L 17 U 155/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 11 U 297/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 155/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 25.03.2002 sowie die Bescheide vom 02.07.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.10.1998 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen streitig.

Die 1965 geborene Klägerin, die als Sachbearbeiterin bei der Fa. S. beschäftigt ist, reinigte am 09.04.1995 in der von ihrer Mutter betriebenen Gaststätte den Fußboden. Dabei glitt sie aus, stürzte und griff mit der linken Hand in einen Abfalleimer mit Glasscherben. Sie erlitt Schnittverletzungen am linken beugeseitigen Handgelenk mit kompletter Durchtrennung des Nervus (N.) medianus (Durchgangsarztbericht des Chirurgen Dr.S. vom 17.05.1995). Die Verletzungen wurde im Klinikum B. durch Primärnaht des Nerven versorgt (stationärer Aufenthalt: 09.04. bis 11.04.1995). Am 25.04.1995 erfolgte in der Klinik für Handchirurgie Bad N. eine operative Revision (intraneurale Neurolyse, Sekundärnaht des N. medianus, Karpaldachspaltung mit stationärem Aufenthalt vom 24.04. bis 29.04.1995). In derselben Klinik wurde am 18.07.1996 eine Neuromresektion des N. medianus und dessen Rekonstruktion durch Transplantation von vier Kabeln aus dem N. suralis links durchgeführt (stationärer Aufenthalt: 17.07. bis 22.07.1996). Wegen des Arbeitsunfalles war die Klägerin bis 01.02.1996 arbeitsunfähig krank.

Mit Schreiben vom 13.07.1995 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 09.04.1995 als Arbeitsunfall an und stellte mit Bescheid vom 17.06.1997 als Verletzungsfolgen fest: Operativ versorgte Schnittverletzung des linken beugeseitigen Handgelenkes mit Schädigung des N. medianus, Gefühlsausfall der durch den N. medianus versorgten Hautareale am linken Handgelenk und der linken Hand. Fehlende Schutzsensibilität an der linken Hand, inkomplette Lähmung der medianusversorgten Handmuskulatur links, Kraftminderung und erhebliche Störung der Feinmotorik der linken Hand, geringe Bewegungseinschränkung der linken Hand mit fehlender Opposition zwischen dem linken Daumen und Kleinfinger, Verminderung der Handspanne links, reizlose Narben am linken beugeseitigen Unterarm und Handgelenk, Pelzigkeit am linken Fußaußenrand nach Nerventransplantatentnahme am linken Unterschenkel.

Die Beklagte gewährte Verletztenrente als Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH für die Zeit vom 02.02.1996 bis 06.10.1996 und für die Zeit danach um 20 vH. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Grundlage des Bescheides bildete das Gutachten des Chirurgen Dr.B. vom 10.04.1997 und der Untersuchungsbefund des Nervenarztes Dr.G. vom 04.03.1997. Dr.B. stellte im wesentlichen einen vollständigen Gefühlsausfall der durch den N. medianus versorgten Hautareale am linken Handgelenk und an der linken Hand sowie eine hochgradige Parese der medianusversorgten Handmuskulatur links mit dadurch bedingter erheblicher Kraftminderung der linken Hand und erheblicher Störung der Feinmotorik fest. Dr.G. betonte den Zustand nach Durchtrennung des N. medianus links und der Suralistransplantation, die am 18.07.1996 erfolgte. Bei der Medianusparese seien elektrophysiologisch Anhaltspunkte für eine in Gang gekommene Reinnervation erkennbar. Mit einer Besserung der Parese in den nächsten Monaten sei zu rechnen.

In dem von der Beklagten eingeholten Befundbericht des Dr.G. vom 02.09.1997 / 24.03.1998 sah dieser den Zustand nach Medianusdurchtrennung und Rekonstruktion klinisch als gutes Ergebnis an. Die Parese sei abgeklungen. Die noch vorhandenen Gefühlsstörungen seien jetzt mit einer MdE von unter 10 vH einzustufen. In seiner ärztlichen Stellungnahme vom 08.05.1998 teilte Dr.B. der Beklagten den Eintritt einer wesentlichen Besserung der Verletzungsfolgen mit. Aufgrund der Besserung der motorischen Medianuslatenz mit Fehlen von motorischen Paresen sei eine MdE von 10 vH festzusetzen.

Mit Schreiben vom 19.05.1998 wies die Beklagte die Klägerin auf einen beabsichtigten Rentenentzug hin. Die Beklagte holte ein nervenärztliches Gutachten des Dr.G. und ein chirurgisches Gutachten des Dr.B. ein (Gutachten vom 25.05.1998 bzw. 05.06.1998). Dr.G. sah nach Durchtrennung des N. medianus und erfolgter Rekonstruktion keine motorischen Ausfälle mehr. Nur noch Sensibilitätsstörungen im Medianusgebiet links und im Suralisgebiet links seien erkennbar. Diese Störungen seien aber nicht von wesentlicher funktioneller Relevanz und verursachten eine unfallbedingte MdE von 10 vH. Dr.B. wies auf eine leichtgradig eingeschränkte Beweglichkeit des linken Handgelenkes sowie der linken Hand bei der Opposition und dem Daumengrundgelenk neben einer ausgedehnten Narbenbildung am linken beugeseitigen Unterarm und Handgelenk hin. Durch die Unfallfolgen sei die MdE mit 10 vH einzuschätzen, wobei von chirurgischer Seite die MdE unter 5 vH liege und in der neurologischen Gesamt-MdE von 10 vH aufgehe.

Mit Bescheid vom 02.07.1998 entzog die Beklagte die Verletztenrente ab 01.08.1998, weil sich die motorische Schädigung des N. medianus links weitgehend normalisiert habe und die inkomplette Lähmung der medianusversorgten Handmuskulatur links abgeklungen sei (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 05.10.1998).

Gegen diese Bescheide hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhoben und beantragt, ihr über den 31.07.1998 hinaus Verletztenrente zu gewähren.

Das SG hat Befundberichte der Dres B. , G. , L. und N. eingeholt. Anschließend hat es ein Gutachten des Chirugen Dr.B. vom 11.05.1999 veranlasst. Dieser hat eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen festgestellt. So bestehe keine inkomplette Lähmung der durch den Medianus versorgten Handmuskulatur links mehr. Bei der Feinmotorik der linken Hand sei keine Kraftminderung und keine wesentliche Störung mehr nachweisbar. Eine Bewegungseinschränkung der linken Hand liege nicht mehr vor. Neurologischerseits seien keine motorischen Ausfälle mehr vorhanden und eine ausreichende Schutzsensibilität nachweisbar. Die MdE betrage ab 01.08.1998 10 vH.

In dem auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholten neurologisch-neurochirurgischen Gutachten vom 04.08.1999 hat PD Dr.S. die MdE mit 15 vH und der Chirurg Dr.S. im Gutachten vom 26.11.1999 unter Einbezug des vorgenannten Gutachtens mit 20 vH bewertet. Im weiter vom SG veranlassten neurologischen Gutachten vom 09.01.2001 schätzte Prof. Dr.G. die Teil-MdE von Seiten seines Fachgebiets mit 10 vH und der Handchirurg Dr.S. in seinem Gutachten vom 12.02.2001 die Gesamt-MdE mit 10 vH ein.

Mit Urteil vom 25.03.2002 hat das SG die Klage abgewiesen mit der Begründung, dass wegen Besserung der Unfallfolgen die Verletztenrente zu Recht entzogen worden sei.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt und vorgetragen, dass den Feststellungen von PD Dr.S. und Dr.S. zu folgen sei.

Nach Beiziehung der Krankenakte des Klinikums B. hat der Senat Gutachten des Nervenarztes Dr.E. vom 08.09.2003 und des Handchirurgen PD Dr.M. vom 05.09.2003 eingeholt. Dr.E. ist weiterhin von einer sensiblen und auch motorischen Schädigung ausgegangen. Die MdE sei mit 15 vH einzuschätzen. Im Vergleich zum Rentengutachten vom 14.04.1997 hat PD Dr.M. zwar die fast vollständige Rückbildung der motorischen Medianusausfälle bestätigt. Die sensiblen Ausfälle bestünden aber weitgehend unvermindert fort. Die Unfallschädigung sei weiterhin mit 20 vH zu belegen.

Die Beklagte hat erwidert, dass ein vollständiger Ausfall der Nerven - nur ein solcher könnte eine MdE von 20 vH begründen - nicht vorliege. Vielmehr sei die vollständige Rückbildung der motorischen Medianusfälle nochmals bestätigt worden.

In der mündlichen Verhandlung vom 14.01.2004 haben sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt, dass der Berichterstatter in der Sache als Einzelrichter entscheidet.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des SG Bayreuth vom 25.03.2002 sowie den Bescheid vom 02.07.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.10.1998 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 25.03.2002 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und auch begründet.

Im Gegensatz zur Auffassung des SG geht der Berichterstatter davon aus, dass bei den im Bescheid vom 17.06.1997 anerkannten Unfallfolgen der Klägerin eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. §§ 73 Abs 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), 214 Abs 3 Satz 2 SGB VII nicht eingetreten ist.

Soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt nach § 48 Abs 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Feststellung einer wesentlcihen Änderung erfordert einen Vergleich zwischen den objektiven medizinischen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses der letzten rechtsverbindlich gewordenen bescheidmäßigen Feststellung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung. Als Vergleichsunterlagen sind dabei die Befunde heranzuziehen, die dem letzten rechtsverbindlich gewordenen Feststellungsbescheid zugrunde lagen, insbesondere medizinische Gutachten. Eine wesentliche, d.h. rechtserhebliche Änderung liegt aber nur dann vor, wenn die Behörde unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen den Ausgangsbescheid nicht oder nicht wie geschehen hätte erlassen dürfen. Dies bedeutet, dass die MdE sich um mehr als 5 vH mindern oder erhöhen muss (§§ 73 Abs 3 i.V.m. 214 Abs 3 Satz 2 SGB VII).

Nach dem dem Bescheid vom 17.06.1997 zugrunde liegenden Gutachten des Chirurgen Dr.B. vom 10.04.1997 und dem Untersuchungsbefund des Nervenarztes Dr.G. vom 04.03.1997 bestanden bei der Klägerin an Unfallfolgen noch ein vollständiger Gefühlsausfall im Ausbreitungsgebiet des N. medianus in Kombination mit einer hochgradigen Lähmung (Parese) der medianusversorgten Handmuskulatur. Bei der Medianusparese waren allerdings Anhaltspunkte für eine beginnende Reinnervation erkennbar. Dr.B. ging dabei von einer MdE von 30 vH, ab 07.10.1996 von 20 vH aus.

Eine wesentliche Änderung i.S. einer Besserung der Unfallfolgen ist bislang nicht eingetreten. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Berichterstatters beim Vergleich der unterschiedlichen und widersprüchlichen neurologischen sowie handchirurgischen Befunde aus den Gutachten des PD Dr.M. vom 05.09.2003, Dr.E. vom 08.09.2003 sowie teilweise PD Dr.S. vom 04.08.1999 und Dr.S. vom 26.11.1999.

Danach ist keine wesentliche Änderung in der zentralen Unfallfolge der gravierenden Sensibilitätsschädigung im medianusnervierten Hand- und Fingerbereich festzustellen. Im Bereich der linken oberen Extremität bestehen als Unfallfolgen fort ein als gravierend zu bezeichnender Sensibilitätsausfall im Ausbreitungsgebiet des Mittelnerven der gesamten linken Hand, eine erhebliche reduzierte Schutzsensibilität im Greifflächenbereich von Daumen bis Ringfinger, eine geringe Schwäche der Opponierbarkeit des linken Daumenstrahls als fortbestehende, mäßig peripher-motorische Teillähmung des Mittelnerven, ein winkelförmiges Narbenband vom Unterarm in den Hohlhandbereich ziehend, eine Beeinträchtigung gleichsam aller Greiffunktionen der linken Hand, insbesondere des Spitzgriffes bzw. des Hantierens mit kleineren Gegenständen, eine gesteigerte Anfälligkeit für Verletzungen bei reduzierter Schutzsensibilität sowie eine Gefühlsminderung im Außenrandbereich des linken Fußes nach Nervenentnahme.

Nach der Einschätzung, die insbesondere Dr.E. vorträgt, bestehen die sensiblen Ausfälle klinisch weiterhin fort. Der gravierende Sensibilitätsausfall einschließlich Minderung der Schutzsensibilität im palmaren und digitalen Ausbreitungsgebiet des Mittelnerven ist nicht zu übersehen. Dies wird auch nicht dadurch geschmälert, dass inzwischen eine fast völlige Rückbildung der motorischen Medianusausfälle, die vor allem die Opponierbarkeit des Daumens und die Kraft der Hand betrafen, eingetreten ist. Die motorischen Komponenten dagegen haben sich bis auf eine fortbestehende Schwäche der Opponierbarkeit des Daumens zurückgebildet. Diese in erster Linie klinische Befundung wird auch nicht durch den elektrophysiologisch-messtechnischen Befund geschmälert. Die von der Klägerin vorgetragenen Beschwerden der eingeschränkten Greif- und vor allem Feingrifffunktion wie auch die häufigen Verletzungen sind aus dem neurologischen Befund ableitbar und daher in vollem Ausmaß als glaubhaft einzustufen. Allerdings ist ein gut ausgeprägtes motorisches Antwortpotential sicherlich noch nicht gegeben. Die motorische distale Latenz ist auf der linken Seite noch eindeutig verzögert. Selbst wenn eine sensible Nervenaktionspotenziale für den Medianus ableitbar war, ist die Amplitude deutlich vermindert, die daraus errechnete Leitgeschwindigkeit verzögert.

Gegenüber der im Bescheid vom 17.06.1997 festgestellten MdE stellen die jetzigen Unfallfolgen keine wesentlichen Änderungen i.S. einer Besserung dar. Die unfallbedingte MdE ist weiterhin ab August 1998 mit 20 vH einzuschätzen. Der im Mittelpunkt der Unfallfolgen stehende Gefühlsausfall im Medianusausbreitungsgebiet von Hand und Fingern links entspricht dem sensiblen Medianusausfall, der mit 20 vH zu bewerten ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Auflage, S 320). Dieser sensible Ausfall wird bei der Klägerin als gravierend eingestuft und seine Schwere wird durch den messtechnischen Nachweis auch sensibler Potenziale nicht gemindert. Unter Berücksichtigung des gravierenden Sensibilitätsausfalls einschließlich der Minderung der Schutzsensibilität im palmaren und digitalen Ausbreitungsgebiet des N. medianus ist danach unter Berücksichtigung der geringeren chirurgischen Unfallfolgen (geringe Bewegungseinschränkung am linken Handgelenk und im Bereich der linken Hand sowie Narbenbildung mit leichten Verklebungen zu den Beugesehnen) eine MdE von 20 vH vertretbar.

Die übrigen, im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten überzeugen im Vergleich zu den Gutachten von Dr.E. und PD Dr.M. nicht. Bei den dem Bescheid vom 17.06.1997 zugrunde liegenden Verhältnissen ist somit eine wesentliche Änderung i.S. einer Besserung nach § 48 Abs 1 SGB X in den unfallbedingten Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht eingetreten. Die MdE beträgt weiterhin 20 vH. Die Bescheide der Beklagten sowie das Urteil des SG Bayreuth vom 25.03.2003 sind aufzuheben. Der Berichterstatter konnte im Einverständnis mit den Beteiligten an Stelle des Senats entscheiden (§ 155 Abs 3, 4 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved