L 9 AS 142/18 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 9 AS 1009/17 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 142/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Februar 2018 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 1. Dezember 2017 bis zum 31. August 2018 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern 11/12 ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die am 8. März 2018 beim Sozialgericht eingegangene Beschwerde der Antragsteller mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Februar 2018 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), hilfsweise nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), in gesetzlicher Höhe für die Zeit ab Eingang des Eilantrages beim Sozialgericht bis zum Ablauf des Folgemonats der Entscheidung des Senats zu gewähren,

ist zulässig und mit dem Hauptantrag in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Die Beschwerde war zurückzuweisen, soweit die Antragsteller Leistungen für die Zeit ab Antragseingang (9. November 2017) bis zum 30. November 2017 begehren. Für diesen Zeitraum hat der Antragsgegner den Antragstellern mit Bescheid vom 18. Mai 2017 ergänzende Leistungen vorläufig bewilligt. Der Antrag ist daher insoweit mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.

Im Übrigen kann der die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ablehnende Beschluss des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Februar 2018 keinen Bestand haben.

Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen entgegen der Auffassung des Sozialgerichts jedenfalls für die Zeit ab 1. Dezember 2017 vor.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr. 4). Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 SGB II sieht der Senat als erfüllt an. Nach dem Vortrag der Beteiligten und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen sind keine Tatsachen ersichtlich, aus denen auf eine - dauerhafte - Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers zu 2. geschlossen werden könnte. Die Antragsteller haben auch ihre Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II) glaubhaft gemacht. Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Die Darlegung der Hilfebedürftigkeit erfordert vollständige, wahrheitsgemäße und nachprüfbare Angaben des Hilfesuchenden (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschlüsse vom 27. November 2007 - L 9 AS 297/07 ER -, vom 19. August 2008 - L 9 AS 226/08 B ER -, vom 18. September 2008 - L 9 AS 273/08 B ER -, vom 18. Dezember 2008 - L 9 AS 417/08 B ER -; vom 22. Dezember 2010 - L 9 AS 72/10 B ER -, vom 9. Juli 2013 - L 9 AS 218/13 B ER und L 9 AS 282/13 B ER -, vom 22. Oktober 2014 - L 9 AS 673/14 B ER -, zuletzt Beschluss vom 11. Juni 2018 - L 9 AS 246/18 B ER - m. w. N.). Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Antragsteller. Die Angaben lassen erkennen, in welcher Höhe den Antragstellern finanzielle Mittel zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts seit der Einstellung der Leistungen nach dem SGB II durch den Antragsgegner zur Verfügung gestanden haben. Die Antragsteller haben nachvollziehbar dargelegt, mit dem von der Antragstellerin zu 1. erzielten Verdienst ihren Lebensunterhalt einschließlich der Nebenkosten für die Wohnung sichergestellt zu haben. Die Begleichung der Kosten der Unterkunft erfolgte aus darlehnsweise zur Verfügung gestellten Mitteln (bis Januar 2018), die übrigen Mietaufwendungen sind rückständig; das Mietverhältnis ist gekündigt.

Die Antragsteller haben auch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen (zum Folgenden ausführlich BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 m. w. N.). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 m. w. N. - s. o.). Die Beurteilung, ob und wo ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden ist, richtet sich in erster Linie nach den tatsächlichen Verhältnissen. Das Bestehen eines Aufenthaltsrechts ist keine Voraussetzung für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland. Das SGB II enthält kein zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Anspruchsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG. Der aufenthaltsrechtliche Status eines Antragstellers betrifft vielmehr die Frage, ob ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II eingreift (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 s. o.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6. November 2017 - L 8 SO 262/17 B ER -). Daher ist der zukunftsoffene Aufenthalt für das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthaltes ausreichend. Der Aufenthalt ist solange zukunftsoffen, wie nicht bestandskräftig oder durch eine für sofort vollziehbar erklärte Entscheidung der Ausländerbehörde festgestellt worden ist, dass ein Aufenthaltsrecht der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr besteht oder die Antragsteller freiwillig beabsichtigen auszureisen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Februar 2015 - L 2 AS 14/15 B ER -; zum fehlenden gewöhnlichen Aufenthalt bei Anordnung des Sofortvollzuges der Verlustfeststellung vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 6. Oktober 2017 - L 19 AS 1761/17 B ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017 - L 15 AS 62/17 B ER -). Vorliegend hat die zuständige Ausländerbehörde zwar mit Verfügungen vom 31. August 2017 gegenüber den Antragstellern Verlustfeststellungen getroffen, den Sofortvollzug aber nicht angeordnet. Die Antragsteller haben sich dagegen mit Klage zum Verwaltungsgericht Darmstadt gewandt, über die bisher noch nicht entschieden wurde. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsteller in absehbarer Zeit die Bundesrepublik Deutschland wieder verlassen wollen. Die Antragsteller verfügen somit gegenwärtig über einen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet.

Ein Leistungsanspruch der Antragsteller folgt bereits aus dem langjährigen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II erhalten abweichend von Satz 2 Nr. 2 Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 des FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II liegen nach der summarischen Prüfung im Eilverfahren vor, da beide Antragsteller mindestens seit dem 16. August 2012 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, ohne dass Anhaltspunkte für längere Abwesenheitszeiten und für Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht bestanden hat (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II), erkennbar sind. Die Rückausnahme dieser Regelung (§ 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II) greift vorliegend nicht ein. Die Ausländerbehörde des Beigeladenen hat zwar mit Verfügungen vom 31. August 2017 den Verlust des Rechts der Antragsteller auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt. Die Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde und die Begründung der Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU hat aber, solange der Bescheid nicht bestandskräftig ist und auch nicht für sofort vollziehbar erklärt worden ist, keine Auswirkungen auf den bereits bestehenden Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II. Denn die Klage gegen die Verlustfeststellung der Ausländerbehörde des Beigeladenen entfaltet aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung hemmt nicht das Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, sondern nur die Vollziehung im Sinne eines Verwirklichungs- und Ausnutzungsverbots (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig u. a., SGG, 12. Aufl. 2017, § 86a Rn. 5 m. w. N.). Der Anspruch nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II ist daher, ohne dass durch die Sozialgerichte zu prüfen ist, ob der Aufenthalt rechtmäßig gewesen oder die Verlustfeststellung rechtmäßig erfolgt ist, so lange nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 2 SGB II ausgeschlossen, bis das ausländerrechtliche und verwaltungsgerichtliche Verfahren abgeschlossen und bestands- oder rechtskräftig der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt ist (vgl. Sächsisches LSG, Beschluss vom 20. März 2018 - L 3 AS 73/18 B ER -).

Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, bereits die bloße Verlustfeststellung begründe eine Ausreisepflicht und schließe eine Anspruchsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 SGB II nach dem Willen des Gesetzgebers aus (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2017 - L 15 AS 62/17 B ER -), vermag der Senat dieser Auffassung jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation nicht zu folgen. Denn die Verfügungen der Ausländerbehörde des Beigeladenen vom 31. August 2017 sehen eine Ausreiseverpflichtung erst zwei Monate nach Bestandskraft der jeweiligen Verfügung vor. Es besteht daher im vorliegenden Fall nach Klageerhebung beim Verwaltungsgericht derzeit keine Ausreisepflicht der Antragsteller.

Ungeachtet der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II sind die Antragsteller auch nicht durch die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (in der ab 29. Dezember 2016 geltenden Fassung vom 22. Dezember 2016 - BGBl. I 3155 -) sind u. a. Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen, die entweder kein Aufenthaltsrecht haben (Buchst. a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Buchst. b). Die Ausschlussregelungen greifen vorliegend nicht ein.

Die Antragstellerin zu 1. verfügt über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU). Danach sind freizügigkeitsberechtigt u. a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (Nr. 1) und Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige - Nr. 2). Voraussetzung der selbständigen Tätigkeit im Sinne dieser Vorschrift ist, dass tatsächlich eine wirtschaftliche Tätigkeit, die in eigener Verantwortung und weisungsfrei erfolgt, mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit ausgeübt wird (vgl., BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 - B 4 AS 44/15 R - BSGE 120, 149 m. w. N.). Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU liegen bei der Antragstellerin zu 1. nicht vor, da sie keiner selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Sie ist vielmehr in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum ab 9. November 2017 als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist, wie die Wortverbindung in dessen Nr. 1 zum FreizügG/EU bereits zeigt, europarechtlich geprägt. Durch das FreizügG/EU wird die, die Freizügigkeitsrechte der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen innerhalb der Union regelnde RL 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) - auf Grundlage der Europäischen Verträge - in das nationale Recht umgesetzt (Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, Vorbemerkung 0.1.2 zum FreizügG/EU). Eine kodifizierte Definition des Arbeitnehmerbegriffs findet sich im Europarecht nicht. Nach der Rechtsprechung des EuGH erfüllt die Arbeitnehmereigenschaft, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, was gestützt auf objektive Kriterien und in einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeit und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen ist (EuGH, Urteil vom 6. November 2003 - C-413/01 - Rs. Ninni-Orasche; EuGH, Urteil vom 21. Februar 2013 - C-46/12 -; Dienelt s. o. § 2 FreizügG/EU Rn. 37). Um Arbeitnehmer zu sein, muss die betreffende Person während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Dabei sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses (EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - C-14/09 - Rs. Genc). Dies bedeutet, dass eine Integration in den Betrieb des Arbeitgebers gegeben sein muss, bei der die betreffende Person unter der Weisung oder Aufsicht eines Dritten steht, der die zu erbringenden Leistungen und/oder die Arbeitszeiten vorschreibt und dessen Anordnungen durch den Arbeitnehmer zu befolgen sind. Unter Anwendung dieses Maßstabs ist die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1. nach den Ermittlungen des Senats und der Beweisaufnahme im Erörterungstermin des Berichterstatters am 22. Juni 2018 zweifelsfrei zu bejahen. Danach ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin zu 1. seit 2013 für die Zeugin K. Treppenhäuser reinigt und dafür (seit 2017) einen monatlichen Pauschalbetrag in Höhe von 800,00 Euro erhält. Der zeitliche Umfang beträgt nach ihren Angaben ca. 70 bis 80 Stunden monatlich. Es handelt sich daher um eine tatsächliche und echte und nicht nur um eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit, die zudem als weisungsabhängig einzustufen ist. Der Antragstellerin zu 1. wird im Einzelnen von der Zeugin K. vorgeschrieben, welche Objekte sie zu welcher Zeit zu reinigen hat. Die Antragstellerin zu 1. wird von der Zeugin K. zu Hause abgeholt, zu den jeweiligen Arbeitsplätzen gebracht und nach Beendigung der Tätigkeit wieder nach Hause gefahren. Sämtliche Arbeitsmittel und -geräte werden von der Zeugin K. gestellt, der Antragstellerin zu 1. aber nicht berechnet. Nach den Angaben der Antragstellerin zu 1. seien zwar keine Vereinbarungen zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und zum Urlaub getroffen worden. Tatsächlich sei ihr aber der Lohn im Krankheitsfall fortgezahlt worden. Unter Würdigung der Gesamtumstände bestehen zur Überzeugung des Senats an der Einstufung des Arbeitsverhältnisses als abhängiges Beschäftigungsverhältnis keine Zweifel. Vom Vorliegen eines Freizügigkeitsrechts der Antragstellerin zu 1. geht im Übrigen auch die Ausländerbehörde des Beigeladenen aus, die den Vergleichsvorschlag des Verwaltungsgerichts Darmstadt angenommen hat.

Die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1. ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners auch nicht deshalb zu verneinen, weil für das Beschäftigungsverhältnis der Antragstellerin zu 1. bisher keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Der Senat hat zwar ein Freizügigkeitsrecht für eine als "Schwarzarbeit" ausgeübte Arbeitnehmertätigkeit verneint (Beschluss vom 13. September 2007 - L 9 AS 44/07 ER - FEVS 59, 110; ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. April 2015 - L 2 AS 2388/14 B ER -). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. wird zwar unzutreffend als selbständige Tätigkeit deklariert mit der Folge, dass Sozialversicherungsbeiträge bisher nicht entrichtet wurden. Die Antragstellerin zu 1. hat für ihre Tätigkeit Rechnungen gestellt und ihre Einnahmen auch gegenüber dem Finanzamt angegeben. Die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen ist im Übrigen Sache des Arbeitgebers. Der Senat hat keine Hinweise für ein kollusives Zusammenwirken zwischen der Antragstellerin zu 1. und der Zeugin K. hinsichtlich der Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegt auch keine missbräuchliche Eingehung des Arbeitsverhältnisses vor. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist zwar nicht nur eine wahrheitswidrige, sondern auch eine missbräuchliche Berufung auf Normen des Unionsrechts nicht gestattet. Ein Missbrauch ist anzunehmen, wenn eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde und der Betroffene in der Absicht handelte, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden (vgl. Dienelt s. o., § 2 FreizügG/EU Rn. 52 f. m. w. N.). Nach der vom Sozialgericht genannten Entscheidung des EuGH (Urteil vom 21. Juni 1988 - 39/86 - Rs. Lair) handelt ein Arbeitnehmer, der sich nachweislich nur in der Absicht in einen Mitgliedstaat begibt, dort nach einer sehr kurzen Berufstätigkeit eine Förderung für Studenten in Anspruch zu nehmen, im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen missbräuchlich. Der weiteren, von dem Sozialgericht in Bezug genommenen Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 28. März 2017 - 18 B 274/17 -) lag der Fall einer Antragstellerin zu Grunde, die nach ihrer Einreise zunächst mittels Vorlage eines gefälschten Arbeitsvertrages versucht hatte, ein Freizügigkeitsrecht zu begründen, in der Folgezeit ein Arbeitsverhältnis erst begründete, nachdem die Abschiebung in das Heimatland angedroht worden war, und dieses Arbeitsverhältnis nach Aufhebung der Ordnungsverfügung wieder beendete. Nach Anhörung zu einer erneut beabsichtigten Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung hat sie sodann einen unbefristeten - nicht datierten - Arbeitsvertrag über eine Tätigkeit als Spendensammlerin vorgelegt, die sie allenfalls für drei Monate ausgeübt hat. Dieses Verhalten in seiner Gesamtheit hat das Gericht dahingehend gewertet, dass die Antragstellerin - falls überhaupt - eine Erwerbstätigkeit nur vorübergehend allein zum Zwecke der Abwendung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ausüben wolle. Ein solches Vorgehen, das im Ergebnis auf eine Umgehung der eine Freizügigkeit eröffnenden Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie angelegt sei, entspreche offenkundig nicht den mit dieser Richtlinie verfolgten Zielen. Eine missbräuchliche Eingehung eines Arbeitsverhältnisses im Sinne der genannten Entscheidungen kann vorliegend nicht angenommen werden. Die Antragstellerin zu 1. ist nach ihren Angaben und denen der Zeugin K. ohne Unterbrechung seit 2013 für die Zeugin K. tätig. Objektive Anhaltspunkte dafür, dass sich die Antragsteller nur in die Bundesrepublik Deutschland begeben haben, um (ergänzende) Hilfeleistungen zu erhalten, vermag der Senat nicht zu erkennen. Es liegt auch kein Fall der kurzzeitigen Ausübung einer Erwerbstätigkeit zur Erlangung des Freizügigkeitsrechts vor. Im Übrigen kann der Auffassung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Beschluss vom 28. Februar 2018 auch deshalb nicht gefolgt werden, weil das Sozialgericht seiner Entscheidung unzutreffend eine Arbeitszeit der Antragstellerin zu 1. von lediglich drei Wochenstunden zugrundegelegt hat.

Der Annahme, dass die Antragstellerin zu 1. als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist, steht schließlich die Tatbestandswirkung der Entscheidung der Ausländerbehörde des Beigeladenen vom 31. August 2017, durch die der Verlust der Freizügigkeit festgestellt wurde, nicht entgegen. Die Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes ist Ausfluss von Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und bezweckt, die Entscheidung über Rechtmäßigkeit und Bestand eines behördlichen Bescheides den dazu berufenen Spezialgerichten vorzubehalten (vgl. BGH, Urteil vom 19. Juni 1998 - V ZR 43/97 - NJW 1998, 3055). Die Tatbestandswirkung (Drittbindungswirkung) von Verwaltungsakten besagt lediglich, dass Behörden und Gerichte die in einem bindenden Bescheid getroffene Regelung, solange sie Bestand hat, als verbindlich hinzunehmen und ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit ihren Entscheidungen zugrunde zu legen haben (vgl. BSG, Urteil vom 8. September 2015 - B 1 KR 16/15 R - BSGE 119, 298 m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 28. November 1986 - 8 C 122 - 125/84 - NVwZ 1987, 496). Sie ist bezogen nur auf den jeweiligen Verfügungssatz, nicht jedoch hinsichtlich der Begründungselemente und des zugrunde gelegten Sachverhalts. Ausnahmsweise kann auch einem Satz aus der Begründung eines Verwaltungsaktes die Bedeutung zukommen, dass er als selbständige Feststellung im Sinne eines - weiteren - Verfügungssatzes zu werten ist, der dann ebenfalls in Bindungswirkung erwachsen kann (vgl. BSG, Urteil vom 20. März 1997 - 3 RK 15/96 - BSGE 80, 136). Die in einem Verwaltungsakt getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die ihm zugrundeliegenden rechtlichen Erwägungen sind für einen anderen als den durch den Verwaltungsakt "geregelten" Rechtsbereich nur dann ausnahmsweise verbindlich, wenn eine derartige über die Tatbestandswirkung hinausgehende "Feststellungswirkung" gesetzlich angeordnet ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 1986 s. o. m. w. N.). Ein solcher Fall liegt hier offensichtlich nicht vor.

Vorliegend unterliegt der Tatbestandswirkung nur die nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU erfolgte Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU in den Verfügungen der Ausländerbehörde des Beigeladenen vom 31. August 2017, nicht dagegen die Einstufung der Antragstellerin zu 1. als selbständige Erwerbstätige. Dabei handelt es sich lediglich um ein Begründungselement, so dass der Einstufung der Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. in dem streitgegenständlichen Zeitraum ab 9. November 2017 als abhängige Beschäftigung die Verfügung der Ausländerbehörde des Beigeladenen vom 31. August 2017 nicht entgegensteht.

Der Antragsteller zu 2. leitet sein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU von der Antragstellerin 1. ab.

Die Antragsteller haben damit einen Anordnungsanspruch auf Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht.

Auch die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes ist zu bejahen.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d. h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats, vgl. Beschlüsse vom 22. September 2005 - L 9 AS 47/05 ER -, vom 7. Juni 2006 - L 9 AS 85/06 ER -, vom 30. August 2006 - L 9 AS 115/06 ER - vom 11. Februar 2016 - L 9 AS 71/16 B ER -und vom 26. Mai 2017 - L 9 AS 197/17 B ER -, zuletzt Beschluss vom 11. Juni 2018 - L 9 AS 246/18 B ER -; Conradis in LPK-SGB II, 6. Aufl. 2017, Anhang Verfahren Rn. 137). Diese Voraussetzungen liegen vor. Den Antragstellern stehen außer dem Erwerbseinkommen der Antragstellerin zu 1. keine weiteren Einnahmen zur Deckung ihres Bedarfs zur Verfügung. Der Anordnungsgrund ist auch hinsichtlich der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu bejahen. Das Mietverhältnis wurde bereits gekündigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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