L 2 U 24/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 36 U 301/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 U 24/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Juni 2015 sowie der Bescheid vom 9. Oktober 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 2012 aufgehoben und es wird festgestellt, dass die Erkrankung des Klägers eine Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ist. 2. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Feststellung einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) – Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Der am xxxxx 1956 geborene Kläger beantragte am 25. Februar 2011 die Feststellung einer Berufskrankheit wegen seiner bandscheibenbedingten Erkrankung. Der Kläger war seit dem 29. Juli 1974 bei der Firma H. beschäftigt, bis 1982 war er im Lager tätig. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Waren nach Kundenauftrag zu kommissionieren und für den Transport in LKWs zu verladen. Hierbei wurde täglich mit Gabelstaplern ca. 5 Stunden pro Tag gearbeitet, um Waren um- und auszulagern und zu transportieren. Außerdem wurden ca. 3 Stunden pro Tag Waren von Hand kommissioniert. Hierbei handelte es sich um Bleche, Rohre, Profile, Schrauben, Nägel, Blei usw. Ab 1983 war der Kläger als LKW-Fahrer tätig. Zwischenzeitlich war er wegen Führerscheinentzugs wieder drei Jahre im Lager beschäftigt. Nach einer Lungenerkrankung gab der Kläger seine Tätigkeit im November 2010 auf.

Der Präventionsdienst teilte mit Schreiben vom 27. Juni 2011 mit, dass bezüglich der Berufskrankheit mit der Nr. 2108 sich nach dem Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für den Beschäftigungszeitraum vom 29. Juli 1974 bis 5. November 2010 eine Gesamtdosis des Erkrankten in Höhe von 19,4 Mega-Newton-Stunden (MNh) ergebe. Der hälftige Orientierungswert von 12,5 MNh für Männer werde somit überschritten. Die Tagesdosis habe vom 29. Juli 1974 bis zum 30. Juni 1986 1,1 kNh und vom 1. Juli 1986 bis zum 5. November 2010 1,3 kNh sowie dreimal pro Woche 2,9 kNh betragen. Mit weiterem Schreiben vom 15. Juni 2012 nahm die Präventionsabteilung der Beklagten Stellung, dass die Zusatzkriterien "Besonders intensive Belastung durch Erreichen des Richtwerts für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren" sowie "Besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen (ab 6 kN für Männer)" im betreffenden Beschäftigungszeitraum von 1966 bis 2003 nicht erfüllt seien. Aus der Berechnung nach dem MDD gehe hervor, dass im Beschäftigungszeitraum keine Lasten gehoben oder getragen worden seien, die Belastungsspitzen mit Druckkraftwerten von 6 kN oder mehr in der Lendenwirbelsäule erzeugt hätten.

Laut einem neurochirurgischen Konsil vom 5. März 2003 war der Kläger im November 2002 auf den Rücken gestürzt. Es bestehe weiterhin der nach cranial hinter die Grundplatte von L5 reichende, links dorsomediolaterale teilsequestrierte Bandscheibenprolaps L5/S1 mit forminalem Befund und Wurzelbedrängung L5 und S1 links. Zusätzlich liege die bekannte relative Spinalstenose L4/L5 mit Facettenarthrose und dorsaler Protrusion insgesamt ohne Befundänderung gegenüber den Fremdaufnahmen vom Vorjahr vor.

Der Chirurg und Unfallchirurg Dr. D. erstattete am 19. August 2011 einen Befundbericht. Der Kläger befinde sich seit August 1999 in seiner Behandlung bzw. der seines Praxisvorgängers. Der Kläger habe sich regelmäßig wegen eines Cervicobrachialsyndroms sowie Beschwerden im Bereich der LWS vorgestellt. Der erste Bandscheibenvorfall sei am 13. Februar 2003 im Bereich L4/L5 diagnostiziert worden. In der Kernspintomographie vom 16. Januar 2004 hätten sich ein paramedian linksgelegener Vorfall der Bandscheibe im Bereich L5/S1 und eine Osteochondrose bei LWK 4/5 gezeigt. Es sei dann die operative Versorgung des Vorfalls L5/S1 im AK S. erfolgt. Ein Rezidivvorfall L5/S1 sei erneut operativ versorgt worden. Am 19. November 2012 sei ein Arbeitsunfall mit Querfortsatzfraktur LWK 5 links eingetreten.

Der Chirurg und Orthopäde Dr. T. erstattete am 7. März 2012 ein Zusammenhangsgutachten. Konkurrierende Ursachen für die Wirbelsäulenerkrankung lägen nicht vor. Der Kläger habe weder von sportlicher Seite noch von privat körperlicher Seite Belastungen gehabt, die die Erkrankung hätten auslösen können. Die bei dem Kläger bestehende Skoliose der LWS sei so gering ausgeprägt, dass sie als Ursache einer konstitutionell bedingten Krankheitsanlage ausscheide. Die Kreuzdarmbeingelenke seien nur gering verändert, so dass auch diese als Ursache ausschieden. Mit einer Gesamtdosis von 19,4 MNh liege der Versicherte zwar oberhalb des hälftigen Orientierungswertes von 12,5 MNh, jedoch unter den geforderten 25 MNh. Aus den vorgelegten Unterlagen sei auch nicht ersichtlich, dass der Versicherte eine besonders hohe Spitzenbelastung gehabt habe. Eine zusätzliche Belastung käme durch Vibrationen infolge des Fahrens mit LKW und Gabelstapler in Frage, aber messtechnisch nicht zum Tragen. Zwischen BWK 12 und LWK 1 bestehe eine Spondylose an den ventralen Vorderkanten, zwischen LWK 5 und SWK 1 eine Verminderung des Bandscheibenabstandes an der Hinterkante bis auf nahe 0 und an der Vorderkante um vermutlich die Hälfte des Normalen. Der Kläger leide an einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Wirbelsäule zwischen LWK 4 und LWK 5 und besonders zwischen LWK 5 und SWK 1. SWK 1 und LWK 5 seien durch einen internen Spanner miteinander verschraubt. Der Bandscheibenvorfall zwischen LWK 4 und LWK 5 sowie die Bandscheibenzerstörung zwischen LWK 5 und SWK 1 seien durch die berufliche Exposition entstanden. Begründung seien das Fehlen konkurrierender Ursachen durch entsprechende außerberufliche Exposition, das völlige Fehlen von Erkrankungen bezüglich der Wirbelkörper und der Erfüllung zumindest eines der Zusatzkriterien unter B2 der Konsensempfehlungen "Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule" (Trauma und Berufskrankheit 2005, 211).

Laut Befund der Conradia Radiologie vom 9. Mai 2012 lägen bei LWK 3/4 eine mediale Bandscheibenvorwölbung ohne Berührung der abgehenden Wurzeln und eine Spondylarthrose, bei LWK 4/5 eine geringe mediale Bandscheibenvorwölbung ohne Kontakt zu den abgehenden Wurzeln und eine Spondylarthrose und bei LWK5/SWK1 eine knöchern abgestützte links betonte Bandscheibenvorwölbung, die die S1-Wurzel beidseits zentral berühre, vor.

Im ärztlichen Bericht des AK S. vom 10. August 2012 heißt es, dass der Kläger erstmals wegen Wirbelsäulenbeschwerden im Juni 2004 behandelt worden sei. Er sei wegen eines links mediolateralen Bandscheibenvorfalls bei LW5/SW1 am 21. Juni 2004 operiert worden. Eine erneute Operation mit Revision bei LW5/SW1 links mit Neurolyse und Nachräumen des Zwischenwirbelraumes habe am 20. Januar 2005 stattgefunden. Die radikuläre Symptomatik sei postoperativ rückläufig gewesen. Bei einem lumbospinalen MRT am 21. Februar 2005 habe sich ein subchondrales Ödem der Grund- bzw. Deckplatte des 5.LWK/1.SWK als bildmorphologisches Zeichen der degenerativen Instabilität gezeigt. Es sei die Versteifung des Segments LW5/SW1 erfolgt.

Mit Bescheid vom 9. Oktober 2012 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers als Berufskrankheit nach den Nrn. 2108 und 2110 der Berufskrankheiten-Liste ab. Anspruch auf Leistungen bestehe nicht. Das gelte auch für Leistungen oder Maßnahmen, die geeignet seien, dem Entstehen einer Berufskrankheit entgegenzuwirken. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen, seien die festgestellten Erkrankungen nicht ursächlich auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Bei solchen Belastungen seien im Bereich der LWS von unten nach oben abnehmende, den altersdurchschnittlichen Befund überschreitende Verschleißerscheinungen zu erwarten. Solch ein Krankheitsbild habe nicht festgestellt werden können. Die Voraussetzungen der Berufskrankheit Nr. 2110 lägen auch nicht vor. Die für die Gefährdung der LWS erforderlichen Beurteilungsbeschleunigungen seien nicht erreicht worden. Maßgebend seien für die Höhe der Beurteilungsbeschleunigung die Art des Fahrzeugs und seine Ausstattung, die Lenkzeit pro Arbeitstag und die Beschaffenheit der Fahrbahn.

Der Kläger legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Der Gutachter Dr. T. und sein behandelnder Arzt Dr. D. sprächen eindeutig von einer Berufskrankheit.

In einer beratungsärztlichen Stellungnahme führte die Chirurgin und Unfallchirurgin Dr. H1 aus, dass eine Konstellation B3 nach den Konsensempfehlungen vorliege. Es bestehe ein Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1. Dieser Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 (sequestriert) sei zunächst durch eine Operation ausgeräumt worden. Danach habe sich die Situation offensichtlich nicht beruhigt, so dass eine Spondylodese im Segment L5/S1 notwendig geworden sei. Die Belastungsberechnung habe keine hohen Belastungsspitzen ergeben und 25 Nh würden nicht erreicht, sondern nur 78 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh. Im Segment L4/5 bestehe eine Bandscheibenprotrusion, oberhalb des Segments L4/5 bestünden keine nennenswerten degenerativen Veränderungen. Begleitspondylose und mehrsegmentale Black discs seien zu verneinen. Es bestehe also eine bandscheibenbedingte Erkrankung des Segmentes L5/S1 mit Segmentbefund. Dieses Segment sei therapiepflichtig, darüber hinaus seien keine weiteren Segmente nennenswert erkrankt oder symptomfällig geworden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Bei dem Kläger liege ein Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1 vor, der operativ ausgeräumt worden sei. Im Segment L4/5 bestehe eine Bandscheibenvorwölbung, oberhalb dieses Segments lägen keine nennenswerten degenerativen Veränderungen vor. Es lägen insbesondere keine mehrsegmentalen Black discs und auch keine Begleitspondylose vor. Dieses Schadensbild sei in die Konstellation B3 der Konsensempfehlungen einzuordnen und damit nicht anerkennungsfähig.

Der Kläger hat hiergegen am 19. Dezember 2012 beim Sozialgericht Hamburg Klage erhoben. Die Gutachten sprächen eindeutig von einer Berufskrankheit. Das vorliegende Schadensbild sei in die Konstellation B2 einzuordnen. Zwischen den Wirbeln L5/S1 sei ein Fixateur angebracht worden. Zwischen LWK4 und LWK5 sei aufgrund der erhöhten Belastung durch berufliche Exposition ein Bandscheibenvorfall entstanden. Begleitend trete zwischen BWK12 und LWK1 eine Spondylose an den ventralen Vorderkanten hinzu.

Das Sozialgericht Hamburg hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Dr. H2 nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), der zu folgenden Diagnosen gekommen ist: – Zustand nach instrumentierter hinterer Versteifungsoperation der Lendenwirbelsäule im Segment L5/S1 (2005) wegen Instabilität nach zweifacher Operation eines Bandscheibenvorfalls L5/S1 links, – Residuen eines S1-Wurzelkompressionssyndroms nach zweifacher Bandscheibenoperation L5/S1 links, – degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom mit Osteochondrose und Spondylarthrose sowie Spondylosis deformans, – geringgradige Thorakolumbalskoliose, – leichtergradiges degeneratives Hals- und Brustwirbelsäulensyndrom, – Zustand nach Lungenteilresektion rechts wegen Bronchialkarzinom. Nach den Konsensempfehlungen werde für die Einstufung in eine B-Konstellation eine bandscheibenbedingte Erkrankung zweier Bewegungssegmente, vornehmlich L5/S1 und L4/L5 gefordert. Darüber hinaus werde ein Bandscheibenschaden mit Chondrose Grad II oder höherwertig und/oder ein Bandscheibenvorfall gefordert. Diese Voraussetzungen lägen beim Kläger vor. In der Kernspintomographie vom 20. November 2002 zeigten sich eine Chrondrose mit Bandscheibenhöhenminderung und vermehrter Signalgebung und eine Bandscheibenprotrusion. Auch im Bewegungssegment L5/S1 bestehe eine Bandscheibenhöhenminderung mit entsprechenden Signalveränderungen sowie ein bereits im Jahr 2002 bestehender mediolateraler, sequestrierter Bandscheibenvorfall L5/S1 links. Auch die Kernspintomographie vom 16. Januar 2014 zeige dasselbe morphologische Bild mit einer Zunahme der Osteochondrose bei L4/L5 und einer sekundären Entstehung einer Arthrose der kleinen Wirbelgelenke durch den Höhen- und Substanzverlust der Bandscheiben im betroffenen Bewegungssegment. Auch in der MRT-Untersuchung vom 7. Juni 2004 bestätige sich der Befall beider Bewegungssegmente. In der Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 4. Januar 2005 zeigten sich die bereits erwähnten Veränderungen im Bewegungssegment L4/L5 und L5/S1 sowie jetzt auch eine einsetzende Chondrose im Segment L1/L2. Das für die Anerkennung der Konstellation B2 geforderte Zusatzkriterium eines Befalls beider Segmente L5/S1 und L4/L5 sei im Fall des Klägers gegeben. Somit bestehe nach hiesiger Einschätzung eine Konstellation B2. Aufgrund der vieljährigen Tätigkeit mit schwerem Heben und Tragen von Lasten und Arbeiten in Rumpfbeugehaltung bestehe ein Zwang zum Unterlassen der Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung und das Wiederaufleben dieser Erkrankung ursächlich gewesen seien.

Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. H1 zu dem Gutachten eingereicht. Die berufliche Gesamtdosis sei bis 2010 berechnet worden. Die bandscheibenbedingte Erkrankung sei bei dem Versicherten aber schon 2004 gesichert worden. Zudem habe Dr. H2 den Begriff "mehrere" nicht korrekt definiert. Unter Hinweis auf einen Artikel von Dr. Grosser ("20 Jahre Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule", ASU 2014, 167) hat Dr. H1 darauf hingewiesen, dass nicht zwei, sondern drei Bandscheibensegmente betroffen sein müssten. Zudem bestehe im Segment L4/5 auf den Aufnahmen vom 21. Februar 2005 keine wesentliche Höhenminderung des Bandscheibenfaches L4/5, allenfalls eine diskrete Dehydrierung und diskrete Protrusion, d.h. eine Erkrankung im Segment L4/5 könne nicht erkannt werden. Es lägen hier weder eine Black disc, eine Osteochondrose, eine Höhenminderung noch eine Dehydrierung vor. Das Schadensbild begrenze sich also isoliert auf das Segment L5/S1, ein wesentlicher Schaden im Segment L4/5 könne bis 2005 nicht festgestellt werden. Die Osteochondrose, die Dr. H2 im Segment L4/5 am 16. Januar 2004 unterstelle, sei so geringfügig, dass sie nicht pathologisch sei und somit weder einer Black disc, einer vorauseilenden Chondrose noch einer Erkrankung des Segmentes L4/5 entspreche. Es sei also nur das Segment L5/S1 erkrankt. Im Segment L3/4 finde sich kein krankhafter Befund, so dass das Zusatzkriterium der Konstellation B2 nicht erfüllt sei.

Dr. H2 hat in einer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, dass die Stellungnahme von Frau Dr. H1 korrekt sei. Die neueste Konsensveröffentlichung aus dem Jahr 2014 sei ihm nicht bekannt gewesen. Er habe sich inzwischen mit der Monographie auseinander gesetzt. Abschließend möchte er sich der gutachterlichen Beurteilung von Frau Dr. H1 anschließen. Er widerrufe seine gutachterliche Einschätzung, dass bei dem Kläger eine Konstellation B2 vorliege.

Das Sozialgericht Hamburg hat die Klage mit Urteil vom 25. Juni 2015 abgewiesen. Eine Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV liege beim Kläger nicht vor. Nach den Konsensempfehlungen sei bei dem Kläger von einer Konstellation B3 auszugehen, bei welcher kein Konsens für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV bestehe. Denn es liege zwar eine bandscheibenbedingte Erkrankung vor, jedoch bestehe keine Begleitspondylose, noch sei eines der in der Konstellation B2 genannten Zusatzkriterien erfüllt. Zu Recht habe Dr. H1 darauf hingewiesen, dass weder eine besonders intensive Belastung oder ein besonderes Gefährdungspotential durch hohe Belastungsspitzen noch eine black disc in mindestens zwei angrenzenden Segmenten bei dem Kläger bestünden. Die Heranziehung der Konsensempfehlungen zur Beurteilung des Vorliegens einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV entspreche auch der ständigen Rechtsprechung. Danach gelte die Konsensempfehlung aus dem Jahre 2005 heute noch nach arbeitsmedizinisch-wissenschaftlichem Erkenntnisstand als aktuell.

Gegen das ihm am 9. Juli 2015 zugestellte Urteil hat der Bevollmächtigte des Klägers am 29. Juli 2015 Berufung eingelegt. Bei dem Kläger sei nach den Konsensempfehlungen von einer Konstellation B2 auszugehen. Der Wortlaut der Konsensempfehlungen spreche bei der Konstellation B2 von mehreren Bandscheiben. Damit sei ein Befall von mindestens zwei Bandscheiben gemeint. Würde unter Befall von mehreren Bandscheiben ein solcher von mindestens drei Segmenten verstanden, wäre der bisegmentale Bandscheibenschaden von der Konsensgruppe übersehen worden (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 12. Juni 2014, Az: L 6 U 60/12). Es hätten mehrere Mitautoren ausdrücklich bestätigt, dass der Befall eines zweiten Bandscheibensegments der LWS mit einem Vorfall oder Chondrose die Zusatzvoraussetzung an "mehreren Bandscheiben" der Konstellation B2 erfülle. In diesem Sinne argumentierten auch im Rahmen einer wissenschaftlichen Nachauswertung der deutschen Wirbelsäulenstudie aus dem Jahr 2008 Linhardt und Grifka. Sie plädierten in ihrer wissenschaftlichen Abhandlung für eine Umstrukturierung der Definition der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV und betonten, dass auch unterhalb bestimmter Schwellenwerte des MDD ein erhöhtes Bandscheibenerkrankungsrisiko bestehe (MedSach, 2015, 20). Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger dreimal pro Woche Schraubenkartons in extremer Rumpfbeugehaltung für jeweils 20 Minuten umgestapelt habe. Diese mehrfach wöchentlich auftretende Extrembelastung finde sich in den Ausführungen des Sozialgerichts Hamburg nicht wieder und müsse erschwerend berücksichtigt werden. Auch Dr. H2 sei auf dieses Merkmal nicht eingegangen. Diese Tätigkeit sei jedoch durchaus dafür geschaffen gewesen, vergleichbare Einwirkungen auf die Wirbelsäule des Klägers auszuüben, wie sie in dem zweiten oder in dem dritten Zusatzkriterium zur Konstellation B2 beschrieben werde.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Juni 2015 sowie den Bescheid vom 9. Oktober 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 5. Dezember 2012 aufzuheben und festzustellen, dass die Erkrankung des Klägers eine Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ist.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, dass die Belastungsspitzen bereits Gegenstand der Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes gewesen seien. Die Belastungsspitzen hätten jedoch tatsächlich nicht festgestellt werden können. Es werde insoweit auf die Stellungnahme vom 15. Juni 2012 verwiesen.

In der mündlichen Verhandlung ist der Sachverständige Dr. H2 zu seinem Gutachten angehört worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift vom 12. Dezember 2012 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) zu Unrecht abgewiesen.

Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV. Nach § 9 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheiten ursächlich waren oder sein können. Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber mit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV dahingehend Gebrauch gemacht, dass als Berufskrankheit bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, anerkannt werden.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie dass eine Krankheit vorliegt (BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 2 U 10/14 R, BSGE 118, 255). Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht sein (haftungsbegründende Kausalität). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die Berufskrankheit nicht anzuerkennen (BSG, a.a.O.). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK (BSG, a.a.O.). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen (BSG, a.a.O.). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, a.a.O.)

Der Kläger war seit dem 29. Juli 1974 im Lager und als LKW-Fahrer jeweils als Versicherter im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII beschäftigt. Auch die Voraussetzung der langjährigen Einwirkung durch schweres Heben und Tragen ist vorliegend erfüllt. Das MDD ist eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe des Tragens "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung" (BSG, a.a.O. und Urteil vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R, juris). Hierbei ist jedoch nur die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis zu Grunde zu legen, also 12,5 x 106 Nh (BSG, a.a.O.). Bereits bei dem ersten dokumentierten Bandscheibenvorfall im Februar 2003 war dieser Wert überschritten. Es ergibt sich nach den vom Präventionsdienst der Beklagten ermittelten Werten für den Beschäftigungsabschnitt vom 29. Juli 1974 bis zum 30. Juni 1986 eine Teildosis von 2,9 MNh und für den Teilabschnitt bis zum 1. Februar 2003 eine Teildosis von rund 11,57 MNh ((286 kNh + 391,5 kNh) x 17,08), insgesamt 14,47 MNh. Die Einwirkung erfolgte auch in mehr als zehn Berufsjahren.

Bei dem Kläger liegen ein Bandscheibenvorfall im Bereich L5/S1 sowie Chondrosen in L4/L5 und L1/L2 vor. Nach Durchsicht der in der mündlichen Verhandlung vorliegenden Röntgenaufnahmen und Kernspintomographien hat der Sachverständige Dr. H2 unter Zugrundelegung der Anforderungen der Konsensempfehlungen im Segment L5/S1 eine Höhenminderung Grad 3, im Segment L4/L5 Grad 2 und im Segment L1/L2 Grad 1 bis 2 diagnostiziert. Damit liegt in allen drei Segmenten ein altersuntypischer Befund vor. Dies bestätigt sich in den vorliegenden Vorbefunden. Diese gehen einheitlich von einem Bandscheibenvorfall im Bereich L5/S1 aus. Hinsichtlich des Segments L4/L5 wird in den Vorbefunden von dem behandelnden Chirurgen Dr. D. sogar von einem Prolaps ausgegangen. Dieser Einschätzung folgt auch der Sachverständige Dr. T ... Ebenfalls hatte Dr. T. bereits auf die einsetzende Chondrose im Bereich L1/L2 verwiesen.

Der Ursachenzusammenhang zwischen den gefährdenden Einwirkungen und der Bandscheibenerkrankung des Klägers ist ebenfalls anzunehmen. Die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch langjähriges schweres Heben und Tragen im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit verursacht worden. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung, die zunächst auf der naturwissenschaftlichen-philosophischen Bedingungstheorie beruht, nach der jedes Ereignis Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non) (BSG, a.a.O.). Die Wesentlichkeit der Wirkursache ist zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (BSG, a.a.O.).

Aufgrund des Einwirkungswertes von über 12,4 MNh zum Zeitpunkt des Bandscheibenvorfalls ist ausgehend vom MDD davon auszugehen, dass die versicherten Einwirkungen durch schweres Heben und Tragen ausreichten, um einen Bandscheibenschaden zu verursachen. Wie oben bereits ausgeführt wurde, ist das MDD eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKG enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe des Tragens "schwerer" Lasten oder "langjährige" Tätigkeit in "extremer Rumpfbeugehaltung", wobei jedoch nur die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis zu Grunde zu legen ist, also 12,5 x 106 Nh (BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 – B 2 U 4/06 R). Darüber hinaus lagen auch die medizinischen Kriterien für die Annahme eines Ursachenzusammenhangs der Berufskrankheit Nr. 2108 nach der Anlage 1 der BKV vor. Als maßgeblicher aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand kann auf die Konsensempfehlungen aus dem Jahre 2005 zurückgegriffen werden (BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 2 U 10/14 R). Wie das BSG ausführt, sind einzelne Gegenstimmen nicht geeignet, einen einmal gebildeten und sich in schriftlichen Beurteilungskriterien manifestierten wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu erschüttern, solange nicht die daran beteiligten Autoren in ihrer Mehrheit diesen Konsens in wesentlichen Punkten aufkündigen oder eine zumindest teilweise personell anders zusammengesetzte große Mehrheit der mit dieser Materie befassten Fachwissenschaftler diesem Konsens entgegentritt (BSG, a.a.O.). Der Kläger fällt unter die Konstellation B2 der Konsensempfehlungen. Die für alle Befundkonstellationen geltende Voraussetzung nach den Konsensempfehlungen, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung nach ihrer Lokalisation die Segmente L5/S1 und/oder L4/L5 betrifft und eine Ausprägung als Chondrose Grad II oder höher und/oder als Vorfall hat, erfüllt der Kläger. Jedenfalls im Segment L5/S1 liegt ein Prolaps vor. Liegt jedoch – wie hier – keine Begleitspondylose vor, so wird der Zusammenhang nach den Konsensempfehlungen in der Konstellation B2 nur dann als wahrscheinlich angesehen, wenn eines der folgenden Zusatzkriterien erfüllt ist. – eine Höhenminderung und/oder Prolaps an mehreren Bandscheiben – bei nur monosegmentaler/m Chondrose/Vorfall in L5/S1 oder L4/L5 black disc im Magnetresonanztomogramm in mindestens zwei angrenzenden Segmenten – besonders intensive Belastung; Anhaltspunkt: Erreichen des Richtwerts für die Lebensdosis in weniger als 10 Jahren – besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen; Anhaltspunkt: Erreichen der Hälfte des MDD-Tagesdosis-Richtwertes durch hohe Belastungsspitzen (Frauen ab 4,5 kN; Männer ab 6 kN). Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des ersten Zusatzkriteriums. Bei dem Kläger liegen, wie oben ausgeführt, altersuntypische Höhenminderungen an mehreren Bandscheiben vor, und zwar neben dem Prolaps an L5/S1 noch an den Segmenten L4/L5 und L1/L2. Auf die Frage, ob auch ein bisegmentaler Befund zur Erfüllung des ersten Zusatzkriteriums ausreichend sein kann oder mindestens drei Segmente betroffen sein müssen, kommt es daher nicht an (bisegmental: Sächsisches LSG, Urteil vom 29. Januar 2014 – L 6 U 111/11 und Urteil vom 21. Juni 2010 – L 2 U 170/08, LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11. Juli 2013 – L 6 U 59/11; mindestens drei Segmente: Hessisches LSG, Urteil vom 18. August 2009 – L 3 U 202/04 und vom 27. März 2012 – L 3 U 81/11; Bayerisches LSG, Urteil vom 20. August 2009 – L 2 U 330/07; offen gelassen: BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 2 U 10/14 R, juris; Terminsbericht Nr. 38/18 des BSG zu B 2 U 16/17 R). Anhaltspunkte für konkurrierende außerberufliche Ursachen liegen nicht vor.

Die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS hat nach den Ausführungen von Dr. H2 auch zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Hierfür ist zu fordern, dass die Tätigkeiten, die zu der Erkrankung geführt haben, aus arbeitsmedizinischen Gründen nicht mehr ausgeübt werden sollen und der Versicherte die schädigende Tätigkeit und solche Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können, tatsächlich aufgegeben hat, wobei es auf das Motiv des Versicherten nicht ankommt (BSG, Urteil vom 19. August 2003 – B 2 U 27/02, juris). Der Kläger hat mittlerweile die wirbelsäulenbelastende Tätigkeit aufgegeben. Dass er dies auch wegen seiner Lungenerkrankung getan hat, ist unerheblich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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