Muttersprache verschwiegen worden sei.

Mit Urteil vom 11.07.2001 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das am 03.08.2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31.08.2001 Berufung eingelegt. Er trägt vor, er sei eindeutig zur Zeit der Verfolgung dem dSK zuzurechnen gewesen. Zu diesem Ergebnis sei auch der Sprachprüfer in Israel gekommen. Dass er nie Deutsch zu schreiben erlernt habe, sei ihm nicht negativ anzulasten. Nicht jeder Verfolgte habe unter den damaligen Umständen eine gute Schulbildung genossen, weil die Eltern oft aus finanziellen Gründen zu einer entsprechenden Förderung nicht in der Lage gewesen seien. Er habe mit 13 Jahren die Volksschule beendet und sei gleich darauf als Arbeiter in der Sodafabrik angefangen. Er habe sich im November 1998 in Deutschland aufgehalten und dabei auch eine Dienststelle der Beklagten besucht. Deren Sachbearbeiter hätten sich von seinem noch heute fließenden und perfekten Deutsch überzeugen können. Die geltend gemachten Arbeitszeiten würden durch die Zeugenangaben belegt, insbesondere durch die Angaben des Zeugen I.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11.07.2001 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.12.1997 zu verurteilen, den Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen nach dem ZA-DISVA zuzulassen und ihm Altersrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Auf Anfrage des Senats hat der Kläger eine schriftliche Erklärung vom 23.12.2001 vorgelegt. Danach ist seine Mutter in Krakau, sein Vater in Bendzin (Oberschlesien) geboren worden. Sein Vater habe, da er Polnisch nur mangelhaft beherrscht habe, meist die deutsche Sprache benutzt. Gegenüber fremden Leuten oder Schulkollegen habe er aber auch Polnisch gesprochen. Deutsch sei für ihn geläufiger gewesen, und er habe es auch den Kindern gründlich beibringen wollen. Er sei 1926 gestorben. Da die Mutter kränklich und bettlägerig gewesen sei, habe ein Bruder des Vaters die Familie unterstützen müssen. Deshalb habe die Mutter auch nicht die Möglichkeit gehabt, Privatlehrer anzustellen, um den Kindern Deutsch auch schriftlich beizubringen. Er sei in sehr armen Verhältnissen groß geworden, wo es oft an elementarsten Dingen gefehlt habe. Die Volksschule habe er mit 13 Jahren beendet und von 1933 bis 1934 in der Sodawasserfabrik C in Krakau gearbeitet. 1934 habe er eine Ausbildung für Nähmaschinentechnik bei Tanischevski in Krakau begonnen, die bis 1936 gedauert habe. Dann habe er als Nähmaschinen- und Fahrradtechniker bei dem Volksdeutschen M I1 zu arbeiten begonnen. Er habe guten Lohn erhalten, und es seien für ihn Sozialabgaben entrichtet worden. Er könne heute auch nicht Polnisch schreiben, obwohl er eine polnische Schule besucht habe; die schlechte wirtschaftliche Lage daheim habe so hart auf sein Denken und Tun gewirkt, dass er in der Schule nicht aufmerksam und auch kein guter Schüler gewesen sei. Der Hunger habe ihn geplagt, und das Einzige, was ihn beschäftigt habe, sei gewesen, ob er zuhause etwas zum Essen bekommen werde. Seine Kollegen, die seine Lage gekannt hätten, hätten oft mit ihm das mitgebrachte Butterbrot geteilt. Bei der Besetzung Krakaus durch die Deutschen 1939 habe er seine Arbeit bei I1 aufgeben müssen. Infolge des deutschen Einmarsches sei Ende 1939 ein deutscher Fabrikant namens Oskar Schindler nach Krakau gekommen und habe zwei vormals jüdische Betriebe zur Fabrikation und En-Gros-Vertrieb emaillierter Haushaltsware übernommen. Einen dieser Betriebe habe er als Treuhänder der deutschen Besatzungsregierung verwaltet. Nach Errichtung des Ghettos habe er - der Kläger - mit Anweisung des Judenrates eine Beschäftigung in diesem Betrieb erhalten. Er habe Emailletöpfe gestanzt und sich dabei einen Finger der linken Hand verletzt, der bis heute verkrüppelt geblieben sei. Er habe täglich acht bis zehn Stunden gearbeitet, nach Bedarf auch länger, und habe als Entgelt Ghettogeld (Zloty) erhalten, wofür er Lebensmittel für sein kranke und hilflose Mutter habe kaufen können. Er habe auch eine Arbeitsbewilligung erhalten, die ihn vor sofortiger Deportation ins KZ geschützt habe. Am 13.03.1943 sei er ins Zwangsarbeitslager Plaschow deportiert worden, wo er im Barackenbau gearbeitet habe. Von Plaschow sei er nach Mauthausen und von dort nach Gusen überführt worden, wo er am 08.05.1945 befreit worden sei. Von Gusen sei er nach Linz gekommen und von dort nach Bergen-Belsen, wo er bis 1949 geblieben sei. Da er mit 36 kg Körpergewicht krank und pflegebedürftig gewesen sei, sei er im Krankenhaus interniert gewesen. 1949 sei er nach Israel eingewandert. Später ergänzte der Kläger mit Schriftsatz vom 21.02.2002 seine Angaben. Seine Ehefrau und seine Geschwister seien verstorben. Die Zeugen I und G stammten wie er aus Krakau, hätten in der Nachbarschaft gewohnt und seien befreundet gewesen. Krakau habe bis 1918 zum österreichisch regierten Galizien gehört. Seine Mutter habe aus Krakau gestammt. Die jüdische Bevölkerung dort habe fast nur Deutsch gesprochen. In Bendzin, dem Herkunftsort des Vaters, sei auch ausschließlich Deutsch gesprochen worden. Beide Eltern hätten den Kindern die deutsche Muttersprache vermittelt. Mit Freunden und Bekannten der Eltern, die in der k.u.k. Monarchie aufgewachsen seien und deutsche Schulen besucht gehabt hätten, habe er nur Deutsch gesprochen. In der Schule hätten sie als Kinder die polnische Sprache sprechen müssen und Deutsch lediglich als Fach gehabt. Sie seien deshalb zuhause mit Deutsch und in der Schule mit Polnisch aufgewachsen. Er habe jedoch viel Gelegenheit gehabt, im Fahrradgeschäft mit Volksdeutschen zu sprechen.

Auf Anfrage des Senats nach Anschriften ggf. noch lebender Zeugen in Israel teilte die Deutsche Botschaft Tel Aviv u.a. mit, der Bruder N K des Klägers sei verstorben, ein Bruder T habe nicht ermittelt werden können. Der Bruder I lebe jedoch in Ramat Gan. Der Kläger teilte ergänzend mit, er habe nie einen Bruder T gehabt; ein weiterer Bruder Israel sei 1998 verstorben.

Der Senat hat an das zuständige Gericht in Israel ein Rechtshilfeersuchen gerichtet auf Vernehmung des Klägers sowie der nach Auskunft der Deutschen Botschaft Tel Aviv noch lebenden Zeugen T B, Q Q1, E C T, I Q (Bruder) und B G. Wegen des Ergebnisses wird auf das Vernehmungsprotokoll Bezug genommen.

Der Senat hat die deutsche Botschaft in Tel Aviv gebeten, mit dem Kläger eine Sprachprüfung durchzuführen und diese auf Tonband aufzunehmen. Der Kläger solle dabei insbesondere seinen genauen beruflichen Werdegang bis zur Verfolgung schildern und über seine Kindheit und Jugend erzählen, insbesondere auch, in welchen Sprachen er sich zuhause, im Bekannten- und Freundeskreis unterhalten habe. Es solle auch gezielt nach einem jiddischen Sprachgebrauch gefragt werden. Die Sprachprüfung wurde am 09.09.2002 durchgeführt. Die Botschaft hat hierzu mitgeteilt, der altersgebrechliche Kläger spreche fließend Deutsch. Seine Ausführungen zum Sprachgebrauch im Elternhaus seien glaubhaft. Er habe erläutert, mit seinen Eltern Deutsch gesprochen zu haben. Erst später habe er in der Schule Polnisch erlernt. Zu Jiddisch-Kenntnissen habe er sich von sich aus nicht geäußert. Auf gezielte Frage habe er glaubhaft versichert, solche Kenntnisse nicht zu besitzen. Auch seine Eltern hätten nicht Jiddisch gesprochen. Noch heute lese er regelmäßig deutschsprachige Zeitungen, welche in Israel erschienen.

Hebräisch könne er nicht lesen. Kleinere Schwächen während der Leseprobe hätten auf der altersbedingt nachlassenden Sehkraft beruht. Auf eine Schriftprobe sei verzichtet worden. Der Kläger habe enorme Schreibschwierigkeiten, weil sein rechter Arm krankheitsbedingt zittere. Das zeige sich bereits am vor der Prüfung ausgefüllten Fragebogen. Die dort auftauchenden Schreibfehler (z.B.: "ka mich nich erine/nich mir bakan") dürften darauf zurückzuführen sein, dass der Kläger in der Schule Polnisch, nicht Deutsch gelernt habe. Nach dem Gesamteindruck des Gesprächs von ca. 45 Minuten habe man keinen Zweifel daran, dass der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt dem dSK angehört habe. Eine Tonbandaufzeichnung befindet sich bei der Gerichtsakte.

Der Senat hat mit Beschluss vom 14.04.2003 wegen eines Antrags des Klägers nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) das Ruhen des Verfahrens angeordnet, bis über diesen Antrag entschieden sei. Mit Bescheid vom 10.11.2003 lehnte die Beklagte eine Rente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG ab. Es sei nicht glaubhaft gemacht, dass eine entgeltliche Beschäftigung in einem Ghetto ausgeübt worden sei. Nach seinen jetzigen Angaben wolle der Kläger von 1940 bis zum 08.03.1943 im Ghetto Krakau im Betrieb von Oskar Schindler mit dem Stanzen von Emailletöpfen beschäftigt gewesen sein. Im Entschädigungsverfahren habe er jedoch angegeben, von März 1941 bis Dezember 1942 im Ghetto Krakau Zwangsarbeiten auf dem Flugplatz Rakowice verrichtet zu haben, wohin er täglich geführt worden sei. Im Dezember 1942 habe er ganz nach dem Flugplatz ziehen müssen, wo er im Lager "Landwirtschaft" gewohnt und anfangs als Gärtner, später als Kutscher eines Kohlewagens gearbeitet habe. Im Übrigen sei das Ghetto Krakau erst am 21.03.1941 eröffnet worden.

Der Kläger trägt hierzu vor, es sei nahezu skandalös, auf welche Art und Weise seine Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen werde. Wenn im Ghetto ein indirekter, massiver und unmenschlicher Druck zur Aufnahme einer Tätigkeit bestanden habe, werde aus einem Arbeitsverhältnis noch keine Zwangsarbeit. Es sei geschichtswissenschaftlich festgestellt, dass alle Arbeitskräfte bei Schindler entlohnt worden seien und keine Zwangsarbeit vorgelegen habe. Das Buch "Schindlers Liste" werde der Beklagten zur Lektüre empfohlen. Die Zahlung eines Entgelts sei auch im Interesse der NS-Machthaber gewesen; denn die jüdische Bevölkerung sei bereits 1939/40 größtenteils arbeits- und mittellos und deshalb auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen gewesen. Wenn er im Entschädigungsverfahren angegeben habe, Zwangsarbeit am Flugplatz Rakovice verrichtet zu haben, so sei das richtig. Denn zu Anfang der Besetzung seien alle jüdischen Jugendlichen zu verschiedenen Zwangsarbeiten herangezogen worden.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten (Verwaltungsakte der Beklagten sowie Entschädigungsakten des Klägers vom Niedersächsischen Landesamt für Bezüge und Versorgung) Bezug genommen. Der Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl für den Kläger in der mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist. Die Bevollmächtigten des Klägers sind in der Terminsmitteilung auf diese nach §§ 110 Abs. 1, 124 Abs. 1 und 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) mögliche Verfahrensweise hingewiesen worden.

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 31.07.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.12.1997 verletzen den Kläger nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten. Gleiches gilt für den nach § 96 SGG (analog) zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheid vom 10.11.2003.

1. Hinsichtlich der nicht durch das ZRBG erfassten, vom Kläger geltend gemachten Fremdbeitragszeiten vor dem Kriege nimmt der Senat zunächst nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug auf die zutreffende Entscheidung des Sozialgerichts. Insbesondere ist eine Zugehörigkeit des Klägers zum dSK zum maßgeblichen Zeitpunkt weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht.

Zwar sieht der Senat durchaus, dass der Kläger heute noch in der Lage ist, ein fließendes Deutsch zu sprechen. Dies hat zuletzt die während des Berufungsverfahrens bei der Deutschen Botschaft in Tel Aviv durchgeführte Sprachprüfung noch einmal bestätigt. Ebenso wie das Sozialgericht geht der Senat deshalb davon aus, dass der Kläger mehrsprachig aufgewachsen ist. Gleichwohl sieht der Senat einen überwiegenden Gebrauch des Deutschen im Sinne einer Muttersprache durch den Kläger nicht als glaubhaft gemacht an. Zu viele Umstände lassen an einem solchen Gebrauch Zweifel in einem Umfang bestehen, dass eine mindestens einer Glaubhaftmachung entsprechende Überzeugungsbildung des Senats nicht möglich war.

Denn zum einen hat der Kläger nach dem Krieg etwa fünf Jahre in Deutschland im DP-Lager Bergen-Belsen gelebt. Deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass er in dieser Zeit bereits vorhandene Deutschkenntnisse so verbessert hat, dass ein fließender Sprachgebrauch (erst) möglich wurde.

Diese Möglichkeit fügt sich ein in die Sprachverhältnisse, die ausweislich der Auskunft der HAST in der Heimat des Klägers herrschten. Diese Auskunft spricht gegen einen nennenswerten deutschsprachigen Anteil der jüdischen Bevölkerung Krakaus, dafür jedoch für einen hohen Anteil jiddischsprachiger Juden. War aber der Kläger danach mit einiger Wahrscheinlichkeit (auch) jiddischsprachig, ist ihm wegen naher Verwandschaft dieser Sprache mit dem Deutschen das Erlernen des Deutschen als Nicht-Muttersprache mit ebenfalls einiger Wahrscheinlichkeit so leicht gefallen, dass er es bis zu der heute noch vorhandenen fließenden Beherrschung gebracht hat. Soweit er unter Hinweis auf das von ihm vorgelegte Gutachten des Jiddistikers Prof. Dr. S auf eine antijüdische Tendenz damaliger (von der HAST ausgewerteter) Volksbefragungen verweist und damit die Angaben der HAST als unverwertbar verstanden wissen möchte, ist dies nicht schlüssig. Denn mag man auch - S folgend - wegen ungenauer Fragestellung (nach polnischer, deutscher und jüdischer Volkszugehörigkeit statt etwa nach christlicher und jüdischer; vgl. näher S. 3 des Gutachtens) die Verwertbarkeit der Angaben in den damaligen Volksbefragungen hinsichtlich des Bekenntnisses zu einem bestimmten Volkstum in Frage stellen können, so ist dies hinsichtlich der Angaben zur Benutzung einer polnischen, deutschen, jiddischen oder anderen Muttersprache jedenfalls nicht erkennbar. Es wird aus dem Gutachten S nicht deutlich, weshalb bei Bekenntnis zum jüdischen Volkstum nicht gleichzeitig wahrheitsgemäß eine deutsche (statt einer jiddischen) Muttersprache hätte angegeben werden können. Dass dies trotz eines zigtausendfachen Bekenntnisses zum Judentum nur in verschwindend geringer Anzahl geschehen ist, Bekenntnisjuden gleichwohl in hoher Anzahl statt der Angabe des (die Mehrheit bildenden) Jiddischen das Polnische als Muttersprache benannt haben, zeigt, dass Angaben zur Muttersprache in keinem Zusammenhang gestanden haben mit der Angabe zum religiösen oder volkstumsbezogenen Bekenntnis.

Hierin fügt sich ein, dass der Kläger für die Eintragung auf der DP2-Karte nach dem Krieg neben dem Polnischen auch das Jiddische als von ihm beherrschte Sprache angegeben hat. Wenn er insoweit vorträgt, er habe nach dem Durchleiden der Verfolgung das Deutsche als Muttersprache verschwiegen, lässt sich damit allein die Angabe des Jiddischen - einer Sprache, die der Kläger nach seinen heutigen Angaben gar nicht sprechen will - nicht erklären; der Kläger hätte es dann bei der Angabe des Polnischen belassen können. Im Übrigen erklärt dies auch nicht, weshalb bei der Erfassung im KZ nur das Polnische, nicht aber das Deutsche angegeben worden ist.

Darüber hinaus ist es jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass der Kläger die polnische Sprache zumindest gleichwertig neben einer anderen im Elternhaus gebrauchten Sprache benutzt hat. Denn er selbst hat bei seiner im Berufungsverfahren im Wege der Rechtshilfe veranlassten Vernehmung angegeben, mit den Geschwistern häufiger Polnisch als Deutsch gesprochen zu haben. Auch dies macht eine überwiegende Verwendung des Deutschen i.S. einer Zugehörigkeit zum dSK nicht ausreichend wahrscheinlich.

Die stärksten Zweifel an der damaligen Zugehörigkeit des Klägers zum dSK begründet jedoch die vom Sozialgericht im Wege der Rechtshilfe eingeholte Aussage des Zeugen I (I). Dieser hat angegeben, die deutsche Sprache in Wort und Schrift sehr gut zu beherrschen, zumal er nach dem Kriege auch viele Jahre in Deutschland gewohnt habe. Gleichwohl spreche er heute wie auch schon damals in Krakau mit dem Kläger Polnisch. Er erinnere sich auch, dass der Kläger damals Polnisch gesprochen habe; ob er weitere Sprachen beherrscht habe, wisse er nicht. Das Sozialgericht hat zu Recht ausgeführt, bei einer deutschen Muttersprache des Klägers hätte es nahegelegen, dass er mit dem Zeugen I ebenfalls Deutsch gesprochen hätte.

Versuche des Sozialgerichts, weitere Zeugensaussagen zu gewinnen, sind ohne Erfolg geblieben. Insgesamt bestehen danach zu viele Zweifel an einer früheren Zugehörigkeit des Klägers zum dSK. Ist die Zugehörigkeit zum dSK jedoch zwingende Anspruchsvoraussetzung, die vom Kläger nicht glaubhaft gemacht werden konnte, kommt es auf die Frage, ob er die von ihm geltend gemachten Beitragszeiten in Krakau zurückgelegt hat, von Vornherein nicht an.

2. Beitragszeiten für Beschäftigungen in einem Ghetto sind ebenfalls nicht glaubhaft gemacht. Die Beklagte weist zu Recht darauf hin, dass die diesbezüglichen Angaben des Klägers, die erstmals spät im Verfahren gemacht wurden, in krassem Widerspruch zu früheren Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren stehen. Nach seinen jetzigen Angaben will der Kläger von 1940 bis zum 08.03.1943 im Ghetto Krakau im Betrieb von Oskar Schindler tätig gewesen sein. Im Entschädigungsverfahren hatte er für März 1941 bis Dezember 1942 Zwangsarbeiten im Ghetto Krakau auf dem Flugplatz Rakowice angegeben, wohin er täglich geführt worden sei; im Dezember 1942 sei er sogar ganz auf den Flugplatz gezogen und habe dort anfangs als Gärtner, später als Kutscher eines Kohlewagens gearbeitet. Schon diese Widersprüche stehen einer Glaubhaftmachung einer entgeltlichen Tätigkeit im Betrieb von Oskar Schindler entgegen. Hinzu kommt, dass die Diktion der entsprechenden, mit "Tel Aviv, den 23.12.01" bezeichneten schriftlichen Erklärung des Klägers vom 23.12.2001 in den Teilen, die sich nicht auf den nunmehr - in auffallender Weise erstmals nach Vorliegen der sog. Ghetto-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - vorgetragenen Sachverhalt (Beschäftigung bei Schindler) beziehen, über weite Strecken nahezu wortgleich ist mit dem klagebegründenden Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 20.02.1998. Der Senat kann sich insgesamt des Eindrucks nicht erwehren, dass dem Kläger hier nicht nur bei der Formulierung einer Erklärung, sondern auch hinsichtlich der vorzutragenden Fakten nachgeholfen worden ist. Dies hat mit Glaubhaftmachung nichts gemein; es bewirkt vielmehr die deutliche Unglaubhaftigkeit der hier erstmals gemachten, weiteren Angaben über eine Beschäftigung im Betrieb Schindler. Ohne glaubhafte Angabe einer entsprechenden Beschäftigung im Ghetto aber ist ein Anspruch nach dem ZRBG von Vornherein ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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