S 43 SB 125/16

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
43
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 43 SB 125/16
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des bei ihm anerkannten Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 50.

Nachdem bei dem 1933 geborenen Kläger die Diagnose eines Blasentumors gestellt worden war, stellte dieser einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Mit Bescheid vom 31.10.1990 stellte die Beklagte einen Gesamt-GdB von 70 fest und berücksichtigte für das Nierensteinleiden, die chronische Vorsteherdrüsenvergrößerung und das chronische Harnblasenleiden einen Teil GdB von 60, für die Zuckerstoffwechselstörung einen Teil GdB von 30 und für den Bluthochdruck und das chronische Darmleiden jeweils einen Teil GdB von 10.

In den Jahren 1996, 2008 und 2010 kam es zu Rezidiven des Blasenkrebses.

Nach einem Glatteisunfall des Klägers im Jahre 2010 stellte die Beklagte mit Neufeststellungsbescheid vom 12.12.2012 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB von 80 ab 1.1.2010 fest. Führendes Leiden war dabei die Gewebeneubildung der Harnblase in Heilungsbewährung mit einem Teil GdB von 60. Außerdem wurde für den Diabetes mellitus ein Teil GdB von 50 sowie für den Bluthochdruck, das chronische Darmleiden und für den Hüftgelenksersatz rechts jeweils ein Teil GdB von 10 festgestellt. Im Bescheid wies die Beklagte darauf hin, dass für die Gewebeneubildung der Harnblase in Heilungsbewährung im Juli 2015 eine Nachprüfung vorgesehen sei. Im Stadium der Heilungsbewährung würde bei Erkrankungen, die zu Rückfällen neigen, bei der Bemessung des GdB für einen begrenzten Zeitraum nicht nur die objektiven Funktionsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen, sondern auch die besonderen Belastungen berücksichtigt. Nach Ablauf der Heilungsbewährung werde der GdB überprüft und entsprechend der dann vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen festgesetzt.

Dementsprechend leitete die Beklagte im September des Jahres 2015 von Amts wegen ein Überprüfungsverfahren ein und holte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte ein. Der Urologe Dr. K. berichtete am 20.7.2015, dass kein Rezidiv des Blasentumors aufgetreten sei. Die Mitomycin – Blaseninstillation werde aktuell alle zwei Monate durchgeführt. Es bestünden keine Beschwerden. Mit Schreiben vom 30.9.2015 hörte die Beklagte den Kläger zu der geplanten Neufeststellung ihres Bescheides mit einem Gesamt-GdB von 50 an. Ausschlaggebend für den GdB von 80 sei insbesondere das Auftreten einer Tumorerkrankung der Harnblase gewesen. Da damals auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung der Lebensführung mitbewertet worden seien, sei bei dem Kläger zunächst ein GdB höher als allein nach den objektiv vorliegenden Funktionseinschränkungen festgestellt worden. Aus den aktuellen medizinischen Unterlagen von Herrn Dr. K. gehe hervor, dass in den letzten Jahren seit der Erkrankung keine Rückfälle aufgetreten seien und sich der Gesundheitszustand insoweit stabilisiert habe. Die unmittelbar nach der Erkrankung für die Dauer der Heilungsbewährung grundsätzlich bewerteten Umstände beeinflussten den GdB nicht mehr. Der Kläger machte demgegenüber mit Schreiben vom 26.10.2015 geltend, dass seiner Auffassung nach kein stabiler Gesundheitszustand vorliege, solange regelmäßig therapiert werden müsse, um einen erneuten Ausbruch zu verhindern. Wie die Vergangenheit gezeigt habe, bestehe unverändert ein hohes Risiko der Bildung von Rezidiven, sodass alle zwei Monate Spülungen mit Mitomycin stattfänden, die körperlich und mental sehr belastend seien. Die Sorge der Neubildung von Krebszellen sei dadurch nicht genommen. Am 4.11.2015 erließ die Beklagte einen Neufeststellungsbescheid, mit dem sie die im Bescheid vom 12.12.2012 getroffenen Feststellungen mit Wirkung ab 11.11.2015 änderte und den Gesamt-GdB mit 50 neu feststellte. Zur Begründung verwies sie auf die eingetretene Veränderung des Gesundheitszustands aufgrund des erfolgreichen Ablaufs der Heilungsbewährung. Dagegen legte der Kläger am 17.11.2015 Widerspruch ein und machte geltend, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts eine Reduzierung eines festgestellten GdB nur erfolgen könne, wenn eine Wiedererkrankung auszuschließen sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 8.2.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Es sei auch bei gleichbleibenden Symptomen eine Neubewertung zulässig, weil der Ablauf der Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstelle. Nach rezidivfreiem Ablauf der Heilungsbewährung könne eine Harnblasenerkrankung nicht mehr festgestellt werden. Die alle zwei Monate erfolgende Spülung der Blase mit Mitomycin sei als Rezidivprophylaxe anzusehen.

Mit seiner am 3.3.2016 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und beantragt weiterhin die Beibehaltung des Gesamt-GdB von 80 auf Dauer. Er hat hierzu insbesondere auf eine Entscheidung des Sächsischen Landessozialgerichts (LSG) vom 25.5.2005 – L 6 SB 55/04 – verwiesen. Danach seien Statistiken, aus denen die übliche Heilungsbewährung abgeleitet werde, nur für das erste Rezidiv relevant. Bei erneutem Auftreten eines Rezidivs sei jedoch die statistische Wahrscheinlichkeit, dass auch in Zukunft weiter Rezidive auftreten würden, signifikant höher. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handele, erhöhe sich von Rezidiv auf Rezidiv.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid der Beklagten vom 04.11.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.02.2016 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie sich auf den Inhalt der Verwaltungsakte und die Gründe in den angefochtenen Bescheiden verwiesen.

Das Gericht hat zur Überprüfung des Gesundheitszustands des Klägers aktuelle Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Ferner hat die Kammer Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin, Herrn W ... Dieser hat nach Untersuchung des Klägers am 3.5.2017 in seinem Gutachten vom 10.5.2017 bei dem Kläger einen Gesamt-GdB für von 50 festgestellt. Hinsichtlich der Einzelheiten des Gutachtens wird auf Seiten 64 – 84 der Prozessakte verwiesen. Zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung hat das Gericht ein Gutachten nach Aktenlage von Herrn W. eingeholt. Auf den Inhalt seines Gutachtens vom 9.11.2018 (Seiten 107 – 110 der Prozessakte) wird verwiesen. Am 6.2.2019 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in welcher Herr W. gehört worden ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Beteiligten sowie wegen des Inhalts der mündlichen Verhandlung vom 6.2.2019 wird auf die Prozessakte der Kammer und den Inhalt der bei der Beklagten über den Kläger geführten Verwaltungsakte Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die als Anfechtungsklage zulässige Klage ist unbegründet. Vorliegend handelt es sich um eine reine Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Streitgegenstand ist allein das gegen die Herabsetzung des GdB von 80 auf 50 gerichtete Anfechtungsbegehren des Klägers. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung eines Bescheids im Rahmen der vorliegenden Anfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also des Zugangs des Widerspruchsbescheids vom 8.2.2016. Änderungen im Gesundheitszustand des Klägers nach diesem Zeitpunkt beeinflussen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids nicht.

Der angefochtene Bescheid ist weder formell noch materiell-rechtlich zu beanstanden. Die gemäß § 24 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) erforderliche Anhörung ist erfolgt. Auch materiell-rechtlich ist der Bescheid nicht zu beanstanden, da die Voraussetzungen des § 48 SGB X für eine Neufeststellung des GdB im entscheidungserheblichen Zeitpunkt (Zugang des Widerspruchsbescheids) vorgelegen haben. Danach ist ein – wie hier von Anfang an rechtmäßiger – Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Wege einer gebundenen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Ist – wie hier – die Zeit der Heilungsbewährung erfolgreich abgelaufen, haben sich die tatsächlichen Grundlagen des Bescheides über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft im Sinne dieser Vorschrift entscheidungserheblich geändert (vgl. hierzu Bundessozialgericht &61531;BSG&61533;, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 2/15 R – juris Rn. 13 m. w. N.).

Gemäß Teil B Nr. 1 c der Anlage "Versorgungsmedizinische-Grundsätze" (VMG) zur Versorgungsmedizin-Verordnung ist nach Behandlung bestimmter Krankheiten, die zu Rezidiven neigen, insbesondere bei bösartigen Geschwulsterkrankungen, eine Heilungsbewährung abzuwarten. Der Zeitraum der Heilungsbewährung beträgt in der Regel fünf Jahre, und zwar ab dem Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann. Die hinsichtlich der häufigsten und wichtigsten solcher Krankheiten angegebenen GdB-Anhaltswerte sind auf den "Zustand nach operativer oder anderweitiger Beseitigung der Geschwulst bezogen". Sie beziehen den "regelhaft verbleibenden Organ- oder Gliedmaßenschaden ein". Außergewöhnliche Folgen oder Begleiterscheinungen der Behandlung – z. B. langdauernde schwere Auswirkungen einer wiederholten Chemotherapie - sind zu berücksichtigen.

Bestehen keine solchen außergewöhnlichen Folgen oder Begleiterscheinungen der Krebserkrankung, so legen die VMG die Höhe des GdB pauschal fest. Erst für die Zeit nach Verlauf der Heilungsbewährung ist der GdB nach den konkreten Auswirkungen der vorliegenden Gesundheitsstörungen zu bemessen (vgl. dazu Teil A Nr. 2 VMG). Beruht daher die Höhe des GdB auf einer Erkrankung, für welche die einschlägigen Normen einen erhöhten GdB-Wert während des Zeitraums der Heilungsbewährung ansetzen, ändert das Verstreichen dieses Zeitraums die wesentlichen, d. h rechtserheblichen tatsächlichen Verhältnisse, die der Feststellung des GdB zugrunde lagen (vgl. BSG a. a. O. juris Rn. 15 m. w. N.; BSG, Urteil vom 9.8.1995, 9 RVs 14/94, juris; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 30.8.2017 – L 7 SB 8/16 Rn. 38/39, juris).

Bei der dann anstelle pauschaler Bemessung erforderlichen Bewertung anhand der tatsächlichen Umstände sind die in den VMG niedergelegten Maßstäbe zu beachten (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des BSG, vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.) und ihre Bindungswirkung für Behörden und Gerichte im Feststellungsverfahren nach § 69 SGB IX hat der Gesetzgeber in § 159 Abs. 7 SGB IX ausdrücklich geregelt.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 S. 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).

Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist aber nach § 2 Abs. 1, § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX, wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).

Der so für den Kläger ermittelte Gesamt-GdB von 50 ist nicht zu beanstanden und lässt sich anhand der medizinischen Unterlagen und der maßgeblichen Anlage zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1, 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (Versorgungsmedizin-Verordnung-VersMedV), die gemäß § 69 SGB IX auch für die Feststellungen im Schwerbehindertenrecht gilt, ohne weiteres nachvollziehen. Die Feststellungen zu den Gesundheitsstörungen des Klägers sind im Wesentlichen unstreitig, sodass insoweit auf die Ausführungen des Sachverständigen W. insbesondere in seinem Gutachten vom 10.5.2017, Seiten 83/84 der Prozessakte, Bezug genommen wird. Herr W. hat seine Ergebnisse aus den festgestellten Befunden schlüssig und nachvollziehbar abgeleitet. Seinen überzeugenden Darlegungen schließt sich die Kammer in vollem Umfang an. Dies betrifft auch die allein streitig gebliebene Frage, ob wegen des Blasenkrebses bei dem Kläger unter Berücksichtigung der drei in den Jahren 1996, 2008 und 2010 aufgetretenen Rezidive eine längere Heilungsbewährung als die in Teil B Ziff. 1c. VMG festgelegte Dauer von fünf Jahren zu Grunde gelegt werden muss.

Auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Erkrankung des Klägers mit drei aufgetretenen Rezidiven kann nicht unabhängig von dieser Pauschalierung der Zeitpunkt festgelegt werden, zu welchem eine Änderung der Verhältnisse aus medizinischer Sicht in der Weise eingetreten ist, dass eine erhebliche Rezidivgefahr nicht mehr besteht.

Zum einen geht das Gericht mit Herrn W. davon aus, dass angesichts der derzeit erfolgten erfolgreichen Rezidivprophylaxe mit Mitomycin, einem Chemotherapeutikum, bei dem Kläger keine unheilbare Krankheit bzw. fortgeschrittene Krebserkrankung vorliegt. Zum anderen widerspricht ein abweichend von den VMG festgelegter Zeitraum der Heilungsbewährung entgegen der Auffassung des Klägers geltendem Recht (§ 159 Abs.7 SGB IX).

Auch unter Berücksichtigung einer Zusammenschau der Beschlüsse der Sektion Versorgungsmedizin des ärztlichen Sachverständigenbeirats (im Folgenden: Beiratsbeschlüsse) ergibt sich, dass die Entscheidung der Beklagten im Ergebnis nicht zu beanstanden ist. Das Gericht nimmt insoweit Bezug auf die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 26.11.2013 – L 3 SB 13/10 –, dessen Ausführungen es sich nach eigener Prüfung anschließt. Insbesondere führt das Auftreten von Rezidiven nicht zu einer Verlängerung der in den VMG festgelegten Dauer eine Heilungsbewährung von fünf Jahren. Eine ungünstigere Prognose einer Tumorerkrankung führt stattdessen zu einem höheren GdB. In der zitierten Entscheidung des LSG Hamburg vom 26.11.2013 (a.a.O. Rz. 29 – 39) heißt es hierzu:

" ... So führt im Beiratsbeschluss vom 22. Oktober 1986 der Sachverständigenbeirat zur Höhe des GdB bei Mehrfachkarzinom und zur Heilungsbewährung aus:

"Nach der Entfernung von zwei oder mehr malignen Geschwülsten verschiedener Art sei bei der gutachtlichen Beurteilung davon auszugehen, dass die Prognose insgesamt ungünstiger sei, als wenn nur eine maligne Geschwulst entfernt worden sei. Dies treffe auch dann zu, wenn zwei bösartige Geschwülste im Frühstadium - entsprechend der Nr. 26.1 der "Anhaltspunkte" -, also solche mit einer relativ günstigen Prognose, beseitigt worden seien. In diesem Fall sei - entsprechend der ungünstigeren Situation durch das Zusammentreffen von zwei.Geschwulstleiden - ein GdB von mindestens 80 für die Zeit der Heilungsgewährung anzunehmen. Beim Zusammentreffen einer prognostisch günstigen Geschwulstkrankheit und einer prognostisch ungünstigen sei in jedem Fall für die Zeit der Heilungsbewährung nach der Geschwulstentfernung ein GdB von 100 anzusetzen."

Hieraus folgt, dass eine insgesamt ungünstigere Prognose einer malignen Erkrankung regelhaft nicht zu einer Verlängerung der Heilungsbewährung, sondern stattdessen zu einem höheren GdB führt ...

Im Beiratsbeschluss vom 18. März 1998 heißt es zur gutachterlichen Beurteilung bei Spätrezidiven maligner Erkrankungen:

"Die Beiratsmitglieder stellten dazu fest, dass Rezidive und Metastasen - unabhängig vom Zeitpunkt ihres Auftretens - das Vorliegen einer in der Regel fortgeschrittenen Krebserkrankung belegten. Dementsprechend wird der MdE/GdB- Wert regelhaft und auf Dauer 100 betragen. Eine GdB/MdE-Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung kommt dann in Betracht, wenn ein Rezidiv oder Metastasen vollständig entfernt worden sind. Für die Bezeichnung des Krebsleidens kann keine generelle Empfehlung gegeben werden."

In einer Ergänzung hierzu heißt es im Beschluss vom 28. April 1999:

"Von den Beiratsmitgliedern wurde darauf hingewiesen, dass die o.g. Ausführungen zu Punkt 2.2.2 der Niederschrift über die Sitzung am 18./19.03.1998 missverstanden worden seien, denn dort wurde ein GdB/MdE-Grad von 100 auf Dauer nur für die Fälle als gerechtfertigt angesehen, in denen Rezidive und Metastasen Ausdruck einer fortgeschrittenen Krebserkrankung seien. Genau diese Situation sei aber beim Auftreten eines Frühkarzinoms nicht gegeben. Da Frühkarzinome - auch wenn sie lange nach einem vorangegangenen Tumorleiden auftreten - gut behandelbar seien, sei der GdB/MdE-Grad nach Beseitigung eines solchen Tumors stets unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung mit wenigstens 50 zu beurteilen."

Hieraus ergibt sich zwar, dass nach dem Auftreten von Spätrezidiven der GdB 100 auf Dauer betragen kann, dies aber nur dann, wenn diese Spätrezidive Bestandteil einer fortgeschrittenen Metastasierung sind und davon auszugehen ist, dass die Krebserkrankung sich im Endstadium befindet. Sind dagegen – wie vorliegend – einzelne Rezidive vollständig entfernt worden, ohne dass erkennbar Metastasen im Körper verblieben sind, so ist auch nach diesem Beiratsbeschluss kein GdB von 80 oder 100 auf Dauer angemessen.

Schließlich führt der Sachverständigenbeirat im Beschluss vom 28. April 1999 zur gutachterlichen Beurteilung nach Metastasenentfernung bei unbekanntem Primärtumor aus:

"In der Diskussion wurde deutlich, dass die Diagnose einer Metastase bei unbekanntem Primärtumor mit Zurückhaltung zu bewerten sei, weil ihr nicht immer eine umfassende Diagnostik zugrunde liege (z.B. Diagnosestellung mit den üblichen histologischen Verfahren und nicht mit, modernen molekularbiologischen und zytogenetischen Verfahren). Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse sprachen sich die Beiratsmitglieder dafür aus, in diesen Fällen den GdB/MdE-Grad nach Metastasenentfernung wie bei einem Primärtumor unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung zu beurteilen. Der GdB/MdE-Grad ergebe sich aus den in der GdB/MdE-Tabelle der "Anhaltspunkte" genannten Kriterien."

Auch hieraus ergibt sich, dass im Zweifel, wenn jedenfalls von einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium nicht sicher auszugehen ist, der GdB unter dem Aspekt einer Heilungsbewährung festzustellen ist. Die Beklagte hat daher zu Recht im September 2005 den Ablauf der Heilungsbewährung nach Entfernung des Rezidivs im Januar 2000 ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt."

Der Kläger überliest in seinem Zitat des Sachverständigenbeirats in seinem Schriftsatz vom 8.8.2017, dass ein Frühkarzinom nicht "stets" mit einem GdB von 50 zu bewerten ist, sondern nur "unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung", also für die Dauer der Heilungsbewährung von i.d.R. 5 Jahren. Nach Ablauf der Heilungsbewährung entfällt das Privileg der pauschalen Bewertung.

Da es bis zum Erlass des vorliegend angefochtenen Widerspruchsbescheides weder zu einer Ausbildung von Rezidiven noch von Metastasen gekommen war, verletzt die erfolgte Herabsetzung des GdB den Kläger nicht in seinen Rechten. Insoweit kommt dem Verordnungsgeber eine Befugnis zu Pauschalierungen und Typisierungen zu, von der er in rechtlich nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht hat. Dass der Kläger im Hinblick auf die nicht auszuschließende und bei ihm ggf. erhöhte Rezidivgefahr Ängste verspürt hat bzw. nach wie vor empfindet, ist durchaus nachvollziehbar, begründet aber für sich allein weder grundsätzlich die Annahme einer GdB-relevanten Gesundheitsstörung (LSG Baden- Württemberg, Urteil vom 29. April 2014 – L 6 SB 3891/13 – juris Rn. 37), noch kann eine insgesamt ungünstigere Prognose einer bösartigen Erkrankung regelhaft zu einer Verlängerung der Heilungsbewährung führen (LSG Hamburg, Urteil vom 26. November 2013 – a. a. O. – juris Rn. 31). Derartige Fälle sind vielmehr über die Frage zu lösen, ob die seelische Störung aufgrund der Rezidivangst im Einzelfall noch den Charakter einer für die Bildung des Gesamt-GdB relevanten psychischen Gesundheitsstörung hat (so LSG Hamburg, a. a. O.). Weder der Therapieaufwand mit regelmäßigen Blasenspülungen als Prophylaxe, die theoretische Möglichkeit des Auftretens von Rezidiven noch körperlich oder psychisch belastende Faktoren können aus den vorgenannten Gründen zu einer Verlängerung der Heilungsbewährung führen. Nach Ablauf der Heilungsbewährung entfällt das Privileg der pauschalen Bewertung unterschiedslos und es ist auf den konkret feststellbaren Gesundheitszustand abzustellen, wie dies bei anderen Antragstellern auch der Fall ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21.7.2015 – L 13 SB 122/14 Rz. 25, juris). Etwas anderes lässt sich auch nicht dem Wortlaut von Teil B Ziffer 1c VMG entnehmen. Von der regelhaften Dauer der Heilungsbewährung von fünf Jahren wird nur bei bestimmten Erkrankungsbildern im Sinne einer Abkürzung des Zeitraums abgewichen. Der Wortlaut eröffnet aber nicht die Möglichkeit einer jeweiligen Einzelfallentscheidung in Bezug auf eine Bestimmung des individuell angemessenen Zeitraums der Heilungsbewährung im konkreten Einzelfall (vg. Bayerisches LSG, Beschluss vom 28.4.2016 – L 3 SB 20/16 – Rz. 29 m.w.N.).

Dem widerspricht nach Auffassung der Kammer auch nicht das Urteil des Sächsischen LSG, Urteil vom 25. Mai 2005 (- L 6 SB 55/04 - juris Rn. 33). Diese Entscheidung ist zur alten Rechtslage nach den AHP ergangen, die sich insoweit nicht vergleichen lässt, als den VMG aufgrund nunmehr eindeutiger Ermächtigungsgrundlage ein nicht mehr zweifelhafter Rechtsnormcharakter zukommt (so auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 21. Juli 2015 – L 13 SB 122/14 –, Rn. 23, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und ergeht den Kläger gerichtskostenfrei.
Rechtskraft
Aus
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