L 1 KR 385/16

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 198 KR 22/14
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 385/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 45/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Krankenversicherungsschutz für die Zeit vom 24. Juni 2010 bis zum 13. Juni 2013.

Er ist 1980 geboren und bulgarischer Staatsangehöriger. Er leidet unter anderem an paranoider Schizophrenie. Er reiste am 24. Juni 2010 nach Deutschland ein und ist hier - nach eigenen Angaben - nie erwerbsfähig gewesen. Seit 2014 steht er unter Betreuung.

Der Kläger befand sich ab dem 28. Januar 2013 in stationärer Krankenhausbehandlung. Am 5. Februar 2013 beantragte er bei der Beklagten die Feststellung einer Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg verpflichtete mit Beschluss vom 14. Juni 2013 (L 25 AS 938/13 B ER) das Jobcenter Berlin Treptow-Köpenick, dem Kläger ab dem 14. Juni 2013 bis zum 13. Dezember 2013, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, monatliche Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 382 EUR monatlich zu gewähren.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 12. August 2013 die Annahme einer Pflichtversicherung auch im Namen der Beigeladenen ab. Sie lehnte ferner mit Bescheid vom 14. August 2013 eine Mitgliedschaft des Klägers nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V (Bezieher von Arbeitslosengeld II) ab. Der Kläger erhob jeweils Widerspruch. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers vom 22. August 2013 gegen den Bescheid vom 12. August 2013 mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2013 zurück: Personen seien nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 b) SGB V versicherungspflichtig, wenn sie keinen anderen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall hätten und bisher nicht gesetzlich oder privat Krankenversichert gewesen seien, es sei denn, sie gehörten unter anderem zu den in § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V genannten Personen oder hätten bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland hierzu gehört. Nach § 5 Abs. 11 Satz 2 SGB V seien unter anderem Angehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union von § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht erfasst, wenn die Voraussetzungen für die Wohnortnahme in Deutschland das Bestehen eines Krankenversicherungsschutzes nach § 4 des FreizügG/EU sei. Unionsbürger aus Rumänien oder Bulgarien seien zunächst ohne Arbeitserlaubnis freizügigkeitsberechtigt. Dementsprechend liege hier immer ein Fall des § 4 FreizügG/EU vor.

Hiergegen hat der Kläger am 4. Januar 2014 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben.

Die Beklagte hat weiter den Widerspruch gegen den Bescheid vom 14. August 2013 mit Widerspruchsbescheid vom 10. März 2014 zurückgewiesen. Auch hiergegen hat der Kläger am 12. März 2014 Klage erhoben.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 4. September 2014 anerkannt, dass der Kläger aufgrund von Bewilligungsbescheiden über die vorläufige Leistungsgewährung nach dem SGB II in der Zeit vom 14. Juni 2013 bis 13. Juni 2014 krankenversichert nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V ist. Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2015 hat sie dieses Teilanerkenntnis auch auf die Zeiten vom 14. Juni 2014 bis zum 26. Juni 2014 sowie ab 27. Juni 2014 erweitert. Der Kläger hat die Teilanerkenntnisse angenommen. Er hat erstinstanzlich noch beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 12. August 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger vom 24. Juni 2010 bis 30. Juni 2013 Krankenversicherungsschutz zu gewähren.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 24. Juni 2016 abgewiesen. Der Kläger sei erst seit dem 14. Juni 2013 nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V pflichtversichert, da er seither Leistungen nach dem SGB II erhalte. Vorher habe er weder eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt noch sei er familienversichert gewesen. Es kämen keine weiteren Tatbestände des § 5 Abs. 1 SGB V in Betracht. Der Kläger sei, wie seine Mutter in der mündlichen Verhandlung bestätigt habe, bereits seit seiner Einreise erwerbsunfähig gewesen. Die Voraussetzungen der Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V hätten nicht vorgelegen. Gemäß § 5 Abs. 11 Satz 2 SGB V würden Angehörige eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union von der Versicherungspflicht nach Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht erfasst, wenn die Voraussetzungen für die Wohnortnahme in Deutschland die Existenz eines Versicherungsschutzes nach § 4 FreizügG/EU sei. Nach dem Willen des Gesetzgebers entfalle die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, so lange Unionsbürger nach dem Recht der Europäischen Union oder dem Personenfreizügigkeitsabkommen der Europäischen Union mit der Schweiz über einen Krankenversicherungsschutz verfügen müssten (Bezugnahme auf BT-Drucksache 16/3100 Seite 95). Der Kläger sei hier gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 5 i. V. m. § 4 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt. Er habe über ausreichend Krankenversicherungsschutz verfügen müssen. Wenn ungeachtet dessen kein ausreichender Krankenversicherungsschutz und keine ausreichenden Existenzmittel bestanden hätten, scheide eine Versicherungspflicht aus. Alleine das Bestehen der Verpflichtung nach § 4 FreizügG/EU führe dazu, dass keine Versicherungspflicht entstehen könne. Der Gleichbehandlungsgrundsatz, welcher in Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, wonach die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates gelte, erfahre in Artikel 5b der Verordnung eine wirksame Einschränkung für den Fall, dass nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedsstaates der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen habe, der Mitgliedsstaat die in einem anderen Mitgliedsstaat eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse berücksichtige, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären. § 4 Satz 1 FreizügG/EU setze die EU-Verordnung rechtsgültig in der Form um, dass die Freizügigkeit von EU-Bürgern in Deutschland nur insoweit gewährleistet sei, wie diese Person über ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfüge (Bezugnahme auf SG Leipzig, Urteil vom 1. Dezember 2015 - S 8 KR 626/12).

Gegen dieses ihm am 1. Juli 2016 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 1. August 2016. Zu deren Begründung führt er aus, er sei aufgrund seiner schwereren psychischen Erkrankung dringend auf die Einnahme von Psychopharmaka angewiesen und bedürfe der Pflege und Unterstützung seiner Mutter. Seine Mutter betreibe seit 2012 ein Gewerbe als Blumenhändlerin und erziele daraus monatliche Einkünfte in Höhe von 100 bis 200 Euro. Sie erhalte ergänzend Leistungen nach dem SGB II. Sie unterstütze den Kläger, indem sie für diesen Lebensmittel und Kleidung kaufe. Sie verwende etwa die Hälfte ihres Einkommens für ihren Sohn. Der Kläger verfüge gemäß § 36 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG) in Verbindung mit § 11 FreizügG/EU über ein Aufenthaltsrecht wegen eines Härtefalles im Rahmen des Familiennachzuges. Seine Mutter lebe mit ihm und dem Rest der Familie hier. Angesichts seines gesundheitlichen Zustandes könne ihm nicht zugemutet werden, nach Bulgarien zurückzukehren. Er könne sich zudem als Familienangehöriger auf §§ 2 Abs. 2 Nr. 6, 3 Abs. 1 FreizügG/EU berufen. Seine Mutter sei nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt. Er sei zu ihr nachgezogen. Sie verfüge über den Arbeitnehmerstatus und gewähre ihm Unterhalt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Juni 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. August 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger vom 24. Juni 2010 bis 13. Juni 2013 Krankenversicherungsschutz zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Der Berufung muss Erfolg versagt bleiben. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 12. August 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05. Dezember 2013 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Wie das SG in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, ist in der streitgegenständlichen Zeit keiner der Pflichtversicherungstatbestände des § 5 Abs. 1 SGB V erfüllt gewesen. Auf dessen Ausführungen wird zur Vermeidung bloßer Wiederholungen nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verwiesen.

Im Hinblick auf das Berufungsvorbringen ist nur noch zu ergänzen:

Soweit sich der Kläger darauf beruft, dass bei Unionsbürgern Freizügigkeitsbescheinigungen nur deklaratorische Bedeutung hatten bzw. haben, ist dies zwar zutreffend. Das Freizügigkeitsrecht folgt unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht (vgl. BSG, Urt. v. 30. Januar 2013 -B 4 AS 54/12 R- Rdnr. 20).

Ein solches konnte sich hier aber nur aus §§ 2 Abs. 1, 4 FreizügG/EU ergeben, nicht hingegen aus § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU i. V. m. § 36 Abs.2 AufenthaltG. Nach dem eigenen Vorbringen des Klägers ist nämlich davon auszugehen, dass ihm für die streitgegenständlichen Zeit eine Aufenthaltserlaubnis § 36 Abs. 2 AufenthaltG nicht erteilt worden ist. Dass ein solcher Anspruch durch die zuständige Ausländerbehörde möglicherweise hätte gewährt werden können, steht dem nicht gleich:

§ 11 FreizügG/EU bestimmt nicht selbst Aufenthaltsrechte, sondern stellt in seinem Absatz 1 S. 1 für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen primär klar, dass das AufenthaltG nur anwendbar ist, wenn die Norm des AufenthaltG für anwendbar erklärt wird (vgl. Bergmann/Dienelt-Dienelt, Ausländerrecht, 11. A. 2016, § 11 FreizügG/EU Rdnr. 3). Zu den ergänzend anwendbaren angeführten Vorschriften gehört § 36 Abs. 2 AufenthG. Der vom Kläger angeführte § 11 Abs. 1 S. 11 AufenthaltG/EU, nach der über die vorangegangen Bestimmungen des Absatzes das AufenthG auch dann gilt, wenn es eine günstigere Rechtstellung vermittelt, ist danach für § 36 Abs. 2 AufenthG per se überflüssig.

Nach § 36 Abs. 2 AufenthG besteht ein Aufenthaltsrecht zum Familiennachzug nicht bereits beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen. Vielmehr wird das Recht auch bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen (besonderer Härtefall) nur durch eine Erteilung im Ermessenswege begründet.

§ 4 FreizügigG/EU ist hier in der streitgegenständlichen Zeit einschlägig gewesen, weil die Voraussetzungen des § 3 FreizügigG/EU nicht erfüllt waren:

Zwar weist der Kläger zutreffend darauf hin, § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU bestimme ausdrücklich, dass § 4 FreizügG/EU nur für die Familienangehörigen der in § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger anzuwenden sind. Soweit die Mutter des Klägers ihr Freizügigkeitsrecht nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU hergeleitet haben sollte, was nach eigenem Vortrag erst ab 2012 der Fall sein könnte, wäre auch das Freizügigkeitsrecht ihres Sohnes nicht durch § 3 Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU eingeschränkt. Die Mutter soll ihr Gewerbe des Blumenverkaufs erst ab dieser Zeit ausüben.

Der Kläger war allerdings nicht Familienangehöriger im Sinne des § 3 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU. Hierfür enthält nämlich § 3 Abs. 2 FreizügG/EU spezielle Definitionen.

Der Kläger war zum einen bereits zu alt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Der Nachziehende darf noch nicht 21 Jahre alt sein. Zum anderen lagen auch nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU vor. Danach besteht ein Aufenthaltsrecht unabhängig vom Alter, wenn der Familienangehörige dem Nachziehenden "Unterhalt gewährt". Ein aufenthaltsberechtigte Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen (nur dann) Unterhalt, wenn er diesem tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken (Bundesverwaltungsgericht –BVerwG-, Urteil vom 20.10.1993 – BVerwG 11 C1/93- Juris-Rdnr. 13, OVG Lüneburg, Beschluss vom 03.01.2017- 8 PA 209/16 - juris-Rdnr. 6 mit weiteren Nachweisen). Von einer fortgesetzten und regelmäßigen Unterstützung in diesem Sinne fehlt es, wenn es sich um Almosen handelt. Der Familienangehörige muss den zu Unterstützenden nicht nur sporadisch und nicht nur marginal unterstützen. Dies setzt eine ausreichende eigene Leistungsfähigkeit voraus. Im Urteil vom 20. Oktober 1993 hat das BVerwG eine Zahlung von 300 DM monatlich für ausreichend erachtet. Die Mutter des Klägers hat in der streitgegenständlichen Zeit nur 100 bis max. 200 EUR im Monat durch ihre gewerbliche Tätigkeit eingenommen. Auch unter Wahrunterstellung des regelmäßigen Erhalts ergänzenden Bezuges von Arbeitslosengeld II konnte sie bei derart geringen eigenen Einkommen den Lebensunterhalt des Klägers in Deutschland nicht in nennenswertem Umfang decken.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht im Ergebnis in der Sache. Das Teilanerkenntnis im erstinstanzlichen Verfahren war zu berücksichtigen.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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