L 3 U 277/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 20 U 902/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 277/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.07.2002 in Ziffer II. aufgehoben.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Verletztenrente aus Anlass des Ereignisses vom 27.05.1998 streitig. Der Kläger führt einen neurologischen Schaden - Erkrankung des Daumensattelgelenkes rechts und des Ellennervens rechts mit Beteiligung der rechten Hand - auf den betrieblichen Vorgang am 27.05.1998 zurück.

Der 1943 geborene Kläger, Hilfsarbeiter im Warenlager der Firma W. GmbH und Co KG, hat seinen Angaben zufolge am 27.05.1998 einen Unfall erlitten, als er zusammen mit einem Arbeitskollegen mit Arbeitshandschuhen ca. 80 kg schwere Baumaschinen aus der Verpackung herausgehoben und diese auf eine Palette gestapelt hat. Etwa nach der zehnten Maschine sei ein Karton in die Zwischenfingerfalte des Daumens und Zeigefingers gerutscht und die Hand zwischen Holzpalette und Karton eingeklemmt worden. Er habe stärkere Schmerzen in der rechten Hand und am ganzen Arm verspürt und eine Dellenbildung zwischen dem 1. und 2. Mittelhandknochen bemerkt. Anschließend arbeitete der Kläger weiter und suchte am nächsten Tag die Chirurgen Dres. W. und T. auf. Dr.W. verneinte in seinem Durchgangsarztbericht vom 28.05.1998 eine äußere Verletzung, beschrieb eine deutliche Lücke im Bereich der Interdigitalfalte mit fehlendem Weichteil an der rechten Hand, ging aber von einem traumatisch bedingten Muskelabriss des Musculus interossei dorsalis I rechts aus. Nach einer weiteren Abklärung (MRT vom 29.05.1998), wodurch eine Rhizarthrose sowie deutliche posttraumatische bzw. degenerativ bedingte Binnenveränderung im Discus triangularis mit Rissbildung, ansonsten aber ein altersgerechter Befund, inbesondere kein Anhalt für einen Muskelabriss festgestellt wurden, bezeichnete Dr.W. in seinem Nachschaubericht vom 03.06.1998 nunmehr die Veränderungen im Discus triangularis als vollkommen unfallunabhängig. Ein Hämatom sei nicht sichtbar, die Funktion des Daumens erhalten. Der Kläger befand sich zur weiteren Abklärung der Befunde in neurologischer Behandlung (Berichte Prof.Dr.P. vom 10.09.1998 bzw. Dr.R./Dr.P. vom 03.08.1998). Die Neurologen gingen von einer älteren Parese aus.

Die Beklagte holte nach Beiziehung der einschlägigen medizinischen Unterlagen und Einholung einer Auskunft der Krankenkasse ein Gutachten des Chirurgen Dr.G. vom 16.03.1999 ein. Er kam darin zu dem Ergebnis, dass beim Kläger eine unfallunabhängig entstandene Schädigung des Ellennerven am linken (richtig rechten) Ellenbogen mit Beteiligung der linken Hand (richtig rechten) vorliegt; ein Unfallereignis verneinte er. Der vom Kläger geschilderte Hergang habe die vorliegende Nervenschädigung auch nicht verschlimmert.

Mit Bescheid vom 10.06.1999 lehnte sodann die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass einer Erkrankung des Daumensattelgelenkes rechts und des Ellennervens rechts mit Beteiligung der rechten Hand ab, weil zwischen dem Vorgang vom 27.05.1998 und den vorgenannten Gesundheitsstörungen kein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Die Körperbelastung beim Heben der schweren Baumschinen stelle kein Unfallereignis im Rechtssinne dar, die dabei aufgetretenen Schmerzen an der rechten Hand seien dadurch auch nicht verursacht, sondern vielmehr auf die nachgewiesene unfallunabhängige degenerative Daumensattelgelenksarthrose (Rhizarthrose rechts) zurückzuführen. Auch das Krankheitsbild am Ellenbogen und an der rechten Hand sei nicht auf die Belastung bei dem betrieblichen Vorgang zurückzuführen.

Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 27.10.1999).

Hiergegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben und beantragt, dass Ereignis vom 27.05.1998 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen.

Das SG hat die einschlägigen Röntgenaufnahmen und Befundberichte der Gemeinschaftspraxis Dres.T./W. vom 27.01. 2000, der Neurologischen Klinik der TU M. vom 08.01.1999, des F.-Instituts vom 10.09.1998, des Dr.R. vom 28.02.2000, des Dr.U. vom 03.03.1999, der Dr.K. vom 22.03.2000 und des Prof.S. vom 03.04.2000 beigezogen sowie Gutachten des Dr.Dr.K. vom 28.07.2000, Facharzt für Chirurgie, Sport- und Sozialmedizin sowie gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz von Priv.Doz.Dr.H. (Klinikum re.d.Isar M. ) vom 03.01.2002 eingeholt.

Dr.Dr.K. hat ausgeführt, das Ereignis vom 27.05.1998 habe Strukturen der rechten Hand des Klägers nicht geschädigt. PD Dr.H. hielt eine bestehende Rhizarthrose und eine degenerative Schädigung des Discus triangularis rechts für unfallunabhängig. Er ging davon aus, dass es zu einer Prellung mit konsekutiver Schmerzsymptomatik gekommen sei. Nachdem der Kläger einen Bericht des Neurologen Prof. Dr.H. (ohne Datum) vorgelegt hatte, hat das SG mit Urteil vom 09.07.2002 - dem Antrag der Beklagten entsprechend - die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte habe zu Recht die Anerkennung des Ereignisses vom 27.05.1998 als Arbeitsunfall abgelehnt. Zum einen sei ein Unfallereignis nicht nachgewiesen, zum anderen sprächen die ärztlichen Feststellungen für eine degenerative Erkrankung. Bei einer Quetschung durch einen Arbeitshandschuh hindurch wäre es zu Hauteinblutungsmarken und Schwellung gekommen. Hierfür gäbe es keine Nachweise, ebenso nicht für eine Prellung. In Ziffer II. hat das SG dem Kläger Gerichtskosten in Höhe von EUR 250,00 auferlegt. Das Gericht sei aufgrund der Gesamtumstände, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Auffassung gelangt, dass er die Aussichtslosigkeit der Klage erkannt und sie missbräuchlich aufrecht erhalten habe.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt und sein bisheriges Vorbringen wiederholt. Der Senat hat auf Antrag des Klägers - § 109 SGG - vom Neurologen Dr.S. (M.) ein Gutachten vom 15.12.2003 eingeholt. Er ging davon aus, dass beim Umlagern der Kisten die Handfläche der rechten Hand des Klägers zwischen die Palette und die Kiste geraten und dort gequetscht worden sei. Er diagnostizierte eine Ulnarislähmung mit Atrophie der ulnarversorgten Muskeln der rechten Hand. Ein ursächlicher Zusammenhang mit einer Handquetschung bestehe nicht. Bei der im Durchgangsarztbericht vom 28.05.1998 festgestellten Lücke handle es sich nicht um einen traumatisch bedingten Muskel- bzw. Sehnenabriss. Die Muskelatrophie könne sich nur durch eine chronische Schädigung des Nervus ulnaris über einen längeren Zeitraum vor dem Unfall entwickelt haben.

Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 09.07.2002 und des Bescheides vom 10.06.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.10.1999 zu verurteilen, ihm aufgrund des Ereignisses vom 27.05.1998 Verletztenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 09.07.2002 zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs.2 SGG auf den Inhalt der Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten in erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die frist- und formgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig, in der Hauptsache aber nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung des Ereignisses vom 27.05.1998 als Arbeitsunfall gemäß §§ 8 Abs.1 Satz 1, 56 Sozialgesetzbuches (SGB) VII.

Gemäß § 8 Abs.1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit. Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden geführt haben (vgl. BSGE 23, 139, 141; 61, 113, 115). Dieser durch die Rechtsprechung entwickelte Unfallbegriff dient der Abgrenzung eines äußeren Vorgangs von unfallrechtlich nicht geschützten krankhaften Veränderungen im Inneren des menschlichen Körpers (vgl. BSG SozR 2200 § 550 Nr.35). Nach der Rechtsprechung genügt es aber für die Einwirkung "von außen", wenn zum Beispiel der Boden beim Auffallen des Versicherten gegen seinen Körper stößt. Aber auch körpereigene Bewegungen sind als äußere Ereignisse anzusehen (ebenso LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, HVBG Info 2000, 2067; LSG Baden-Württemberg HVBG Info 1996, 905; LSG für den Freistaat Sachsen, HVBG Info 2001, 1960; Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, S.66). Damit erfüllt auch das Heben der Palette, die eine normale Betriebstätigkeit darstellt die Anforderungen für die Erfüllung des Begriffs des Unfalls - entgegen der Meinung der Beklagten und des SG. Die erforderliche haftungsbegründende Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallgeschehen ist somit gegeben.

Zum Begriff des Arbeitsunfalls gehört aber auch der Eintritt eines Gesundheitsschadens (Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung § 8 SGB VII Anm.11.5). Dieser muss mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen sein (haftungsausfüllende Kausalität). Nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung sind von den Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als Ursache oder Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur diejenigen Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg dessen Eintritt wesentlich mitbewirkt haben (BSGE 1, 72, 76; 61, 127, 129; 63, 272, 278; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens a.a.O. Rdnr.8.2).

Im vorliegenden Fall führt diese Wertung dazu, dass das Heben der Paletten - selbst dann, wenn davon ausgegangen werden wird, dass hierbei die Hand gequetscht wurde - keine wesentliche Ursache für die beim Kläger an der rechten Hand bestehenden Gesundheitsstörungen darstellt. Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Dr.Dr.K. und Dr.S. - wie auch des Dr.G. , dessen im Auftrag der Beklagten erstattetes Gutachten im anhängigen Rechtsstreit verwertet werden konnte -, steht zur Überzeugung des Senats fest, dass vor dem Ereignis vom 27.05.1998 beim Kläger eine Muskelatrophie der Muskulatur zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand bestanden hat, die sich durch eine chronische Schädigung des Nervus ulnaris wahrscheinlich durch ein sog. Sulcus ulnaris Syndrom entwickelt hat. Die chronische Schädigung wurde durch die F.-Stiftung in den Sulcus ulnaris lokalisiert aufgrund der Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit über dem Sulcus ulnaris. Auch Prof.Dr.H. diagnostizierte eine sensomotorische Läsion des Nervus ulnaris rechts, die aber proximal des Handgelenks, also jenseits der vom Kläger behaupteten Quetschung der rechten Hand vorlag. Ebenso sprechen die Befunde der Neurologischen Klinik des Krankenhauses re.d.Isar vom 08.01.1999 für das Vorliegen einer Schädigung des Nervs im Bereich des Sulcus. Hinweise für eine Durchtrennung von Nervenfasern oder ein Anhalt für einen Muskelabriss fanden sich nicht.

Da die von Priv.Doz.Dr.H. diskutierte Prellung der rechten Hand nicht nachgewiesen ist, kommt der Senat zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass durch das Ereignis vom 27.05.1998 nicht mit Wahrscheinlichkeit ein Gesundheitsschaden an der rechten Hand des Klägers verursacht worden ist. Damit liegt ein Arbeitsunfall gemäß § 8 Abs.1 SGB VII nicht vor. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entschädigung. Damit hat die Berufung, soweit sie auf die Gewährung von Verletztenrente gerichtet war, keinen Erfolg.

Soweit das Sozialgericht in Ziffer II. dem Kläger Kosten nach § 192 Abs.1 Nr.2 SGG auferlegt hat, hat dieser Kostenauspruch keinen Bestand. Denn die Fortführung des Rechtsstreits durch den Kläger ist nicht missbräuchlich. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass er eine weitere neurologische Begutachtung anstrebte in Kenntnis des Berichtes des Prof.Dr.H. und der Ausführungen des PD Dr.H. - "ggf. neurologisches Zusatzgutachten" - und im Berufungsverfahren gewillt war, ein weiteres Gutachten gemäß § 109 SGG erstellen zu lassen. Er hatte somit die Hoffnung auf einen günstigen Ausgang des SG-Verfahrens nicht aufgegeben, was aus seiner subjektiven Sicht heraus auch verständlich war. Der Verdacht des SG, dass der Kläger gegen bessere Einsicht handelte, ist für die Annahme der Rechtsmissbräuchlichkeit nicht ausreichend, ebenso wenig wie die Verweigerung der angetragenen Klagerücknahme (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage, § 192 Anm.9). Aus den vorgenannten Gründen war daher das angefochtene Urteil in Ziffer II. aufzuheben.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen hierfür nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved