L 5 P 11/16

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 P 165/15
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 P 11/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Pflegekassen müssen die Verzögerungszahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI leisten, wenn sie auf einen Leistungsantrag hin nur Formblätter übersenden, im Übrigen aber untätig bleiben (Revision zugelassen).
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.2.2016 sowie der Bescheid vom 17.2.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin 70,00 EUR für jede angefangene Woche in der Zeit vom 9.7.2014 - 2.2.2015 zu zahlen; im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

II. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Strittig ist eine Zahlung wegen verzögerter Bearbeitung eines Antrages auf Pflegeleistungen.

1. Die 1965 geborene Klägerin ist gesetzlich pflichtversichertes Mitglied der Beklagten. Am 18.11.1986 hatte sie bei einem PKW-Wegeunfall multiple schwere Verletzungen insbesondere der Wirbelsäule erlitten. Dieser Unfall ist von der zuständigen Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) als Arbeitsunfall iSd SGB VII anerkannt. Für den hier strittigen Zeitraum 2014/2015 sind als Gesundheitsstörungen der Klägerin u.a. chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, depressiver Störung, PTBS sowie Opiatmissbrauch ärztlich dokumentiert. Reha-Maßnahmen im Herbst 2012 sowie im Frühjahr 2013 waren nicht erfolgreich verlaufen. Die Klägerin war anschließend an diese Maßnahmen einmal monatlich in neurologischer sowie in psychiatrischer Behandlung.

Nach unwidersprochenem Vortrag der Klägerin fand im Frühjahr 2015 eine Begehung der klägerischen Wohnung mit einem Reha-Berater der BGHM statt. Im Beisein des Ehemannes der Klägerin "wurde vereinbart, dass die Versicherte Leistungen ..." gegenüber der Beklagten "geltend macht bzw. zunächst über die Bahn-BKK Pflegekasse abrechnet". Es wurde u.a. ein Umbau des Duschraumes abgesprochen und zwar zwischen dem Ehemann der Klägerin und dem "Mitarbeiter der BGHM". Die Beklagte war bei dieser Begehung/Absprache nicht beteiligt.

2. Den streitauslösenden Leistungsantrag stellte die Klägerin mit dem nachfolgend wörtlich wiedergegebenen maschinengeschriebenen und eigenhändig unterzeichneten Schreiben an die Beklagte vom 20.05.2014:

"Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit beantrage ich Pflegeversicherungsleistungen. Mit freundlichen Grüßen"

Die Beklagte übersandte nach Eingang des Antrags am 3.6.2014 unter dem 4.6.2014 das Formblatt "Erstantrag auf Leistungen der häuslichen Pflege". Dieses Formblatt füllte die Klägerin aus mit dem Unterschriftsdatum 14.1.2015 und beantragte dabei durch Ankreuzen zwei aus vier Leistungsarten Pflegegeld sowie zusätzlich Betreuungsleistung, nicht aber kombinierte oder Sachleistungen. Die Klägerin fügte den ausgefüllten zweiseitigen Informationsbogen für die Begutachtung durch den MDK hinzu. Die Beklagte veranlasste daraufhin eine persönliche Untersuchung der Klägerin durch den MDK, welche am 20.1.2015 stattfand. Insbesondere wegen Bewegungseinschränkung und Sturzgefahr stellte der MDK einen pflegerischen Zeitaufwand von 50 min/Tag und einen hauswirtschaftlichen Zeitaufwand von 45 min/Tag. Die Beklagte bewilligte dem folgend mit Bescheid vom 30.1.2015 Leistungen, insbesondere Pflegegeld nach der Pflegestufe I und zwar rückwirkend ab 20.5.2014. Bei dieser Entscheidung blieb es, obwohl die BGHM einwandte, die Klägerin habe am 2.2.2015 eine vollschichtige Tätigkeit als Kernmacherin aufgenommen und obwohl die BGHM mit Bescheid vom 24.4.2015 Pflegegeldgewährung gem. § 44 SGB VII ablehnte. Denn der MDK bestätigte mit weiterem Gutachten vom 12.6.2015 das Ergebnis seines Vorgutachtens.

Die BGHM bewilligte der Klägerin Wohnungshilfe zum behinderungsgerechten Umbau mit Bescheid vom 2.11.2015.

3. Mit Schriftsatz der Bevollmächtigten der Klägerin vom 5.1.2015 - einschließlich am 12.9.2014 unterzeichneter Vollmacht - machte die Klägerin geltend, sie habe auf ihren Antrag vom 20.5.2014 bisher keine Leistung erhalten. Hinderungsgründe für eine Entscheidung seien nicht ersichtlich. Die gesetzliche Entscheidungsfrist von 5 Wochen sei abgelaufen. Deshalb habe die Beklagte gem. § 18 Abs. 3a SGB XI für jede Woche der Fristüberschreitung 70 EUR als Verzögerungszahlung zu leisten. Mit Bescheid vom 17.2.2015/Widerspruchsbescheid vom 10.12.2015 lehnte dies die Beklagte ab. Einen verbescheidungsfähigen Antrag habe die Klägerin erst mit dem Formantrag vom 14.1.2015 gestellt. Auf diesen hin habe die Beklagte fristgerecht ihre Leistungspflicht geprüft und Leistungen rückwirkend bewilligt. Der Auffassung der Klägerin, wegen der Formlosigkeit des Antrags sowie des Sozialverwaltungsverfahrens sei der Antrag vom 20.5.2014 maßgeblich, folgte die Beklagte nicht.

4. Die dagegen zum Sozialgericht Würzburg erhobene Klage hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 19.2.2016 abgewiesen. Einen fristauslösenden, hinreichend konkreten Antrag habe die Klägerin am 20.5.2014 nicht gestellt.

5. Dagegen hat die Klägerin Berufung eingelegt zur Weiterverfolgung ihres Begehrens. Sie ist der Auffassung, der leistungsauslösende Antrag sei nicht an eine Form gebunden, so dass die Untätigkeit der Beklagten auf den Antrag vom 20.5.2014 deren Zahlungspflicht auslöse. Aus Sicht der Beklagte hingegen ist der Antrag vom 20.5.2014 so unbestimmt, dass er die Zahlungsfolgen des § 18 Abs. 3b SGB XI nicht auslösen kann.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.2.2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17.2.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Verzögerungszahlung für jede Woche der Säumnis nach Ablauf der durch den Antrag vom 20.5.2014 ausgelösten Fünfwochenfrist zu erbringen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Verwaltungsakten der Beklagten. Darauf sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 SGG) und im Wesentlichen begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 17.2.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf Verzögerungszahlung gem. § 18 Abs. 3b SGB XI. Die Entscheidung der Beklagten wird daher ebenso aufgehoben wie der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Würzburg vom 19.2.2016 und die Beklagte entsprechend verurteilt. Maßgeblich für den Fristbeginn ist wegen des Verschuldenserfordernisses nicht der 20.5.2014, das Datum des Antragsschreibens, sondern der 4.6.2014, der Tag nach Antragseingang durch die Beklagte. Nur für die Zeit vom 20.5.2014 bis 4.6.2014 bleibt die Berufung ohne Erfolg.

1. Über die allgemeine, in § 9 Satz 2 SGB X geregelte Pflicht hinaus, das Verwaltungsverfahren zügig durchzuführen, enthält § 18 Abs.3 SGB XI für die Pflegekassen besondere Pflichten zur Verfahrensbeschleunigung wie die Pflicht zur unverzüglichen Weiterleitung eines Antrags an den Gutachter sowie eine allgemeine Frist von 25 Arbeitstagen nach Antragstellung für die Bekanntgabe der Entscheidung. Falls die Fristen überschritten werden verstärkt § 18 Abs. 3b SGB XI (seit der Einfügung durch das Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz - PNG) vom 23.10.2012, BGBl I 2012, S. 2246) auch über die Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) hinaus diese Pflichten durch eine Verzögerungszahlung von pauschal 70 EUR pro angefangener Säumniswoche. Die Fristberechnung richtet sich nach § 26 SGB X, §§ 187 ff. BGB. Die Pflicht zur Verzögerungszahlung besteht nicht, wenn die Pflegekasse die Verzögerung nicht zu vertreten hat, etwa wenn der Antragsteller nicht rechtzeitig mitgewirkt hat (Roller in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XI, 2. Aufl. 2017, § 18 SGB XI, Rn. 40). In Zweifelsfällen hat nicht der Versicherte das Vertretenmüssen zu belegen, vielmehr muss sich die Pflegekasse exkulpieren (Wagner in: Hauck/Notz, SGB 07/15, § 18 SGB XI, Rz. 23a).

2. In Auswertung der Beklagtenakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge ist zur Anwendung dieser Rechtsgrundsätze festzustellen, dass die Klägerin am 20.5.2014 erstmals einen Antrag bei der Beklagten auf Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gestellt hat mit den Worten: "hiermit beantrage ich Pflegeversicherungsleistungen". Der Antrag enthielt die vollständige Adresse der Klägerin, die Versicherten-Nr. der Krankenkasse, die der Beklagten zugeordnet ist sowie die eigenhändige Unterschrift. Damit war ein Antrag iSd § 33 Abs. 1 S. 1 SGB XI, § 16 SGB I, § 9 Abs. 1 S. 1 SGB X vorhanden, welcher tatsächlich den Leistungsberechtigten und den Leistungserbringer sowie das Leistungsbegehren zweifelsfrei und unmissverständlich bezeichnet hat. Dieser Antrag ist nach den unbestrittenen Angaben der Beklagten am 3.6.2014 eingegangen; Anhaltspunkte an diesem Eingangsdatum zu zweifeln, bestehen nicht.

In der Folge war die Beklagte wegen der zum Antragszeitpunkt nach dem Akteninhalt tatsächlich erfüllten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, insbesondere der Vorversicherungszeit sowie nach den Feststellungen des MDK erfüllten gesundheitlichen Voraussetzungen der Pflegebedürftigkeit die entsprechenden Leistungen nach dem SGB IX zu erbringen. Dieser Pflicht hat die Beklagte entsprochen und mit rechtskräftigem Bescheid vom 30.1.2015 Leistungen, insbesondere Pflegegeld nach der Pflegestufe I und zwar rückwirkend ab 20.5.2014 bewilligt. Dies ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig.

3. Mit diesem Sachverhalt waren zugleich die Grundvoraussetzungen der Verzögerungszahlung nach § 18 Abs. 3b SGB XI erfüllt. Auf die rückwirkend zum 20.5.2014 erfolgte Leistungsbewilligung kommt es dabei nicht an. Für den Beginn der fünfwöchigen Frist war nach § 26 SGB X, §§ 187 ff. BGB der Tag nach dem Antragseingang, also der 4.6.2014 maßgeblich. Da die Beklagte fünf Wochen später keine Leistung erbracht hatte, beginnt die Pflicht zur Verzögerungszahlung ab dem Donnerstag, 9.7.2014. Sie endet mit der Bekanntgabe des nach Blatt 74 der reproduzierten Verwaltungsakte der Beklagten per Post an die Klägerin übersandten schriftlichen Bescheides vom Freitag, den 30.1.2015 am Montag den 2.2.2015. Anhaltspunkte für eine frühere oder spätere Bekanntgabe oder Kenntnisnahme sind nicht vorhanden.

4. Für ein fehlendes Verschulden der Beklagten, welches die Verzögerungszahlung ausschließt, lassen sich keine Anhaltspunkte finden. Denn die Beklagte war nach Übersendung der Antragsformulare einschließlich der schriftlichen Auskunfts- und Einwilligungsanforderung iSd § 18 Abs. 4 SGB IX, § 67b Abs. 2 S. 3 SGB X am 4.6.2014, welche die Klägerin auch erreicht haben, untätig geblieben. Mit der Übersendung dieser Formblätter allein hatte die Beklagte ihre Pflichten, die aus dem Pflichtenkanon der Leistungsträger in §§ 14 -17 SGB I folgen, vorwerfbar nicht erfüllt. Denn die Beklagte war als zuständiger Leistungsträger der Pflegeversicherung konkret verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Klägerin die ihr zustehenden Leistungen zur Pflege in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält. Diese Pflichten sind in § 18 Abs. 3 SGB IX aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der Versicherten nochmals verstärkt. Die Beklagte durfte nicht davon ausgehen, dass mit der Formblattübersendung alles Erforderliche getan war. Mit dem unzweideutigen Antrag auf Pflegeleistungen hat die Klägerin zu erkennen gegeben, dass sie (wohl) gesundheitlich nicht nur unwesentlich beeinträchtigt ist. Die Beklagte wäre deshalb verpflichtet gewesen, durch ein Wiedervorlagesystem wenigstens einmal nachzufassen und zu klären, ob die Antragsformulare auch angekommen sind oder ob Gründe für die Nichtrückleitung bestehen, welche die Beklagte ohne Weiteres zu beseitigen in der Lage ist. Dass in der Regel und nahezu in allen Fällen die Pflegebedürftigen die Formblätter ausfüllen und zurücksenden, entbindet die Beklagte nicht von diesen Pflichten. Das gilt ebenso für den Einwand der Beklagten, dass sie ohne die angeforderten Angaben und Einwilligungen der Klägerin nicht in der Lage gewesen wäre, den MDK mit der für alle Leistungen nach dem SGB XI erforderlichen Begutachtung zu beauftragen.

5. Auf Seiten der Klägerin ist kein das Verschulden der Beklagten beseitigendes oder konsumierendes Mitverschulden festzustellen. Zwar wäre es der Klägerin, welche ihre Verfahrensbevollmächtigte in dieser Sache durch Vollmachterteilung am 12.9.2014 mandatiert hatte, mit Sicherheit möglich gewesen, die erst Anfang Januar 2015 vorgenommene Formblattausfüllung und Unterzeichnung bereits geraume Zeit vorher durchzuführen und das Angeforderte an die Beklagte zeitnah zurückzuleiten. Nach der Konzeption des § 18 Abs. 3b SGB XI kann ein reines, unangemahntes Untätig-Sein der Versicherten das Unterlassen des erforderlichen Nachfassens nicht verdrängen.

Auf die Berufung der Klägerin hin war daher die Beklagte zur entsprechenden Verzögerungszahlung zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Sache hat grundsätzliche Bedeutung, so dass die Revision zugelassen wird, § 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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