L 5 KR 677/18 B ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 31 KR 1003/18 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 677/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 19.09.2018 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 25.07.2018 abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

I. Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet.

Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG hat das Sozialgericht zutreffend benannt. Hierauf nimmt der Senat Bezug (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG). Diese Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt, weil es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches also des Bestehens eines materiell-rechtlichen Anspruchs auf die begehrte Leistung fehlt.

1. Nach § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und Nr. 5 SGB V wird Krankenbehandlung in Form ärztlicher Behandlung durch einen Vertragsarzt oder Krankenhausbehandlung erbracht. Dieser Anspruch unterliegt jedoch den sich aus § 2 Abs. 1 und § 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Eine Krankenbehandlung ist in diesem Sinne notwendig, wenn durch sie ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand behoben, gebessert, vor einer Verschlimmerung bewahrt wird oder Schmerzen und Beschwerden gelindert werden können.

Hieran fehlt es im Falle des Antragstellers, denn Krankenkassen (und damit hier die Antragsgegnerin) sind nicht bereits dann leistungspflichtig, wenn die streitige Therapie im konkreten Fall nach Einschätzung des Versicherten oder seiner behandelnden Ärzte positiv verläuft bzw. wenn einzelne Ärzte die Therapie befürworten (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 - B 1 KR 12/05 R). Die betreffende Therapie ist, wenn es - wie hier unstreitig - um eine sog. neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (vgl. § 135 Abs. 1 S. 1 SGB V) geht, vielmehr nur dann von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn der gemeinsame Bundesausschuss (GBA) in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 SGB V bereits eine positive Empfehlung über den diagnostischen oder therapeutischen Nutzen der Methode abgegeben hat. Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 i.V.m. § 135 Abs. 1 SGB V wird nicht nur geregelt, unter welchen Voraussetzungen die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Leistungserbringer neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der Krankenkassen erbringen und abrechnen dürfen. Vielmehr legen diese Richtlinien auch den Umfang der den Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten ambulanten Leistungen verbindlich fest (vgl. BSG a.a.O.).

a) Dies zugrunde legend ist hier - wie auch das Sozialgericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat - von wesentlicher Bedeutung, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, die der GBA für die Anwendung der LDL-Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung aufgestellt hat.

Die einschlägige Vorschrift (§ 3 Abs. 2 der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Verordnung - NUB-RiLi) lautet: "LDL-Apheresen bei isolierter Lp(a)-Erhöhung können nur durchgeführt werden bei Patienten mit isolierter Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich sowie gleichzeitig klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierter progredienter kardiovaskulärer Erkrankung (koronare Herzerkrankung, periphere arterielle Verschlusskrankheit oder zerebrovaskuläre Erkrankungen)."

Was die Voraussetzungen "isolierte Lp(a)-Erhöhung über 60 mg/dl und LDL-Cholesterin im Normbereich" angeht, kann nach den vorliegenden Befundunterlagen, insbesondere den Berichten der Dr. K, des K-Krankenhauses S und des Dr. T davon ausgegangen werden, dass diese erfüllt sind. Dies wird auch von der Antragsgegnerin nicht in Abrede gestellt.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht jedoch das gleichzeitige Vorliegen einer (klinisch und durch bildgebende Verfahren dokumentierten) progredienten kardiovaskulären Erkrankung für glaubhaft gemacht gehalten.

aa) Dabei ist der Begriff "progredient" ausgehend von seinem Wortsinn (= progressiv = sich in einem bestimmten Verhältnis allmählich steigernd, entwickelnd - vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/) und seiner grammatischen Herleitung (Partizip Präsenz Aktiv von progredi) im Sinne von fortschreitend (und nicht etwa von fortgeschritten) zu verstehen. D.h. es muss hier über einen gewissen Zeitraum (klinisch oder durch bildgebende Verfahren) eine Verschlechterung der kardiovaskulären Erkrankung festgestellt sein. Daran fehlt es.

bb) Man mag zwar aufgrund des im Sommer 2017 bei dem Antragsteller stattgehabten Hinterwandinfarktes und der in diesem Zusammenhang erhobenen Befunde sowie der fortbestehenden isolierten Lp(a)-Erhöhung bei Zweigefäßerkrankung mit dem Sozialgericht vermuten, dass ein fortschreitender kardiovaskulärer Krankheitsprozess bei dem Antragsteller bestand (und ggf. auch weiter besteht).

Dies ist zur Erfüllung der noch offenen Voraussetzung des § 3 Abs. 2 NUB-RiLi jedoch aus folgenden Gründen nicht als hinreichend:

(1) Zum einen fehlt es an der nach dem Wortlaut der Richtlinie ausdrücklich geforderten Dokumentation einer Progredienz des Krankheitsbildes klinisch und durch bildgebende Verfahren. Denn seit dem stationären Aufenthalt des Antragstellers im K-Krankenhaus S vom 22. bis 25.08.2017 hat eine invasive Kontroll-Koronarangiographie bislang nicht stattgefunden. Eine solche war zwar - für Anfang Januar 2018 - vorgesehen (vgl. Entlassungsbericht des K-Krankenhauses vom 25.08.2017), wurde aber zurückgestellt, nachdem sich der Kläger im Dezember 2017 dort noch einmal mit Beschwerden vorgestellt, sich dabei aber "kein Verdacht auf das Vorliegen eines relevanten Progresses der bekannten KHK" ergeben hatte (vgl. Entlassungsbericht des K-Krankenhauses vom 14.12.2017). Dies bedeutet gleichzeitig, dass die von dem Antragsteller anlässlich der erneuten Aufnahme im K-Krankenhaus im Dezember 2017 geäußerten Beschwerden von den dortigen Ärzten nicht als (klinische) Hinweise auf eine Verschlechterung der Herzerkrankung gedeutet wurden. Dasselbe gilt für die von dem Antragsteller im Rahmen der ambulanten Reha-Maßnahme (vom 25.09. bis 23.10.2017) angegebenen Beschwerden, die von den Ärzten der Reha-Klinik zu beurteilen waren (vgl. dazu den Reha-Entlassungsbericht der Klinik Königshof vom 23.10.2017).

Auch die vom Sozialgericht ausdrücklich hierzu befragten Ärzte (der Arzt S, die Lipodologin Dr. K und Dr. M - Oberarzt der Klinik für Kardiologie des K-Krankenhauses) konnten in ihren Befundberichten vom 03.09.2018, vom 07.09.2018 und vom 06.09.2018 eine Progredienz der kardiovaskulären Erkrankung des Antragstellers nicht bestätigen.

Aus der von dem Antragsteller erstinstanzlich vorgelegten Niederschrift der öffentlichen Sitzung des 11. Senats des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in dem Verfahren L 11 KR 678/11 lässt mit Blick auf den hier angelegten Maßstab nichts anderes ableiten. Der Senat hat es in dem dortigen Fall (durch bildgebende Verfahren) für erwiesen gehalten, dass bis zur Aufnahme der Apheresebehandlung eine progrediente kardiovaskuläre Erkrankung bestanden hat. Dies ist hier - wie ausgeführt - jedoch gerade nicht der Fall.

(2) Unabhängig davon, dass es - wie ausgeführt - auch insoweit an einer Dokumentation der Verschlechterung über einen gewissen Zeitraum fehlt, kann allein aus dem Infarktereignis im Sommer 2017 jedenfalls nicht ohne weiteres auf eine Progredienz der Erkrankung im Sinne von § 3 Abs. 2 NUB-RiLi (für den danach folgenden Zeitraum) geschlossen werden. Denn bis zu dem Infarkt war die Erkrankung bei dem Antragsteller noch unerkannt. Während des stationären Aufenthaltes vom 22. bis 25.08.2017 wurden ihre Auswirkungen (in Form eines Verschlusses bzw. einer Stenose) mittels zweier invasiver Eingriffe (RCX-PCI und RIVA-D2-PCI) erfolgreich therapiert, wodurch für die vorliegende Betrachtung eine Zäsur eingetreten ist. D.h. es ist zu beurteilen, ob es ab diesem Zeitpunkt (ggf. erneut) zu einer Progredienz der inzwischen (weiter) therapierten Erkrankung gekommen ist. Dies lässt sich aber bislang allenfalls vermuten, nicht jedoch feststellen (s.o.).

(3) Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass gerade die insbesondere von Dr. K und im Anschluss daran vom Sozialgericht geäußerte "plausible Vermutung", dass ein stark erhöhter Lp(a)-Wert zu einer weiteren Zunahme von atherosklerotischen Veränderungen und damit zu einem erhöhten Infarktrisiko führen kann, der Ausgangspunkt für die Regelung des § 3 Abs. 2 NUB-RiLi, die der GBA nach wiederholter Gesamtbewertung der Apherese bei isolierter Lp(a)-Erhöhung (durch Beschluss vom 19.06.2008) in die Richtlinie aufgenommen hat, gewesen ist. Allein diese Vermutung kann also den Leistungsanspruch nicht begründen.

In den tragenden Gründen (abrufbar unter https://www.g-ba.de/downloads/40-268-652/2008-06-19-RMvV-Apherese TrG.pdf) zu dem Beschluss vom 19.06.2008 heißt es dazu (unter 2.5): "Mittlerweile liegen zwar deutlichere Hinweise für einen Kausalzusammenhang der schwereren isolierten Erhöhung des Lp(a) mit kardiovaskuläre Erkrankungen, aber weiterhin kein eindeutiger Nutzenbeleg für die Apheresebehandlung bei isolierter Erhöhung des Lp(a) vor. Nach Abwägung aller vorliegenden Informationen hält der GBA die Aufnahme der Apheresebehandlung bei isolierter Erhöhung des Lp(a) in die vertragsärztliche Versorgung unter [ ...] eng definierten Voraussetzungen trotzdem für gerechtfertigt, die sämtlich erfüllt sein müssen. [ ...] Da die Höhe des Lp(a)-Blutspiegels mit kardiovaskulären Ereignisraten korreliert, ist die Festlegung eines Schwellenwerts erforderlich. Basierend auf den ausgewerteten epidemiologischen Studien und den Angaben der Experten aus dem Stellungnahmeverfahren anlässlich der Veröffentlichung des Beratungsthemas wird der Schwellenwert auf 60 mg/dl festgelegt. Die Höhe des Lp(a)-Blutspiegels allein reicht nicht aus, um die Indikation zur Lp(a)-Apherese stellen zu können, da er keinen sicheren Krankheitswert besitzt. Dies lässt sich im Wesentlichen auf die verschiedenen Isoformen des Lp(a), die nach Auffassung von Experten nicht alle in gleichem Maße krankheitsauslösend sind, zurückführen. Deshalb muss neben dem Überschreiten des definierten Schwellenwerts gleichzeitig die Progredienz einer kardiovaskulären Erkrankung gefordert werden."

b) Ungeachtet des in § 135 Abs. 1 SGB V aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt (s.o.) kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Leistungspflicht der Krankenkasse ausnahmsweise dann bestehen, wenn die fehlende Anerkennung einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode darauf zurückzuführen ist, dass das Verfahren vor dem GBA trotz Erfüllung der für eine Überprüfung notwendigen formalen und inhaltlichen Voraussetzungen nicht oder nicht zeitgerecht durchgeführt wurde (sog. Systemversagen, vgl. BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 1 KR 24/06 R sowie § 135 Abs.1 S. 2 S. 4 f. SGB V). Für ein solches Systemversagen sind hier jedoch keine Anhaltspunkte ersichtlich oder von dem Antragsteller auch nur behauptet.

2. Sind die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch des Antragstellers unter dem Gesichtspunkt einer neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethode oder eines Systemversagens nicht erfüllt, könnte er sich für sein Begehren nur noch auf § 2 Abs. 1a SGB V stützen, wonach Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen können, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, weil es nach Auffassung des erkennenden Senats (jedenfalls derzeit) an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung mangelt. Kardiovaskuläre Erkrankungen können zwar durchaus den Charakter einer lebensbedrohlichen Erkrankung haben (so etwa ausdrücklich die tragenden Gründe zu dem Beschluss des GBA vom 19.06.2008 - a.a.O. unter 2.3 sowie der von dem Antragsteller vorgelegte Beschluss des BVerfG vom 06.02.2007 - 1 BvR 3101/06). Hier erreicht die Erkrankung aber nicht einen solchen Schweregrad, dass von (unmittelbarer) Lebensbedrohlichkeit gesprochen werden könnte. Denn diagnostisch liegt nach dem invasiven Eingriff im August 2017 zwar immer noch eine Zweigefäßerkrankung vor, wobei das Herz jedoch eine gute linksventrikuläre Pumpfunktion aufweist (Reha-Entlassungsbericht der Klinik Königshof vom 23.10.2017). Von den Ärzten dieser Klinik wurde dem Antragsteller eine körperliche Belastbarkeit für sogar mittelschwere Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von mehr als sechs Stunden täglich bescheinigt.

Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass seit der Operation mit Stent-Versorgung der beiden betroffenen Koronararterien alle drei Koronararterien wieder funktionsfähig sind und die Ärzte des K-Krankenhauses S den gesundheitlichen Status des Antragstellers im Dezember 2017 als so gefestigt ansahen, dass sie auf die ursprünglich geplante Herzkatheteruntersuchung zur Kontrolle verzichteten (s.o.).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich damit wesentlich von dem Sachverhalt, der der Entscheidung des BVerfG (a.a.O.) zugrunde lag. Dort waren zwei Koronararterien vollständig und die dritte (trotz Stent-Versorgung) zu 30% verschlossen. Zusätzlich bestanden - anders als hier - noch zunehmende angina pectoris - Beschwerden schon bei leichter Belastung sowie eine beide Beine betreffende periphere arterielle Verschlusskrankheit.

3. Nach alledem ist es dem Antragsteller jedenfalls zumutbar, nach Durchführung bildgebender diagnostischer Maßnahmen, ggf. den Nachweis der Progredienz seiner koronaren Herzerkrankung im Sinne von § 3 Abs. 2 NUB-RiLi zu führen.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

III. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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