B 2 U 10/03 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 29/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 48/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 10/03 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Berechnung der Höhe der Abfindung einer Verletztenrente nach der Anlage 2 der Abfindungsverordnung ist auf den Zeitpunkt des Abfindungsbescheides abzustellen.
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. September 2002 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 1. Februar 2002 zurückgewiesen. Kosten sind in allen drei Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Der Kläger begehrt von der beklagten Bau-Berufsgenossenschaft eine höhere Rentenabfindung.

Der am 3. August 1939 geborene Kläger erhielt von der Beklagten wegen eines Arbeitsunfalls seit dem 9. Juli 1984 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 vH. Am 1. Juni 1999 beantragte er die Abfindung dieser Rente. Nach Einholung eines Gutachtens fand die Beklagte mit Bescheid vom 21. September 1999 die Verletztenrente ab und legte der Berechnung des Abfindungsbetrages unter Bezugnahme auf die Verordnung über die Berechnung des Kapitalwertes bei Abfindung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung vom 17. August 1965, BGBl I S 894, geändert durch Art 21 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 7. August 1996, BGBl I S 1254 (im Folgenden: AbfindungsVO) einen Kapitalwert von 10,0 entsprechend einem Alter zwischen 60 bis unter 65 Jahren zugrunde.

Am 3. Dezember 1999 beantragte der Kläger den Abfindungsbescheid vom 21. September 1999 gemäß § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) abzuändern und ihm einen weiteren Betrag in Höhe von 19.506,96 DM zu zahlen. Die Abfindung sei zu niedrig berechnet worden. Es müsse von einem Kapitalwert von 11,8 ausgegangen werden, da er zum Zeitpunkt der Antragstellung unter 60 Jahre alt gewesen sei. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil nicht das Antragsdatum, sondern der Zeitpunkt der Abfindung maßgebend sei (Bescheid vom 13. Dezember 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2000).

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1. Februar 2002). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers die Beklagte verurteilt, den Abfindungsbescheid zurückzunehmen und eine Abfindung der Verletztenrente unter Berücksichtigung eines Kapitalwertes von 11,8 zu gewähren (Urteil vom 19. September 2002). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Abfindungsbescheid sei rechtswidrig und gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X zurückzunehmen, weil der Berechnung der Abfindung nicht entsprechend der Altersklasse von 60 bis unter 65 Jahren ein Kapitalwert von 10,0, sondern entsprechend der Altersklasse von 55 bis unter 60 Jahren ein Kapitalwert von 11,8 zugrunde zu legen sei. Maßgebend für die Berechnung der Abfindung sei der 1. Juni 1999 als Zeitpunkt der Antragstellung, auch wenn es sich um eine Ermessensleistung gehandelt habe. Denn der Antrag auf Abfindung gemäß § 76 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) habe materiell-rechtlichen Charakter und bei einem solchen Antrag entstehe der Anspruch auf Sozialleistung mit der Antragstellung, wenn daneben alle anderen Voraussetzungen erfüllt seien, wovon vorliegend auszugehen sei.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend, der Abfindungsbescheid sei rechtmäßig. Denn nach dem Wortlaut der maßgeblichen Anlage 2 der AbfindungsVO sei auf das "Alter zur Zeit der Abfindung" abzustellen und dies sei am 21. September 1999 beim Kläger 60 Jahre gewesen. Eine bewusste oder gar schuldhafte Verzögerung des Verwaltungsverfahrens habe nicht vorgelegen, und der Kläger habe bis Ende September 1999 die Verletztenrente erhalten.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. September 2002 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 1. Februar 2002 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG ist zurückzuweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung von weiteren 19.506,96 DM als Abfindung für seine Verletztenrente.

Streitig ist aufgrund des Antrags des Klägers vom 3. Dezember 1999 nicht die Abfindung als solche, sondern nur die Zahlung eines höheren Abfindungsbetrages.

Der eine Rücknahme des Abfindungsbescheides vom 21. September 1999 ablehnende Bescheid der Beklagten vom 13. Dezember 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Januar 2000 ist rechtmäßig. Denn die Voraussetzungen des § 44 SGB X für eine Rücknahme des Abfindungsbescheides sind nicht erfüllt, weil der Kläger keinen Anspruch auf einen höheren Abfindungsbetrag hat, als ihn die Beklagte in dem Abfindungsbescheid festgestellt hat.

Nach § 76 Abs 1 Satz 1 SGB VII können Versicherte, die Anspruch auf eine Rente wegen einer MdE von weniger als 40 vH haben, auf ihren Antrag mit einem dem Kapitalwert der Rente entsprechenden Betrag abgefunden werden. Eine Abfindung darf nur bewilligt werden, wenn nicht zu erwarten ist, dass die MdE wesentlich sinkt (§ 76 Abs 2 SGB VII). Rechtsgrundlage für die Berechnung des Kapitalwertes, also die Höhe der Abfindung, einer Verletztenrente mit einer MdE von unter 40 vH ist die schon genannte AbfindungsVO (§ 76 Abs 1 Satz 3 SGB VII). § 1 Abs 2 Satz 1 AbfindungsVO lautet: "Wird der in Abs 1 bezeichnete Verletzte nach Ablauf von 15 Jahren nach dem Unfall abgefunden, so richtet sich der Kapitalwert nach der Anzahl der zur Zeit der Abfindung vollendeten Lebensjahre. Das Abfindungskapital ist die mit dem Kapitalwert aus der Tabelle der Anlage 2 vervielfältigte Jahresrente." Nach der Anlage 2 der AbfindungsVO ist der Kapitalwert bei einem Alter des Verletzten zur Zeit der Abfindung von 55 bis unter 60 Jahre 11,8 und bei einem Alter von 60 bis unter 65 Jahren 10,00.

Soweit das LSG meint, für die Berechnung der Höhe der Abfindung und der zugrundezulegenden Lebensjahre sei als "Zeit der Abfindung" auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen, kann dem nicht gefolgt werden. Denn zunächst ist der Wortlaut des maßgeblichen § 1 Abs 2 Satz 1 AbfindungsVO sowie der Anlage 2 eindeutig: Abzustellen ist auf die "Zeit der Abfindung", also den Zeitpunkt, in dem die Abfindung stattfindet, und nicht den Zeitpunkt, in dem die Abfindung beantragt wird. Für dieses Ergebnis sprechen auch systematische Gründe: Bei der Abfindung nach § 76 SGB VII handelt es sich um eine Ermessensleistung (BSG SozR 3-2700 § 76 Nr 2; Brackmann/Burchardt, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, 12. Aufl, Stand: 2004, § 76 RdNr 10 f), so dass ein Anspruch auf sie erst in dem Zeitpunkt entsteht, in dem die Entscheidung über die Leistung bekannt gegeben wird (§ 40 Abs 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I); BSG SozR 1200 § 40 Nr 3). Das heißt als "Zeit der Abfindung" und maßgeblichen Zeitpunkt zur Berechnung der Abfindung ist nicht auf die Antragstellung, sondern auf die Leistungsbewilligung abzustellen.

Ob in anderen Fällen, wenn die Antragstellung materiell-rechtlichen Charakter hat und außerdem alle anderen Voraussetzungen des Anspruchs vorliegen, der Anspruch auf eine Ermessensleistung entgegen § 40 Abs 2 SGB I im Zeitpunkt der Antragstellung entsteht - so das LSG unter Hinweis auf Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl 1996, S 308 RdNr 70 - kann dahinstehen. Dies mag bei einer sog Ermessensreduzierung auf Null der Fall sein, nicht aber, wenn wie vorliegend der Leistungsträger noch Ermittlungen zu den medizinischen Voraussetzungen der Abfindung nach § 76 Abs 2 SGB VII anstellen muss und erst anschließend seine noch weitere Gesichtspunkte miteinbeziehende Ermessensentscheidung (vgl Brackmann/Burchardt, aaO; Wiesner, BG 1984, 327 ff) treffen kann. Auf die Frage, ob der Antrag gemäß § 76 SGB VII materiell-rechtlichen Charakter hat, kommt es dementsprechend für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht an.

Außerdem erhält der Verletzte über seine Antragstellung hinaus bis zum Zeitpunkt der Abfindung und dem Bescheid über dieselbe weiterhin seine Verletztenrente. Denn erst mit dem Ende des Monats, in dem der Abfindungsbescheid wirksam wird, fallen die Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung der Rente gemäß § 73 Abs 2 Satz 1 SGB VII weg, und wirksam wird ein Bescheid gegenüber dem Adressaten erst mit der Bekanntgabe (§ 39 Abs 1 Satz 1 SGB X). Für die vom Kläger angesprochene Möglichkeit der Rückforderung und Rückabwicklung der weiterhin gezahlten Verletztenrente, wenn auf den Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt wird, gibt es keine gesetzliche Grundlage. Auch dies spricht gegen diesen Zeitpunkt. Der Hinweis in den Gesetzesmaterialien zu § 76 SGB VII (BT-Drucks 13/2204 S 94) zur Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Verletzten durch die Abfindung führt nicht zu einer allgemeinen Günstigkeitsregelung. Auch wenn die Interessen der Verletzten bei der Abfindung im Vordergrund stehen sollten, hat der Senat im Einzelfall bei der Ermessensentscheidung eine Abwägung aller in Betracht kommenden Umstände als erforderlich angesehen (BSG SozR 3-2700 § 76 Nr 2). Zudem hätte der Gesetzgeber des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, der in dessen Art 21 die AbfindungsVO der neuen Rechtslage anpasste, wenn er denn eine Verbessung der Rechtslage zugunsten der Verletzten durch ein Abstellen auf das Antragsdatum gewollt hätte, dies durch eine Veränderung des Wortlautes der AbfindungsVO umsetzen können.

Aus dem Umstand, dass die Beklagte ggf über den Zeitpunkt ihres Bescheides - als "Zeit der Abfindung" im obigen Sinne - auf die Berechnung und die Höhe der Abfindung Einfluss nehmen kann, folgt nichts Anderes. Denn zunächst ist davon auszugehen, dass sie als an Gesetz und Recht gebundener Teil der vollziehenden Gewalt (Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes) rechtmäßig handelt und den Abfindungsantrag einfach, zweckmäßig und zügig bearbeitet (vgl § 9 Satz 2 SGB X). Für den Fall des Gegenteils hat der jeweilige Antragsteller zahlreiche Einwirkungsmöglichkeiten von Eingaben, Petitionen usw bis zur Erhebung einer Untätigkeitsklage nach § 88 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und schließlich der Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs. Im Übrigen kann der Verletzte dem Überschreiten der nächsten Jahresgrenze entgegenwirken, indem er seinen Antrag frühzeitig vor deren Ablauf stellt, was angesichts der jeweils fünf Jahre umfassenden Zeitspanne für die einzelnen Stufen in der Anlage 2 der AbfindungsVO keine besonderen Probleme aufwirft. Letztlich hat der Verletzte auch die Möglichkeit, wenn er die niedrigere Abfindung nicht akzeptieren will, gegen den Abfindungsbescheid Widerspruch einzulegen und diesen nicht bestandskräftig werden zu lassen.

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen und daher für den Senat bindenden (§ 163 SGG) tatsächlichen Feststellungen des LSG keinen Anspruch auf eine höhere Abfindung und damit auf Änderung des Abfindungsbescheides vom 21. September 1999. Denn zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Bescheides war der am 3. August 1939 geborene Kläger 60 Jahre alt. Damit war der Kapitalwert seiner Rente 10,0 nach der Anlage 2 der AbfindungsVO, und diesen Kapitalwert hat die Beklagte der von ihr gezahlten Abfindung zugrunde gelegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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