L 6 VG 2445/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 VG 2181/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 2445/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27. März 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1981 geborene Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht.

Sie beantragte beim Landratsamt M-Kreis am 6. Dezember 2010 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfer von Gewalttaten (OEG). Sei leide an sozialen Ängsten, solchen vor dem Alleinsein und weise Tendenzen eines Borderline-Syndroms auf. Es bestehe eine Autoaggression. Gegenüber ihren Kindern habe sie die Tendenz, sie zu sehr zu behüten. In Alltagssituationen sei sie überfordert. Diese Beeinträchtigungen seien auf den sexuellen Missbrauch mit Gewaltandrohungen durch M.B. 1986 und T.H. 1995 zurückzuführen. Sie habe jeweils Anzeige erstattet, woraufhin polizeiliche Ermittlungen aufgenommen worden seien.

Nachdem der Verwaltungsträger erfolglos versucht hatte, einen Besprechungstermin mit der Klägerin durchzuführen und sie auf mehrere Anfragen nicht antwortete, wies er sie mit Schreiben vom 15. Juni 2011 auf die Folgen einer fehlenden Mitwirkung hin. Nachdem sie hierauf nicht reagierte, versagte er ihr mit Bescheid vom 8. Juli 2011 Leistungen nach dem OEG.

Den Antrag der Klägerin vom 19. Februar 2014, den Verwaltungsakt vom 8. Juli 2011 im Rahmen des Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu überprüfen, lehnte das Landratsamt M-Kreis mit Bescheid vom 21. Februar 2014 ab. Der Widerspruch wurde durch das Regierungspräsidium S. mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2014 zurückgewiesen.

Hiergegen hat die Klägerin am 24. Juni 2014 Klage beim Sozialgericht Heilbronn erhoben, welches die Mutter der Klägerin und M.B. als Zeugin und Zeuge sowie Dr. W., praktischer Arzt, als sachverständigen Zeugen gehört hat. Zudem hat es Prof. Dr. S., Chefarzt der Klinik Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatik I des Psychiatrischen Zentrums N., mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, wonach eine schädigungsbedingte posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) vorliege, welche einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 20 zur Folge habe.

In der mündlichen Verhandlung am 27. März 2018 hat die anwaltlich vertretene Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2014 die Verurteilung des Beklagten, ihr "eine Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 25 zu gewähren", verfolgt. Daraufhin hat das SG die Klage durch Urteil abgewiesen. Ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung bestehe nicht, weil die Schädigungsfolgen keinen leistungsberechtigenden GdS von 30 erreichten.

Gegen die ihrer Bevollmächtigten am 11. Juni 2018 zugestellte Entscheidung hat die Klägerin am 11. Juli 2018 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, die schädigungsbedingten Funktionsstörungen rechtfertigten einen GdS von 25, welcher zu Leistungen nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) berechtige. Das SG habe demgegenüber einen GdS von mindestens 30 vorausgesetzt, worauf es zuvor nicht hingewiesen habe. Hierin liege eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Es habe zudem gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen, indem es das Gutachten des Sachverständigen kritiklos und ohne Korrektur übernommen habe, obwohl vor dessen Beauftragung abgesprochen worden sei, dass sein strenger Maßstab angemessen berücksichtigt werde.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 27. März 2018 und den Bescheid vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2014 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, ihr Begehren sei nicht begründet.

Mit Schreiben vom 6. Dezember 2018 ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass der Senat die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ihr ist die Absicht kundgetan worden, dass nicht vor Ablauf des 31. Dezember 2018 im Wege des Beschlussverfahrens entschieden wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die Verwaltungsakte des Beklagten (1 Band, 1 Heft) verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung nach § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter durch Beschluss, da die Berufsrichterin und Berufsrichter des Senats dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten. Den Beteiligten ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu dieser Verfahrensweise gegeben worden. Zudem ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass die Berufung wenig aussichtsreich erscheint (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1999 - B 13 RJ 25/99 R -, SozR 3-1500 § 153 Nr. 9, S. 27).

Ihr Rechtsmittel ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden, indes teilweise unzulässig und im Übrigen unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Urteil des SG vom 27. März 2018, mit dem die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, § 56 SGG) erhobene Klage, mit welcher die Klägerin unter Aufhebung des Bescheides vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2014 (§ 95 SGG) die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung "einer Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 25" verfolgte, abgewiesen wurde. Maßgebend für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist für diese Klageart grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 - B 6 KA 34/08 R -, BSGE 104, 116 (124); Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34), mangels Durführung einer solchen derjenige der Entscheidung.

Die Berufung ist unzulässig, soweit die Klägerin neben der Gewährung einer Beschädigtengrund- und Ausgleichsrente weitere Leistungen nach dem Opferentschädigungsrecht begehrt.

Für die Auslegung einer Prozesshandlung wie einem Klageantrag ist § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend anzuwenden (BSG, Urteile vom 22. März 1988 - 8/5a RKn 11/87 -, BSGE 63, 93 (94) und vom 13. März 1991 - 6 RKa 20/89 -, BSGE 68, 190 (191)). Danach ist nicht an dem Wortlaut einer Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, soweit er für das Gericht und die Beteiligten erkennbar ist. Dabei muss der für diese wahrnehmbare gesamte Klagevortrag einschließlich der Verwaltungsvorgänge herangezogen werden (BSG, Urteil vom 22. März 1988 - 8/5a RKn 11/87 -, BSGE 63, 93 (94 f.); Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a. a. O., § 92 Rz. 12). Danach entschied das SG einzig über ein Recht auf Beschädigtengrund- und Ausgleichsrente nach dem OEG in Verbindung mit § 31 Abs. BVG. Denn einzig diese Leistungsrechte setzen voraus, dass ein bestimmter GdS eintrat (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31, § 32 BVG). Die von der Klägerin im Berufungsverfahren angeführten weiteren Leistungen wie etwa Heil- und Krankenbehandlung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 1, §§ 10 bis 24a BVG) erfordern dies demgegenüber nicht. Über diese Begehren entschied das SG nach Auslegung folglich nicht, weshalb die Berufung insoweit mangels Beschwer durch die angefochtene erstinstanzliche Entscheidung unzulässig ist (vgl. hierzu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, a. a. O., Vor. § 143 Rz. 5 ff.).

Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet.

Soweit die Klägerin mit der zulässigen Berufung die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung einer Beschädigten- und Ausgleichsrente wegen der Folgen der schädigenden Einwirkungen aufgrund des sexuellen Missbrauchs durch M.B. und T.H. erstrebte (§ 123 SGG), ist diese mangels Zulässigkeit der Klage unbegründet. Die Ausgangsbehörde entschied mit dem angefochtenen Bescheid vom 21. Juni 2014 nicht über diese Leistungsrechte. Demgegenüber lehnte sie es lediglich ab, die Verwaltungsentscheidung vom 8. Juli 2011 zurückzunehmen, mit der die Beschädigtenversorgung mangels Mitwirkung versagt wurde (§ 66 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I; vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand: September 2018, § 66 SGB I, Rz. 31). Damit liegen die Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht vor. Die Klägerin ist, bezogen auf die gegen den Bescheid vom 21. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juni 2014 gerichtete Anfechtungsklage, nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG. Es reicht zwar aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und Rechtsschutzsuchende die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstreben, von der sie behaupten, sie sei nicht rechtmäßig (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SB 2/06 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 5, Rz. 18). An der Klagebefugnis fehlt es demgegenüber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 14. November 2002 - B 13 RJ 19/01 R -, BSGE 90, 127 (130)), weil hinsichtlich des Klagebegehrens keine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung vorliegt (BSG, Urteil vom 21. September 2010 - B 2 U 25/09 R -, juris, Rz. 12). Solange der zuständige Verwaltungsträger nicht hierüber entschieden hat, können Betroffene, außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (§ 88 SGG), welche vorliegend mangels eines entsprechenden hinreichenden Begehrens im Verwaltungsverfahren nicht ersichtlich ist, kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung haben. Die Unzulässigkeit der Anfechtungsklage zieht diejenige der mit ihr kombinierten Leistungsklage nach sich. Das SG hatte daher überflüssig eine Sachprüfung vorgenommen.

Daher war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved