S 5 AS 23/14

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 5 AS 23/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 498/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 AS 407/17 B
Datum
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 27.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2014 wird aufgehoben.

Der Beklagte hat den Klägern ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um eine Aufhebung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Kläger zu 1. war bis 1993 als Geschäftsstellenleiter einer Elektrofirma pflichtversicherungsfrei beschäftigt. Nach Verlust seines Arbeitsplatzes und anschließender 2- jähriger Arbeitslosigkeit nahm er eine selbständige Tätigkeit auf, die jedoch nicht bedarfsdeckend war. Im Jahr 2005 beantragten die Kläger Leistungen nach dem SGB II. Sie waren zu diesem Zeitpunkt 55 Jahre alt (Kläger zu 1.) bzw. 51 Jahre alt (Klägerin zu 2.). In dem Antrag gaben sie an, neben anderen Vermögenswerten, auch über eine Lebensversicherung bei der D. (früher E. Versicherung) zu verfügen. Versicherungsbeginn war ausweislich des vorgelegten Versicherungsscheins der 01.07.1990; Versicherungsablauf der 01.07.2013. Der Rückkaufswert zu diesem Zeitpunkt betrug 28.973,99 EUR. In einem Aktenvermerk vom 15.12.2005 wurde von Seiten des Beklagten festgestellt, dass der Kläger zu 1. als Selbständiger auf die Lebensversicherung als Altersvorsorge angewiesen und das Vermögen damit nach § 12 SGB II begünstigt sei. Im Folgenden wurden fortlaufend Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung dieses Vermögens bewilligt.

Mit Bescheid vom 20.06.2013 wurden den Klägern unter Anrechnung eines Einkommens aus selbständiger Tätigkeit vorläufig Leistungen für den Leistungszeitraum 01.07.2013 bis 31.12.2013 in Höhe von 932,- EUR monatlich bewilligt. Die vorläufige Bewilligung erfolgte aufgrund der selbständigen Tätigkeit des Klägers zu 1. Dabei wurde jeweils der Regelbedarf in Höhe von 345,00 EUR, sowie Kosten der Unterkunft in Höhe von 345,00 EUR zuzüglich Heizkosten in Höhe von 57,00 EUR berücksichtigt.

Nachdem der Kläger zu 1. die Auszahlung der Versicherungssumme angezeigt hatte, teilte er mit Schreiben vom 21.08.2013 auf Nachfrage des Beklagten mit, dass er außer der fälligen Lebensversicherung über keine weiteren Vermögenswerte verfüge.

Mit Bescheid vom 27.08.2013 wurde der Bescheid vom 20.06.2013 mit Wirkung zum 01.09.2013 aufgehoben. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass aus der Lebensversicherung ein Betrag in Höhe von 55.000,- EUR ausbezahlt worden sei. Dieser Betrag müsse vorrangig für den Lebensunterhalt eingesetzt werden, da kein Verwertungsausschluss bestehe und auch keine besondere Härte vorliege.

Mit Schreiben vom 05.09.2013 legten die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid ein und führten aus, dass das Vermögen zur Sicherung der Lebensgrundlage im Alter bestimmt sei. Aufgrund ihrer Erwerbsbiografie würden sie im Rentenalter nur eine geringe gesetzliche Rente erhalten. Daher sei die Lebensversicherung angespart worden. Der sofortige Verbrauch stelle daher eine besondere Härte dar.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 27.01.2014 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Zufluss der Versicherungssumme in Höhe von 55.000,- EUR als Vermögen zu qualifizieren sei, welches keinem Verwertungsausschluss unterliege. Der Kläger habe den Auszahlungszeitpunkt auf das 63. Lebensjahr festgelegt und damit bestimmt, dass er unabhängig von den gesetzlichen Rentenaltersgrenzen in den Ruhestand eintreten wolle. Damit diene die ausgezahlte Versicherungssumme genau dem Zweck, zu dem sie angespart worden sei.

Hiergegen haben die Kläger am 04.02.2014 Klage erhoben und vorgebracht, ihr Vermögen sei als Altersvorsorgevermögen zu qualifizieren. Dies ergebe sich zum einen aus ihrem Lebensalter und zum anderen aus der Tatsache, dass der Kläger zu 1. langjährig pflichtversicherungsfrei erwerbstätig gewesen sei. Ab dem 19.05.2015 werde er – laut Auskunft der Deutschen Rentenversicherung - eine Altersrente in Höhe von 716,84 EUR (brutto) erhalten, die Klägerin zu 2. ab dem 01.10.2019 eine monatliche Rente in Höhe von 326,56 EUR (brutto). Im Übrigen sei die Versicherung ab dem Jahr 2005 auch aus der Regelleistung bedient worden, so dass nun Vermögen angerechnet werde, welches eigentlich zur Sicherung des Lebensunterhaltes diente. Dies sei nur im Vertrauen darauf erfolgt, dass die Versicherung erst bei Beginn der Regelaltersrente verbraucht werden müsse. Andernfalls wäre die Versicherung nämlich ruhend gestellt und die Leistungen vollständig für den Lebensunterhalt verbraucht worden.

Sie beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 27.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2014 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.05.2016 hat der Kläger einen Rentenbescheid vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass er bis zum 30.06.2015 eine Rente in Höhe von 728,90 EUR brutto (= 652,- EUR netto) und ab 01.07.2015 eine Rente in Höhe von 744,18 EUR brutto (= 665,67 EUR netto) erhalten hat. Darüber hinaus hat er mitgeteilt auch noch eine Betriebsrente in Höhe von 90,49 EUR zu beziehen und dies anhand einer Entgeltabrechnung nachgewiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage, ist begründet.

Der Aufhebungsbescheid vom 27.08.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.01.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Denn die Kläger haben einen Anspruch auf die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II auch über den 30.08.2013 hinaus.

Rechtsgrundlage der Aufhebungsentscheidung ist § 48 SGB X. Die Leistungen aus der Versicherung bei der D. sind den Klägern im Juli 2013 zugeflossen, mithin nach erstmaliger Bewilligung der Leistungen am 20.06.2013.

Danach darf ein Verwaltungsakt für die Zukunft aufgehoben werden, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche Änderung kann insbesondere in der Erzielung von Einkommen oder Vermögen liegen, sofern dies zu einer Minderung oder einem Wegfall des Leistungsanspruchs führt. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung liegen jedoch nicht vor. Der Bewilligungsbescheid vom 20.06.2013 ist nicht wegen der Erzielung von Vermögen aufzuheben, da die zugeflossene Summe aus der Lebensversicherung den Leistungsanspruch nicht ausschließt.

Bei dem Auszahlungsbetrag aus der Lebensversicherung handelt es sich – wie der Beklagte zutreffend angenommen hat - nicht um Einkommen, welches nach § 11 SGB II auf die Leistungsansprüche der Kläger anzurechnen gewesen wäre, sondern um Vermögen im Sinne des § 12 SGB II.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind als Einkommen zu berücksichtigen Einnahmen in Geld oder Geldeswert. Als Vermögen sind nach § 12 Abs. 1 SGB II alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II grundsätzlich alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er vor Antragstellung bereits hatte (vgl. BSG, Urteil vom 30.09.2008 - B 4 AS 29/07 R). Gemessen daran handelt es sich bei der Versicherung um Vermögen - und zwar auch dann, wenn ein Überschuss ausgezahlt wird (BSG, Urteil vom 30.03.2008 - B 4 AS 57/07 R). Denn während der Laufzeit des Vertrages steht dem Versicherungsnehmer eine Verfügungsbefugnis über bereits zugeteilte Überschüsse nicht zu. Diese erfolgt erst bei Kündigung bzw. Ablauf der Versicherung, wenn der Versicherungsnehmer Anspruch auf Auszahlung des Rückkaufswertes hat, dessen Bestandteil Überschussbeteiligung und Bewertungsreserven sind. Dementsprechend ist kein Grund ersichtlich, sie rechtlich anders zu beurteilen als den übrigen Rückkaufswert der Lebensversicherung, der als Vermögen zu qualifizieren ist (Thüringer LSG, Urteil vom 13. 11.20 14 - L 9 AS 678/ 12).

Hinsichtlich der Verwertung der Versicherungsleistung sind jedoch die Voraussetzungen für eine Verschonung des Vermögens gemäß § 12 Abs. 3 Nr. 6, 2. Var. erfüllt. Danach ist Vermögen nicht zu berücksichtigen, soweit die Verwertung für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde. Der Zweck der "Härteregelung" ist es, eine Möglichkeit zu schaffen, besondere Härtefälle angemessen zu lösen (Bundestagsdrucksache 15/1749, Seite 32). Dadurch soll - ähnlich wie gemäß § 88 Abs. 3 Satz 1 BSHG (jetzt § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) - dem Hilfebedürftigen ein gewisser Spielraum in seiner wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit belassen und so ein wirtschaftlicher Ausverkauf und eine Lähmung des Selbsthilfewillens verhindert werden (zum BSHG Bundesverwaltungsgericht 23, 149, zitiert nach juris, Rdnr. 42). Der Begriff der "besonderen Härte" ist nach dem Regelungszweck und anhand der Leitvorstellung auszulegen, die den ausdrücklichen Ausnahmen von der Berücksichtigung nach § 12 Abs. 3 Satz 1 SGB II zugrunde liegen. Eine Härte liegt demnach vor, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalles, wie z. B. Art, Schwere, Dauer der Hilfe, das Alter, der Familienstand oder die sonstigen Belastungen des Vermögensinhabers und seinen Angehörigen eine typische Vermögenslage zu einer besonderen Situation wird, weil die soziale Stellung des Hilfesuchenden insbesondere wegen einer Behinderung, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit nachhaltig beeinträchtigt ist (BSG vom 11.12.2007, a.a.O., m.w.N.).

Die Herkunft des Vermögens ist grundsätzlich irrelevant, so dass auch aus Sozialleistungen angespartes Vermögen regelmäßig verwertet werden muss (vgl. Bay. LSG, Urteil vom 21.11.2014 – L 8 SO 5/14).

Das BSG (Urteil vom 15. April 2008, B 14/7 b AS 52/06 R, Rn. 32 f., zitiert nach juris) hat zum Begriff der besonderen Härte Folgendes ausgeführt:

"Bei dem Begriff der besonderen Härte handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. BSG Urteil vom 8. Februar 2007 - B 7a AL 34/06 RdNr. 13 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des 11b. Senats des BSG (Urteil vom 16. Mai 2007 - B 11b AS 37/06 R - SozR 4-4200 § 12 Nr. 4) - der sich der erkennende Senat anschließt - richtet es sich nach den Umständen des Einzelfalls, ob von einer besonderen Härte i.S. des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 2. Alt SGB II auszugehen ist. Maßgebend sind dabei nur außergewöhnliche Umstände, die nicht durch die ausdrücklichen Freistellungen über das Schonvermögen (§ 12 Abs. 3 Satz 1 SGB II, § 4 Abs. 1 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung idF vom 20. Oktober 2004 (Alg II-V)) und die Absetzungsbeträge nach § 12 Abs. 2 SGB II erfasst werden (vgl. Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 12 RdNr 87). § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II setzt daher voraus, dass die Umstände dem Betroffenen ein deutlich größeres Opfer abverlangen als eine einfache Härte und erst recht als die mit der Vermögensverwertung stets verbundenen Einschnitte (etwa die Betreuungspflege bedürftiger Personen, vgl. Nachweise bei Brühl in LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 12 RdNr. 55 ff; auch Behrend in jurisPK-SGB II, 2005, § 12 RdNr. 52). Nach den Gesetzesmaterialien liegt ein Härtefall iS des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 2. Alt SGB II zB dann vor, wenn ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger kurz vor dem Rentenalter seine Ersparnisse für die Altersvorsorge einsetzen muss, obwohl seine Rentenversicherung Lücken wegen selbstständiger Tätigkeit aufweist (BT-Drucks 15/1749 S 32). Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers im Beispielsfall ist mithin nicht allein der Verlust der Altersvorsorge und dessen Zeitpunkt, sondern beides nur zusammen mit der Versorgungslücke geeignet, eine besondere Härte iS des § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II darzustellen. Es sind also nur besondere, bei anderen Hilfebedürftigen regelmäßig nicht anzutreffende Umstände beachtlich und in ihrem Zusammenwirken zu prüfen."

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dass die Lebensversicherung der Altersabsicherung dienen sollte, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich auch aus den objektiven Umständen. Insoweit ist von Belang, dass der Beklagte selbst schriftlich bestätigt hat, dass es sich um begünstigtes Vorsorgevermögen handelt. Darüber hinaus war der Kläger zu 1. bei Auszahlung der Versicherung 63 Jahre alt und stand damit kurz vor dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Selbst wenn in dieser Zeit noch eine Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt erfolgt wäre, hätte dies nicht dazu geführt, dass der Kläger zu 1. eine wesentlich höhere Rentenanwartschaft hätte erwerben können. Das Erwerbsleben des Klägers ist ferner durch lange Zeiten der selbständigen bzw. nicht pflichtversicherten Tätigkeit gekennzeichnet. Aufgrund dieser langjährigen pflichtversicherungsfreien Tätigkeit hat der Kläger zu 1. lediglich einen Rentenanspruch, welcher den Bedarf der Familie nicht deckt. Würde daher die Lebensversicherung vorzeitig verbraucht werden müssen, so wären die Kläger im Rentenalter ergänzend auf Grundsicherungsleistungen angewiesen, was durch den Abschluss der Versicherung gerade vermieden werden sollte. Der Bedarf der Kläger belief sich bei Eintritt in den Ruhestand am 19.05.2015 insoweit auf 1.122,- EUR. Die Rentenleistungen beliefen sich hingegen auf insgesamt 742,49 EUR, bzw. 756,16 EUR ab 01.07.2015. Es besteht daher ein Defizit von 379,51 EUR, bzw. 365,84 EUR. Selbst unter Berücksichtigung der Rente der Klägerin zu 2. ab dem 01.10.2019 in Höhe von 326,56 EUR (brutto) verbliebe ein Differenzbetrag, der -auch unter Berücksichtigung etwaiger Rentenerhöhungen- wegen der regelmäßigen Anpassung der Regelbedarfsstufen, bestehen bleibt. Durch die ergänzende Verwendung der Versicherungssumme nach Eintritt des Rentenalters ist es den Klägern hingegen möglich, ohne ergänzende Grundsicherung auszukommen. Müsste das Vermögen dabei schon ab dem Auszahlungszeitpunkt verwertet werden, wäre ein Großteil des Kapitalstamms verbraucht, bevor überhaupt die Rentenleistung einsetzt. Es wäre daher nicht sichergestellt, dass die Kläger dauerhaft ohne ergänzende Grundsicherungsleistungen auskommen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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