L 5 KR 112/18 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 29 KR 1636/17 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 112/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Der Eintritt der Genehmigungsfiktion für die Versorgung mit Cannabis setzt eine ärztliche Verordnung voraus.
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgericht München vom 21.02.2018 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ein Anspruch auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten.

Der Antragsteller, geboren 1962, leidet an den Folgen eines Polytraumas nach einem PKW-Unfall im Jahr 1984 sowie an einer entzündlichen Darmerkrankung. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hatte dem Antragsteller bereits am 10.11.2016 die Erlaubnis erteilt, Medizinial-Cannabisblüten zu erwerben.

Am 02.03.2017 (Eingangsstempel) beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für medizinisches Cannabis laut ärztlicher Verordnung. Am 06.03.2017 informierte die Antragsgegnerin den Antragsteller telefonisch, dass die gesetzliche Regelung für Cannabis auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung erst nach Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft trete.

Der behandelnde Arzt Dr. B. führte in einem Arztfragebogen unter dem 11.04.2017 aus, dass die bisherige Medikation unzureichend bzw. unverträglich gewesen sei. Verordnet werden sollen Medizinal-Cannabisblüten. In einer Stellungnahme vom 19.04.2017 gelangte der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) zu dem Schluss, dass anhand der vorgelegten Informationen eine schwerwiegende Erkrankung nicht bestätigt werden könne. Auch werde keine Begründung für eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. die Symptome gegeben. Die Antragsgegnerin lehnte daraufhin mit Bescheid vom 27.04.2017 die Versorgung mit Cannabis ab. Im Rahmen des anschließenden Widerspruchsverfahrens legte der Antragsteller weitere ärztliche Atteste und Befundberichte vor. Der MDK gelangte unter Würdigung dieser Unterlagen am 23.05.2017 zu dem Ergebnis, dass das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung nicht sicher bejaht werden könne. An dem Ergebnis der vorangegangenen Prüfung durch den MDK werde im Wesentlichen unverändert festgehalten. Die Antragsgegnerin wies daraufhin den Widerspruch zurück mit Widerspruchsbescheid vom 27.06.2017.

Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben zum Sozialgericht München (S 29 KR 1177/17) und vorgetragen, er erfülle die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Versorgung mit Cannabis-Blüten. Die bei ihm bestehende Erkrankung einer colitis ulcerosa verursache eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und die Knorpelschäden beider Kniegelenke sowie die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und muskulären Verspannungen stellten schwerwiegende Erkrankungen im Sinne dieser Vorschrift dar. Damit stehe dem Antragsteller ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der notwendigen Medizinal-Cannabis zu.

Das Sozialgericht hat mit Beweisanordnung vom 5.10.2017 den Internist Dr. W. M., M-Stadt, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Der Antragsteller hat eine Begutachtung im Hinblick auf die vorliegende Ausnahmegenehmigung für nicht erforderlich gehalten und ist dem anberaumten Termin zur körperlichen Untersuchung fern geblieben.

Am 30.10.2017 hat der Kläger einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache sei nicht zumutbar aufgrund der gravierenden Einschränkung der Lebensqualität und zu befürchtender Verschlechterungen des Gesundheitszustands.

In seinem Gutachten nach Aktenlage vom 23. Januar 2018 ist der Sachverständige Dr. M. zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Kläger keine schwer wiegende Erkrankung vorliege, die nicht standardisierten Maßnahmen zugeführt werden könne. Bei einem degenerativen Wirbelsäulensyndrom, aber auch bei einer Osteochondrose stünden zunächst konservative Maßnahmen wie Krankengymnastik, Ergotherapie, zum Teil auch Massagebehandlungen im Vordergrund, außerdem müsste zunächst eine orthopädische Mitbehandlung im Sinne einer intensivierten Schmerzbehandlung durchgeführt werden. Von Seiten des behandelnden Orthopäden würde eine OP-Indikation ausgeschlossen. Weitere Behandlungsmaßnahmen würden im vorliegenden Fall nicht debattiert und seien auch nicht dokumentiert. Andere wesentliche Erkrankungen seien nicht dokumentiert, es sei eine Sigmoiditis beschrieben, Morbus Crohn oder eine colitis ulcerosa mit entsprechender histologischer Bestätigung ließen sich nach den entsprechen Unterlagen nicht eindeutig nachweisen. Aber auch hier stünden standardisierte Maßnahmen zur Verfügung, eine Cannabistherapie sei hier völlig fehl am Platze. Hinsichtlich des Unfalls im Jahr 1987 gibt der Sachverständige zu bedenken, dass ein mittlerweile 30 Jahre zurückliegender Unfall mit entsprechenden Folgen nach menschlichem Ermessen als weitgehend ausgeheilt bewertet werden müsse. Somit sei im vorliegenden Fall nicht eine einzige Erkrankung zu erkennen, die auch nur im Ansatz die Notwendigkeit einer alternativen Therapiemaßnahme - wie zum Beispiel der Therapie mit Cannabisblüten - rechtfertigen könnte.

Der Antragsteller hat geltend gemacht, dass ohne vorläufigen Rechtsschutz eine deutliche Gefährdung entstehe gegenüber mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern. Selbst ein für den Antragsteller positiver Ausgang des Hauptsacheverfahrens würde dazu führen, dass die bis dahin eintretenden Nachteile nicht revidiert werden könnten. Zudem sei durch die behandelnden Ärzte nachgewiesen, dass mit schulmedizinischen Möglichkeiten die Abwendung der erheblichen Symptome, unter denen der Antragsteller leidet, nicht zu bewerkstelligen sein.

Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 21.02.2018 den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Dem Antragsteller stünden weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund zur Seite. Unter Berücksichtigung des im Hauptsacheverfahren eingeholten Gutachtens von Herrn Dr. M. sei ein Anspruch des Antragstellers auf Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten nicht glaubhaft.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 21.02.2018 aufzuheben und die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, den Antragsteller mit Medizinal-Cannabisblüten zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die Akte der Antragsgegnerin waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Ergänzend wird hierauf Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht erfolgreich. Das Sozialgericht hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Beschluss vom 21.02.2018 in rechtlich zutreffender Weise abgelehnt.

Nach § 86b Abs 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Da der Antragsteller die Versorgung mit Cannabisblüten als Arzneimittel begehrt, richtet sich die Gewährung des einstweiligen Rechtsschutzes auf den Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG. Die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des beim Sozialgericht München anhängigen Klageverfahrens (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 der Zivilprozessordnung). Bei der Prüfung des Anordnungsanspruches begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (vgl BVerfG vom 02.05.2005, 1 BvR 569/05). Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art 19 Abs 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

Wenn sich das Gericht an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, ist eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage vorzunehmen. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen.

Ein Anordnungsanspruch ist im vorliegenden Fall weder glaubhaft gemacht, noch in Anwendung des auch in Eilverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (BVerfG NZS 2009, 674, 676) ersichtlich.

1. Nach § 31 Abs 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a. nicht zur Verfügung steht oder
b. im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, und zudem eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Leistung bedarf bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist.

2. Ein Anordnungsanspruch auf Versorgung mit Cannabisblüten nach § 31 Abs 6 SGB V besteht schon deshalb nicht, weil es an einer vertragsärztlichen Verordnung fehlt. Der Antragsteller hat zwar die Versorgung mit Cannabisblüten beantragt und sein behandelnder Arzt hat dies auch befürwortet. Der Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung bedarf jedoch zu seiner Realisierung einer vertragsärztlichen Verordnung gemäß § 73 Abs 2 Nr 7 SGB V in entsprechender Form (BSG 16.12.1993, 4 RK 5/92, BSGE 73, 271 = SozR 3-2500 § 13 Nr 4).

Bei der hier streitigen Versorgung mit Cannabisblüten muss die Verordnung zudem auf einem Betäubungsmittelrezept erfolgen (§ 11 Abs 5 Satz 1 Arzneimittel-Richtlinie [AM-RL] iVm § 13 Abs 2 Satz 1 Betäubungsmittelgesetz [BtmG] und § 8 Abs 1 Satz 1 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung [BtMVV] vom 20.01.1998, idF von Art 43 Gesetz vom 29.03.2017, BGBl I, S 626), welches die in § 9 BtMVV vorgeschriebenen Angaben enthält (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 - L 11 KR 3414/17 ER-B -, Rn. 24, juris). Selbst ein Privatrezept bzw privatärztliches Betäubungsmittelrezept genügt hierfür nicht, denn diese bestätigen nur das Vorliegen der Voraussetzungen des Betäubungsmittelrechts, nicht aber die Voraussetzungen von § 31 Abs 6 SGB V.
Zwar ist es in der Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass in bestimmten Fällen eine "Vorab-Prüfung" möglich sein muss, ob die Krankenkasse die Verordnungskosten übernimmt, um auf diesem Wege das Risiko eines Regresses zu vermeiden. Diese "Vorab-Prüfung" kann zum einen vom Arzt selbst veranlasst werden, zum anderen durch den Versicherten, der ein Privatrezept erhält, mit dem er selbst bei seiner Krankenkasse die Kostenerstattung beantragt. (vgl. hierzu BSG 20.03.2013, B 6 KA 27/12 R, BSGE 113, 123 mwN). Das kann aber nicht gelten, wenn das Gesetz - wie vorliegend in § 31 Abs 6 SGB V - ausnahmsweise die Genehmigung einer Arzneimittelverordnung vorsieht. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine Vorab-Prüfung, sondern um eine endgültige Prüfung der vertragsärztlichen Verordnung (a.A. LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 06.03.2018- L 5 KR 16/18 B ER). Das Risiko eines Arzneiregresses stellt sich hier nicht, weil der Versicherte die Leistung bei einer Versagung der Genehmigung nicht als Sachleistung erhalten kann. Es besteht deshalb auch kein Grund für die Ausstellung eines Privatrezeptes. Auch der Umstand, dass das Betäubungsmittelrezept innerhalb von 7 Tagen nach seiner Ausfertigung bei der Apotheke vorgelegt werden muss (§ 12 Abs 1 Nr 1 Buchst. c) BtMVV) rechtfertigt es nicht, vom Erfordernis einer vertragsärztlichen Verordnung abzusehen. Nur wenn die Erst-Verordnung von der Krankenkasse genehmigt wird, bedürfen weitere Verordnungen keiner Genehmigungen mehr (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. September 2017 - L 11 KR 3414/17 ER-B -, Rn. 25, juris). Da der Kläger bislang keine vertragsärztliche Verordnung vorgelegt hat, fehlt es auch an einem hinreichend bestimmten Antrag, denn zur Versorgung mit Medizinal-Cannabisblüten stehen mehrere unterschiedliche Präparate zur Verfügung. Daher ist auch der Eintritt einer fingierten Genehmigung aufgrund Überschreitens der Genehmigungsfrist nach § 13 Abs. 3 a bzw. § 31 Abs. 6 S. 3 SGB V nicht weiter zu prüfen.

3. Darüber hinaus ist nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens von Dr. M. vom 23.01.2018 eine schwerwiegende Erkrankung, wie sie von § 31 Abs 6 Satz 1 SGB V gefordert wird, nicht bestätigt. Der Begriff der schwerwiegenden Erkrankung wird zwar in § 31 Abs. 6 SGB V nicht definiert. Nach der Gesetzesbegründung soll der Anspruch auf Versorgung mit Cannabisarzneimitteln jedoch nur in "eng begrenzten Ausnahmefällen" gegeben sein (BT-Drs 18/8965 S. 14 und 23). Es muss sich daher um eine Erkrankung handeln, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Das ist im Falle des Antragstellers gerade nicht dokumentiert sowie im Gutachten von Dr. M. nicht bestätigt. Auch eine besondere Eilbedürftigkeit ist nicht ersichtlich, zumal der Antragsteller über eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 des BtMG verfügt.

Die Beschwerde ist daher vollumfänglich zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar und beendet das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz.
Rechtskraft
Aus
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